Verwaltungsrecht

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag des BAMF

Aktenzeichen  15 ZB 21.30100

Datum:
1.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 4336
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2

 

Leitsatz

Weil die Lage in Libyen in „weiten Teilen des Landes sehr unübersichtlich und unsicher“ und eine erneute militärische Eskalation „jederzeit möglich“ ist, ist es nicht zu beanstanden, wenn das Gericht die vom Bundesverwaltungsgericht geforderte „annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden“, im Wege einer gerichtlichen Würdigung der vorhandenen Erkenntnisse durch Schätzung ermittelt und dabei keine konkrete Verhältniszahl nennt. (Rn. 18 – 19) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 3 K 17.43871 2020-12-16 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Den Klägern wird unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten antragsgemäß Prozesskostenhilfe bewilligt.
II. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
III. Die Beklagte hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die Kläger (= Ehepaar und drei ihrer insgesamt fünf minderjährigen Kinder) sind in Al-Baida (Libyen) geborene staatenlose Palästinenser.
Sie wenden sich gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 24. Mai 2017, mit dem ihnen (u.a.) die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt, der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt und die Abschiebung nach Libyen angedroht wurde. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bescheid verwiesen.
Die beiden weiteren zur Familie gehörigen minderjährigen Kinder sind am … Januar 2017 und am … Juli 2018 in Deutschland geboren und Kläger in den Parallelverfahren 15 ZB 21.30101 sowie 15 ZB 21.30102.
Das Verwaltungsgericht München hat mit Urteil vom 16. Dezember 2020 den vorliegend angefochtenen Bescheid des Bundesamts teilweise aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Klägern den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Den Klägern drohe bei einer Rückkehr nach Libyen ein ernsthafter Schaden im Sinne einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen des in Libyen bestehenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG). Der bewaffnete Konflikt bestehe landesweit. Es müsse davon ausgegangen werden, dass in allen Landesteilen Libyens jederzeit bewaffnete Kämpfe ausbrechen könnten; zudem gebe es im ganzen Land (u.a.) Berichte über Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Falls „durch die quantitative Bewertung der Gefahrenlage nicht auf eine individuelle Bedrohung von Zivilpersonen geschlossen werden“ könne, führe vorliegend „jedenfalls die qualitative Betrachtung der Gefahrenlage unter Berücksichtigung der desolaten medizinischen Lage, der hohen Zahl von Binnenvertriebenen und der Tatsache, dass es sich bei den Klägern um eine Familie staatenloser Palästinenser mit kleinen Kindern handelt, zur Zuerkennung subsidiären Schutzes“. Bei den Klägern lägen insoweit mehrere gefahrerhöhende Merkmale und eine besondere Vulnerabilität vor. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil Bezug genommen.
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung macht die Beklagte geltend, das Verwaltungsgericht weiche von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ab und beruhe auf dieser Abweichung (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG), weil es keine „annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden“ (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris), vorgenommen, sondern offengelassen habe, welche Zahl von Opfern es seiner Rechtsauffassung zugrunde lege. Die vom Verwaltungsgericht – unter Bezugnahme auf Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin – tatsächlich herangezogenen Zahlen würden jedenfalls nicht annäherungsweise den „vom Bundesverwaltungsgericht für maßgeblich erachteten Schwellenwert“ (von 0,125% bzw. 0,1%) erreichen. Das Verwaltungsgericht hätte nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weitere Ermittlungen zur Quantität der Opferzahlen anstellen müssen. Gehe das Verwaltungsgericht davon aus, dass eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Opferzahlen nicht möglich sei, so hätte es die Klage demnach abweisen müssen. Die Rechtssache habe außerdem grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). Es sei zu klären, „ob in ganz Libyen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, bei dem der Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer Bedrohung für Leib und Leben ausgesetzt zu sein“. Außerdem sei zu klären, „ob innerhalb Libyens interne Schutzmöglichkeiten im Sinne des § 3e AsylG, insbesondere im Osten bestehen“ und „ob staatenlose Palästinenser in Libyen eine besonders vulnerable Gruppe darstellen“. Nach Ansicht der Beklagten liege „im Ostteil Libyens keine Gefahrenverdichtung“ vor. Auch seien die „Gesamtopferzahlen von Zivilisten“ seit September 2019 rückläufig. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz der Beklagten vom 28. Dezember 2020 verwiesen.
Die Kläger treten dem Zulassungsantrag der Beklagten mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 12. Februar 2021 entgegen und beantragen Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten. Sie übermitteln ihre Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse mit gesondertem Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 12. Februar 2021.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten und die Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Den Klägern, deren Klage erstinstanzlich (teilweise) Erfolg hatte, ist antragsgemäß für das Zulassungsverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen (§ 166 VwGO, §§ 114 ff. ZPO) und ihnen ihr Prozessbevollmächtigter beizuordnen (§ 121 Abs. 1 ZPO), weil sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen können und ihre Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 114 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 ZPO).
2. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die von der Beklagten geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.
a) Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts weicht nicht von der im Zulassungsverfahren genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 33) ab.
aa) Entgegen der Ansicht der Beklagten hat das Verwaltungsgericht die vom Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 27. April 2010 geforderte „annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden“ (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 33) tatsächlich vorgenommen. Der Umstand, dass es die für die Herkunftsregion der Kläger (Al-Baida) angenommene Gefahrendichte dabei quantitativ nicht beziffert hat, steht zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht in Widerspruch.
(1) Dass in Libyen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG besteht, hat die Beklagte im Klageverfahren eingeräumt und dort ausgeführt (vgl. Schriftsatz des Bundesamts vom 12.10.2020), dass „nach den Erkenntnissen der Beklagten in Libyen in allen Landesteilen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG mit Ausnahme der Kerngebiete der Regionen der Tuareg und Amazigh sowie im Osten Libyens im Bereich Benghazi und Tobruk und im Westen der Stadt Misrata und ihrer unmittelbaren Umgebung“ herrscht. Dort seien „Kampfhandlungen selten“.
Die Beklagte hat im Klageverfahren nicht näher begründet, weshalb sie einzelne Gebiete von ihrer Feststellung, dass in allen Landesteilen Libyens ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, ausnimmt. Sie hat jedoch, weil Al-Baida, die Heimatstadt der Kläger, zwischen Benghazi und Tobruk liegt, auf Benghazi als der nächstgrößeren Stadt abgestellt und – unter Bezugnahme auf eine ältere Entscheidung des Verwaltungsgerichts Aachen (VG Aachen, U.v. 8.3.2019 – 3 K 1069/16.A – juris) – eine Wahrscheinlichkeit, dort ein „Opfer der gewaltsamen Auseinandersetzungen zu werden“ von „ca. 1:2000 (320 Opfer bei rund 630.000 Einwohnern in Benghazi)“ angegeben (vgl. Schriftsatz des Bundesamts vom 12.10.2020). Diese Wahrscheinlichkeit begründe keine Gefahrendichte, aufgrund derer eine individuelle Bedrohung anzunehmen wäre. Nach Ansicht der Beklagten seien zudem individuelle gefahrerhöhende Umstände weder ersichtlich noch glaubhaft gemacht. Es komme deshalb auch die vom Gericht im Klageverfahren angeregte Abhilfeentscheidung nicht in Betracht.
(2) Der Senat weist darauf hin, dass die von der Beklagten im Klageverfahren angegebene Wahrscheinlichkeit, in Benghazi (gegenwärtig) ein „Opfer der gewaltsamen Auseinandersetzungen zu werden“, schon deshalb nicht zutreffen kann, weil die ermittelte Opferzahl (320) für das Jahr 2018 gelten soll, die angenommene Einwohnerzahl Benghazis (630.000) jedoch aus dem Jahr 2011 stammt (vgl. VG Aachen, U.v. 8.3.2019 – 3 K 1069/16.A – juris Rn. 143 und 146). Das Verwaltungsgericht Berlin, dessen aktuelle Entscheidungen ausdrücklich Gegenstand des hiesigen Klageverfahrens geworden sind und auf dessen Feststellungen das angefochtene Urteil Bezug nimmt, hat auf die Schwierigkeiten bei der Gewinnung verlässlicher Opferzahlen hingewiesen: „Mangels staatlicher Strukturen und aufgrund der omnipräsenten Gefährdungslage, die den Zugang unabhängiger Beobachter einschränkt, fehlt es an Stellen, die umfassende und zuverlässige Zahlen ziviler Betroffener zur Verfügung stellen“ (vgl. z.B. VG Berlin, U.v. 24.8.2020 – 19 K 69.19 A – beck-online Rn. 36 = in juris bezeichnet als U.v. 18.8.2020 – 19 K 69.19 A – juris Rn. 40).
Das Verwaltungsgericht Berlin hat aus diesem Grund – unter ausführlicher Würdigung der vorhandenen Erkenntnismittel – die von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (United Nations Support Mission in Libya = UNSMIL) ermittelten – und zwischen den Parteien unstreitig unvollständigen – Opferzahlen, welche „direkte“ Opfer bewaffneter Auseinandersetzungen betreffen, um eine nicht näher konkretisierte „Dunkelziffer“ auch hinsichtlich der Opfer von Landminen und schwerwiegender „Menschenrechtsverletzungen, die durch Milizen außerhalb der unmittelbaren Kampfhandlungen begangen werden“, ergänzt (vgl. VG Berlin, U.v. 24.8.2020 – 19 K 69.19 A – beck-online Rn. 41 ff.). Es kommt zum Ergebnis, dass in allen Landesteilen jederzeit bewaffnete Kämpfe ausbrechen können und „die Wahrscheinlichkeit, in Libyen Opfer willkürlicher konfliktbedingter Gewalt zu werden, die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene ‚Erheblichkeitsschwelle‘ deutlich“ übersteigt (vgl. z.B. VG Berlin, U.v. 24.8.2020 – 19 K 69.19 A – beck-online Rn. 40 ff.). Es nimmt – ebenso wie das erkennende Gericht im vorliegenden Rechtsstreit – in der Folge eine „qualitative“ Betrachtung der Gefahrenlage vor.
(3) Die Beklagte hat im Zulassungsverfahren keine anderen oder „besseren“ Erkenntnismittel darlegen können, welche dem Verwaltungsgericht für eine „bessere“ quantitative Ermittlung der Gefahrendichte zur Verfügung gestanden hätten. Es nimmt lediglich anstelle der tatrichterlichen Würdigung eine eigene Bewertung der Sachlage vor und ermittelt – unter Zugrundelegung der Opferzahlen von UNSMIL und unter Berücksichtigung verschiedener diskutierter „Dunkelziffern“ – eine Verhältniszahl (Verhältnis der „Akte willkürlicher Gewalt“, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen verübt werden, zur „Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen“), welche den „vom Bundesverwaltungsgericht für maßgeblich erachteten Schwellenwert“ (von 0,125% bzw. 0,1%) nicht erreiche. Auch in Bezug auf den Osten Libyens und damit den Heimatort der Kläger weist die Beklagte lediglich darauf hin, dass UNSMIL „keine Opferzahlen für den Osten Libyens“ nenne und „keine belastbaren Erkenntnismittel“ gegen die Einschätzung der Beklagten sprechen, dass es dort keine „Gefahrenverdichtung für die Zivilbevölkerung“ gebe.
(4) Mit diesen Erwägungen hat die Beklagte jedoch keine Abweichung des Urteils des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dargelegt.
Die Ermittlungen des Verwaltungsgerichts entsprechen der aktuellen Erkenntnislage. Danach ist die Lage in Libyen in „weiten Teilen des Landes sehr unübersichtlich und unsicher“ und eine erneute militärische Eskalation des sich seit dem Sturz Gaddafis im Jahr 2011 in Bürgerkriegswirren befindlichen Landes trotz der gegenwärtigen Waffenruhe „jederzeit möglich“ (vgl. die aktuellen „Reise- und Sicherheitshinweise“ des Auswärtigen Amtes vom 2.2.2021, die auch darauf hinweisen, dass es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt und „vielerorts auch nach Ende von Kampfhandlungen eine Gefahr von Landminen“ besteht). Das Auswärtige Amt hat alle Deutschen zur Ausreise aus Libyen aufgefordert und auf das erhöhte Risiko terroristischer Anschläge hingewiesen sowie darauf, dass staatliche (libysche) Sicherheitsorgane grundsätzlich keinen ausreichenden Schutz garantieren können. Nach eigenen Erkenntnissen des Bundesamts (vgl. Länderinformation – Libyen vom November 2020) sind aufgrund von Beschädigung, Zerstörung oder Besetzung im Bürgerkrieg nach Schätzung der World Health Organization (WHO) insgesamt 75% der libyschen Gesundheitseinrichtungen geschlossen bzw. nur teilweise funktionstüchtig. Seit Anfang des Jahres 2020 gab es laut der WHO mindestens 28 Übergriffe gegenüber Gesundheitseinrichtungen oder medizinischem Personal. Der zuletzt verfügbare Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 15. Januar 2020 (Stand: Dezember 2019) weist darauf hin, dass Libyen ein „fragmentiertes, fragiles Land mit eingeschränkter Staatlichkeit“ ist und externe Waffenlieferungen sowie der Einsatz von Söldnern ein fortgesetztes Eskalationsrisiko darstellen. Viele Regionen und Städte werden danach von bewaffneten Gruppen kontrolliert, die sich einer staatlichen Aufsicht verweigern. In Al-Baida, dem Heimatort der Kläger, der sich zwischenzeitlich in der Hand des „Islamischen Staates (IS)“ befunden hatte, agiert nunmehr eine (international nicht anerkannte) „Parallelregierung“ einer der Hauptkonfliktparteien. Der Lagebericht spricht weiter davon, dass Zivilbevölkerung sowie Flüchtlinge und Migranten Menschenrechtsverletzungen durch staatliche wie nichtstaatliche Akteure häufig schutzlos ausgesetzt sind und Zivilisten häufig Opfer bewaffneter Auseinandersetzungen, insbesondere bei unpräzisen Waffeneinsätzen werden. Er weist weiter darauf hin, dass Repressionen nicht auf bestimmte Landesteile beschränkt sind und es nach Angaben von UNHCR über 300.000 Binnenvertriebene in Libyen gebe.
(5) Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, wenn das Verwaltungsgericht die vom Bundesverwaltungsgericht geforderte „annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden“, im Wege einer gerichtlichen Würdigung der vorhandenen Erkenntnisse durch Schätzung ermittelt und dabei keine konkrete Verhältniszahl nennt. Der Einwand der Beklagten, dass das Bundesverwaltungsgericht die Ermittlung und Angabe einer derartigen Verhältniszahl – sogar in einer bestimmten Höhe als „Mindestschwelle“ – verlange, ist nicht stichhaltig.
Das Bundesverwaltungsgericht hat stets betont, dass zwar in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen und – wenn keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vorliegen – ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich ist. Es hat gleichzeitig jedoch stets darauf hingewiesen, dass in dem Fall, dass gefahrerhöhende persönliche Umstände vorliegen, auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt genügt und somit – neben einer „annäherungsweise“ quantitativen Ermittlung der Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung – stets auch eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) notwendig ist (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4/09 – juris Rn. 33). Das Bundesverwaltungsgericht hat in jüngerer Zeit ferner darauf hingewiesen, dass sein „quantitativer Ansatz“ nicht auf einen „Gefahrenwert“ im Sinne einer „zwingend zu beachtenden mathematisch-statistischen Mindestschwelle“ zielt, sondern durch das „Erfordernis einer abschließenden Gesamtbetrachtung ausreichend Raum für qualitative Wertungen“ lässt (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19 – juris Rn. 33). Die Gewährung subsidiären Schutzes vom Erreichen einer bestimmten Verhältniszahl bei der Ermittlung des Niveaus willkürlicher Gewalt als „Mindestschwelle“ abhängig zu machen, würde deshalb in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stehen, die Feststellungen zur Gefahrendichte verlangt, die neben einer annäherungsweise quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos auch eine wertende Gesamtschau zur individuellen Betroffenheit umfassen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19 – juris Rn. 21 m.w.N.).
bb) Das Verwaltungsgericht hat deshalb zu Recht neben der quantitativen Bewertung der Gefahrendichte auch eine „qualitative Betrachtung der Gefahrenlage unter Berücksichtigung der desolaten medizinischen Lage, der hohen Zahl von Binnenvertriebenen und der Tatsache, dass es sich bei den Klägern um eine Familie staatenloser Palästinenser mit kleinen Kindern handelt“ vorgenommen. Es hat bei den Klägern in diesem Sinne „mehrere gefahrerhöhende Merkmale“ festgestellt. Auch wenn – wie das Verwaltungsgericht entschieden hat – Palästinenser in Libyen (bisher) keine Gruppenverfolgung wegen ihrer Volkszugehörigkeit zu befürchten haben, geht es davon aus, dass sich infolge der zunehmend schlechten Lage in Libyen gegen die Palästinenser Aggressionen richten, gegen die kein staatlicher Schutz zu erlangen ist und ihnen „nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von den Konfliktparteien unterstellt“ wird, die „jeweils andere Seite zu unterstützen bzw. Terroristen oder Islamisten zu sein“. Eine besondere Vulnerabilität ergibt sich für die Kläger auch daraus, dass es sich um eine Familie mit (insgesamt) fünf jüngeren Kindern handelt, die zwischen 2010 und 2018 geboren sind und denen es damit deutlich erschwert ist, bei „aufflammender Gewalt ihren Wohnort zu verlassen“. Diese Feststellungen hat die Beklagte im Zulassungsverfahren – soweit sie sich überhaupt damit auseinandergesetzt hat – nicht substantiiert in Zweifel gezogen. Dies gilt auch im Hinblick auf die Frage, ob Palästinenser in Libyen einer besonderen Bedrohung ausgesetzt seien. Die Beklagte hat im angefochtenen Bescheid des Bundesamts vom 24. Mai 2017 (dort Seite 5) selbst ausgeführt, dass sich „die Situation der Palästinenser im Vergleich zu den Zeiten Gaddafis sehr verschlechtert hat“ und „die Palästinenser aus der Region als Sündenbock für jede politische Fraktion benannt“ werden. Ihr Hinweis im Zulassungsverfahren auf Familienangehörige der Klägerin zu 2, die in Al-Baida bisher überlebt hätten, vermag die Richtigkeit der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass sich staatenlose Palästinenser in Libyen verstärkt Aggressionen ausgesetzt sehen, jedenfalls nicht substantiiert in Zweifel zu ziehen.
b) Die Rechtssache hat entgegen der Ansicht der Beklagten keine grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
aa) Der Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 7.4.2017 – 15 ZB 17.30355 – juris Rn. 4; B.v. 14.9.2017 – 11 ZB 17.31124 – juris Rn. 2).
Zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit und der Entscheidungserheblichkeit bei Geltendmachung der grundsätzlichen Bedeutung einer Tatsachen- oder Rechtsfrage muss hinreichend substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte. Dies setzt die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür voraus, dass die benannte Tatsachenfrage auch einer anderen als der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Würdigung zugänglich ist. Der Rechtsmittelführer muss mithin – seinen Vortrag stützende – bestimmte begründete Informationen, Auskünfte, Presseberichte oder sonstige Erkenntnisquellen benennen, aus denen sich zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür ergibt, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen in der Antragsbegründung zutreffend sind (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 17.1.2019 – 15 ZB 19.30187 – juris Rn. 9 m.w.N.).
bb) Diesen Anforderungen wird das Vorbringen der Beklagten im Zulassungsverfahren nicht gerecht. Mit ihren Fragen, „ob in ganz Libyen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, bei dem der Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer Bedrohung für Leib und Leben ausgesetzt zu sein“, ferner, „ob innerhalb Libyens interne Schutzmöglichkeiten im Sinne des § 3e AsylG, insbesondere im Osten bestehen“ und „ob staatenlose Palästinenser in Libyen eine besonders vulnerable Gruppe darstellen“, wendet sich die Beklagte lediglich allgemein gegen die der angefochtenen Entscheidung zu Grunde liegende gerichtliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung, ohne damit jedoch eine – zumal eine über den Einzelfall hinausgehende – Klärungsbedürftigkeit einer entscheidungserheblichen Rechts- oder Tatsachenfrage substantiiert darzulegen. Dies gilt auch in Bezug auf die Behauptung der Beklagten, im Osten Libyens sei die Gefahrendichte geringer, da Kampfhandlungen seltener und Opferzahlen niedriger seien. Die Beklagte stützt sich hierbei ersichtlich auf Zahlenangaben zu zivilen Opfern direkter Kampfhandlungen. Sie setzt sich jedoch nicht hinreichend auseinander mit der vom Verwaltungsgericht – unter Bezugnahme auf das Verwaltungsgericht Berlin – dargelegten Unvollständigkeit dieser Zahlenangaben, der gebotenen Erhöhung dieser Zahlen um eine „Dunkelziffer“ und ebenfalls nicht mit den vom Verwaltungsgericht für maßgeblich erachteten und vorliegend zu berücksichtigenden Gefahren durch Landminen und schwerwiegenden „Menschenrechtsverletzungen, die durch Milizen außerhalb der unmittelbaren Kampfhandlungen begangen werden“ (vgl. VG Berlin, U.v. 24.8.2020 – 19 K 69.19 A – beck-online Rn. 42 ff.). Die Beklagte legt damit nicht hinreichend dar, weshalb anstelle der Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts die gegenteiligen Bewertungen in der Antragsbegründung zutreffend sein sollen.
Im Übrigen verkennt die Beklagte, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts auf einer wertenden Gesamtbetrachtung des Einzelfalles der Kläger beruht und damit nicht nur „quantitative“, sondern auch „qualitative“ Feststellungen (Wertungen) insbesondere unter Berücksichtigung individueller „gefahrerhöhender Merkmale“ enthält. Die Beklagte legt auch insoweit nicht dar, inwieweit die von ihr allgemein gestellten Fragen im vorliegenden Rechtsstreit entscheidungserheblich und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung sein könnten.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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