Verwaltungsrecht

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag wegen Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Türkei)

Aktenzeichen  24 ZB 20.31723

Datum:
29.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 26783
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 5 S. 1
GG Art 103 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verlangt, dass ein Gericht nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse verwertet, die von den Verfahrensbeteiligten oder vom Gericht im Einzelnen bezeichnet zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind und zu denen sich die Beteiligten äußern konnten; vor diesem Hintergrund entspricht es gängiger Praxis der Verwaltungsgerichte im Asylstreitverfahren, diejenigen Erkenntnismittel, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zur Grundlage der gerichtlichen Entscheidung gemacht werden, im Wege der Übersendung einer Erkenntnismittelliste in das Verfahren einzuführen. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nimmt das Verwaltungsgericht Gerichtsentscheidungen als Grundlage für tatsächliche Feststellungen in Bezug, müssen entweder diese Entscheidungen oder die ihnen zugrunde liegenden Erkenntnisquellen ins Verfahren eingeführt worden sein; werden Gerichtsentscheidungen nur wegen ihrer rechtlichen Schlussfolgerungen in Bezug genommen, ist eine vorherige Einführung in das Verfahren dagegen entbehrlich. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Als prozessuales Grundrecht sichert das rechtliche Gehör den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenverantwortlich und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG BeckRS 2003, 22030). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 19.30085 2020-07-22 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich der allein behauptete Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) nicht.
Der Bevollmächtigte des Klägers trägt insoweit vor, die Einbeziehung von 165 verschiedenen Erkenntnismitteln in das Verfahren in der Form, dass mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung eine entsprechende Erkenntnismittelliste übersandt worden sei, verletze das rechtliche Gehör, da nicht absehbar gewesen sei, welche Erkenntnismittel im Einzelnen im Verfahren verwertet würden. Außerdem seien vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Gerichtsentscheidungen nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden Dies gelte ebenfalls für die diesen Gerichtsentscheidungen zugrundeliegenden Erkenntnismitteln. Außerdem habe das Gericht zwei vom Kläger vorgetragene Gesichtspunkte nicht berücksichtigt.
1. Art. 103 Abs. 1 GG verlangt, dass ein Gericht nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse verwertet, die von den Verfahrensbeteiligten oder vom Gericht im Einzelnen bezeichnet zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind und zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (OVG NRW, B.v. 19.11.2001 – 8 A 2152/01.A). Vor diesem Hintergrund ist es gängige Praxis der Verwaltungsgerichte im Asylstreitverfahren, diejenigen Erkenntnismittel, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zur Grundlage der gerichtlichen Entscheidung gemacht werden, im Wege der Übersendung einer Erkenntnismittelliste in das Verfahren einzuführen. Es entspricht der Verpflichtung des Gerichts zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO), die Verhältnisse im Herkunftsstaat möglichst genau und auf einer breiten Grundlage zu ermitteln, sodass die Heranziehung einer großen Zahl an Erkenntnismitteln nicht nur nicht zu beanstanden ist, sondern sogar geboten sein kann. Die im hier zu entscheidenden Fall übersandte Erkenntnismittelliste enthielt zugleich den Hinweis, dass die dort aufgeführten Erkenntnismittel bei Gericht eingesehen werden können. Nachdem auch die gesetzliche Ladungsfrist eingehalten wurde, ist nicht ersichtlich, dass eine ordnungsgemäße Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung, insbesondere eine ausreichende Information über den Inhalt der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel nicht möglich gewesen sein sollte. Der Bevollmächtigte des Klägers übersieht mit seiner Rüge, dass sämtliche auf der Liste der aufgeführten Erkenntnismittel zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurden, sodass ein gesonderter Hinweis des Gerichts darauf, welche dieser Erkenntnismittel im Einzelnen in der Entscheidung verwertet würden, nicht veranlasst war. Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung hat der Bevollmächtigte des Klägers dort auch nicht vorgetragen, er sei nicht in der Lage gewesen, die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel zu sichten und sich hierzu gegebenenfalls zu äußern. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Tatsachengericht im Übrigen nicht dazu, auf jede einzelne in das Verfahren eingeführte Auskunft und Stellungnahme sachverständiger Stellen einzugehen und sich mit diesen ausdrücklich auseinanderzusetzen (BayVGH, B.v. 11.5.2020 – 13a ZB 18.32274).
2. Nimmt das Verwaltungsgericht Gerichtsentscheidungen als Grundlage für tatsächliche Feststellungen in Bezug, müssen entweder diese Entscheidungen oder die ihnen zugrunde liegenden Erkenntnisquellen ins Verfahren eingeführt worden sein. Sofern Gerichtsentscheidungen nur wegen ihrer rechtlichen Schlussfolgerungen in Bezug genommen werden, ist eine vorherige Einführung in das Verfahren dagegen entbehrlich (BayVGH, B.v. 11.5.2020 – 13a ZB 18.32274). Soweit der Bevollmächtigte des Klägers vorträgt, das Erstgericht habe die Annahme, dass die Volksgruppe der Kurden in der Türkei keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt sei, auf zwei Gerichtsentscheidungen gestützt, die nicht in das Verfahren eingeführt worden seien, ist dem entgegenzuhalten, dass das Verwaltungsgericht insoweit jeweils nur die rechtliche Schlussfolgerung der zitierten obergerichtlichen Entscheidungen übernommen hat. Im Übrigen kann sich der Kläger auf die verfahrensfehlerhafte Nichteinführung von Gerichtsentscheidungen nur dann mit Erfolg berufen, wenn er zugleich darlegt, was er bei ausreichender Gehörsgewährung zum betreffenden Einzelaspekt der Urteilsbegründung mit Aussicht auf Erfolg vorgetragen hätte (BayVGH, B.v. 11.5.2020 – 13a ZB 18.32274). Daran fehlt es hier. Im Übrigen vertritt der Senat selbst den (Recht-)Standpunkt, dass in der Türkei eine Gruppenverfolgung von Kurden nicht stattfindet (B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271).
2. Auch soweit vorgetragen wird, das Verwaltungsgericht habe zwei vom Kläger vorgetragene Gesichtspunkte nicht berücksichtigt, ist kein Verfahrensverstoß festzustellen. Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenverantwortlich und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBVU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409). Es gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (BVerfG, B.v. 21.4.1982 – 2 BvR 810/81 – BVerfGE 60,305). Die Gerichte brauchen sich jedoch nicht mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen. Denn es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat.
Von einer weiteren Begründung des Nichtzulassungsbeschlusses wird abgesehen (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.


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