Verwaltungsrecht

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag wegen Verletzung rechtlichen Gehörs aufgrund einer unzulässigen Überraschungsentscheidung

Aktenzeichen  11 ZB 18.30589

Datum:
20.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 6943
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 4 S. 4
VwGO § 108 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 138 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Wird mit der Begründung des Berufungszulassungsantrags die tatrichterliche Sachverhaltswürdigung im Einzelfall kritisiert (§ 108 Abs. 1 S. 1 VwGO), kann dies die Annahme eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör grundsätzlich nicht begründen. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ausnahmsweise kann ein Verfahrensfehler insbesondere dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
3 Von einer Überraschungsentscheidung kann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, in einer Weise würdigt oder aus ihnen Schlussfolgerungen zieht, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligten entsprechen oder von ihm für unrichtig gehalten werden. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
4 Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) garantiert lediglich, sich zu dem gesamten, nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblichen Stoff des gerichtlichen Verfahrens in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht äußern zu können und verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht aber, ihnen in der Sache zu folgen. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 10 K 17.33915 2018-01-25 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil der allein geltend gemachte Verfahrensmangel gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt worden und auch nicht gegeben ist.
Die Kläger machen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs unter dem Gesichtspunkt einer unzulässigen Überraschungsentscheidung geltend. Sie beanstanden, das Verwaltungsgericht habe Anforderungen an den Sachvortrag gestellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter unter Beachtung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht habe rechnen müssen, indem es die gegen die Richtigkeit des klägerischen Vorbringens sprechenden Aspekte überkritisch bewertet, hingegen nicht berücksichtigt habe, dass manche der vorgebrachten Punkte schon viele Jahre zurücklägen und der Kläger zu 1. keine außergewöhnlichen Übertreibungen geschildert habe. Die gerichtlichen Einschätzungen überzeugten nicht unbedingt.
Hiermit ist keine unzulässige Überraschungsentscheidung dargetan. Vielmehr wird
die tatrichterliche Sachverhaltswürdigung im Einzelfall kritisiert (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), was die Annahme eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör grundsätzlich nicht begründen kann (vgl. BVerwG, B.v. 30.7.2014 – 5 B 25/14 – juris Rn. 13 m.w.N.). Ausnahmsweise kann ein Verfahrensfehler insbesondere dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 30.7.2014 a.a.O.). Dies zeigt der Zulassungsantrag, der sich allgemein mit den Verhältnissen in Weißrussland und aussagepsychologisch zulässigen Erwartungen an die Richtigkeit klägerischer Angaben auseinandersetzt, indes nicht auf. Auch zu einem für das Bundesamt und das Verwaltungsgericht zentralen Gesichtspunkt, nämlich der Ausreisevorbereitung über ein Reisebüro einschließlich der Beschaffung von Visa und der unbehelligten Ausreise im Besitz von eigenen Personaldokumenten trotz angeblicher Verfolgung durch den KGB, wird nichts vorgetragen.
Zwar gehen die Kläger im Ausganspunkt zutreffend davon aus, dass eine Überraschungsentscheidung dann vorliegt, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (BVerfG, B.v. 1.8.2017 – 2 BvR 3068/14 – NJW 2017, 3218 = juris Rn. 51 f., B.v. 29.5.1991 – 1 BvR 1383/90 – juris Rn. 7; BVerwG, B.v. 7.6.2017 – 5 C 5/17 D u.a. – juris Rn. 9, B.v. 2.5.2017 – 5 B 75/15 D – juris Rn. 11, jeweils m.w.N.). Doch kann hiervon nicht gesprochen werden, wenn das Gericht – wie hier – Tatsachen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, in einer Weise würdigt oder aus ihnen Schlussfolgerungen zieht, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligten entsprechen oder von ihm für unrichtig gehalten werden (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 7.6.2017 a.a.O., B.v. 2.5.2017 a.a.O.; vgl. BVerfG, B.v. 4.8.2004 – 1 BvR 1557/ 01 – juris Rn. 17 a.E.). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) garantiert lediglich, sich zu dem gesamten, nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblichen Stoff des gerichtlichen Verfahrens in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht äußern zu können (BVerwG, B.v. 7.6.2017 – 5 C 5/17 D u.a. – juris Rn. 8 m.w.N.; Berlit, in GK-AsylG, Stand Oktober 2017, § 78 Rn. 272, 274) und verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht aber, ihnen in der Sache zu folgen (Berlit, a.a.O. § 78 Rn. 261). Ferner ist das Gericht regelmäßig nicht verpflichtet, den Beteiligten vorab mitzuteilen, wie es bestimmte Erkenntnismittel in Bezug auf Einzelheiten des Parteivortrags versteht und bewertet, weil die Beweiswürdigung, das daraus folgende Beweisergebnis und die hieraus zu ziehenden Schlussfolgerungen der Schlussberatung des Gerichts vorbehalten bleiben und sich deshalb einer Voraberörterung mit den Beteiligten entziehen (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2001 – 1 B 347/01, 1 PKH 46/01 – Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52 = juris Rn. 5).
Dass es im Asylverfahren, soweit entscheidungserheblich, stets auch um die Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers und die Glaubhaftigkeit seines Vortrags geht, ist selbstverständlich und bedarf grundsätzlich nicht des besonderen Hinweises durch das Gericht (BVerwG, B.v. 26.11.2001 a.a.O.). Nachdem bereits das Bundesamt dem klägerischen Vortrag zu den angeblich ausreiseauslösenden Ereignissen keinen Glauben geschenkt hatte (vgl. Seite 5 der Gründe des angefochtenen Bescheids vom 23.5.2017), mussten die Kläger auch konkret damit rechnen, dass das Verwaltungsgericht ihre Angaben in derselben Weise werten würde. Auf die Glaubhaftigkeit der vom Kläger zu 1. geschilderten Ereignisse in den Jahren 2006, 2010 und 2011 kommt es bereits nicht an, weil das Gericht mit dem Bundesamt (§ 77 Abs. 2 AsylG) davon ausgegangen ist, dass er deshalb weder staatlich verfolgt worden ist noch ihm ein ernsthafter Schaden droht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit dieser gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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