Verwaltungsrecht

Erfolgloser Eilantrag eines türkischen Staatsangehörigen auf Aussetzung der Abschiebung und Erteilung einer Duldung

Aktenzeichen  10 AE 17.2018

Datum:
28.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123 Abs. 1 VwGO; § 60a Abs. 2 AufenthG; Art. 8 EMRK

 

Leitsatz

1 Kann eine beabsichtigte Abschiebung nicht in die Wege geleitet werden, weil die zuständige Ausländerbehörde nicht im Besitz des Reisepasses des Betroffenen oder eines Ausweisersatzpapiers der türkischen Behörden ist, die seine Abschiebung in die Türkei ermöglichen würden, fehlt es für den auf Aussetzung der Abschiebung gerichteten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung am erforderlichen Anordnungsgrund. (Rn. 16) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Art. 8 Abs. 2 EMRK lässt einen Eingriff in das nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Privat- und Familienleben zu, wenn dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit notwendig ist. Dabei setzen sich die durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten familiären Belange bei der einzelfallbezogenen Würdigung und Abwägung der für eine Abschiebung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers indes nicht stets durch (wie BayVGH BeckRS 2017, 134603). (Rn. 17) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Es stellt ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Abschiebung eines Ausländers dar, wenn dieser die ihm durch Erteilung einer Duldung eingeräumte Möglichkeit, in der Bundesrepublik mit Unterstützung seiner Ehefrau eine Drogentherapie durchzuführen, nicht genutzt hat und erneut wegen betäubungsmittelrechtlicher Straftaten verurteilt worden ist. (Rn. 17) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 1.250 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der am 9. März 1975 in der Türkei geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er hielt sich von 1987 bis Oktober 1993 im Bundesgebiet auf. Danach war er unbekannten Aufenthalts. Die Antragsgegnerin wies ihn mit Bescheid vom 28. November 1994 in Abwesenheit aus dem Bundesgebiet aus. Dennoch wurde er in den Jahren 1998 bis 2002 mehrmals im Bundesgebiet aufgegriffen und schließlich wegen Kokainhandels und Verstößen gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Am 21. September 2004 wurde er aus der Haft in die Türkei abgeschoben.
Der Antragsteller hat am 24. November 1999 in den Niederlanden eine deutsche Staatsangehörige geheiratet. Nach Verbüßung einer mehrjährigen Haftstrafe in der Türkei befristete die Antragsgegnerin die Wirkungen der Ausweisung vom 28. November 1994 und der Abschiebung vom 21. September 2004 auf den 31. Mai 2014. Am 21. September 2014 reiste der Antragsteller wieder ins Bundesgebiet ein. Die Antragsgegnerin erteilte ihm unter der Bedingung, dass er in Deutschland eine Therapie absolviere, am 21. Oktober 2014 eine Duldung, die zuletzt bis zum 18. Juni 2015 verlängert wurde.
Mit Urteil vom 26. Januar 2016 verurteilte das Amtsgericht München den Antragsteller wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit vorsätzlicher unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, diese in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in Tatmehrheit mit Beleidung in vier tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Diese Verurteilung nahm die Antragsgegnerin zum Anlass, ihn mit Bescheid vom 16. August 2016 erneut aus dem Bundesgebiet auszuweisen. Die Klage gegen die Ausweisungsverfügung wies das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 10. August 2017 ab. Der Antragsteller beantragte, die Berufung gegen dieses Urteil zuzulassen (10 ZB 17.1961).
Die Antragsgegnerin beabsichtigte, ihn am 29. Oktober 2017 aus der Haft in die Türkei abzuschieben. Der Antragsteller ließ daher am 9. Oktober 2017 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München beantragen, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, vorläufig von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen. Sie habe am 6. Oktober 2017 die Wohnung der Ehefrau durchsuchen lassen, um an den Reisepass des Antragstellers zu gelangen. Sollte der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt werden, wolle er zusammen mit seiner Ehefrau innerhalb der ihm gesetzten Frist das Bundesgebiet freiwillig verlassen.
Aufgrund des bereits beim Bayerischen Verwaltungsgericht anhängigen Antrags auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 10. August 2017 übersandte das Verwaltungsgericht München den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof.
Mit Schreiben vom 27. Oktober 2017 beantragt nunmehr der Bevollmächtigte des Antragstellers,
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, vorläufig von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen und dem Antragsteller vorläufig eine Duldung zu erteilen.
Der Antragsteller habe einen Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Es liege ein rechtliches Abschiebungshindernis vor, weil durch seine Abschiebung der Schutz von Ehe und Familie sowie des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK und Art. 6 Abs. 1 GG in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt werde. Die Einreise in die Türkei sei ihm unter Berücksichtigung dieser Rechte wegen der langjährigen Beziehung zu seiner Ehefrau nicht zumutbar. Die Ehefrau sei erwerbstätig und verdiene überdurchschnittlich gut. Es bestehe ein reger Kontakt und trotz der Entfernung besuche sie ihn fast wöchentlich. Entscheidend sei die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern. Das Interesse an einem weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik wegen der familiären Bindung sei mit der wiederholten Straffälligkeit und möglichen Gefährlichkeit des Antragstellers abzuwägen. Der Antragsteller lebe nahezu sein gesamtes Leben ununterbrochen in der Bundesrepublik. Der Eingriff, welcher lediglich aufgrund der Schwere und Häufigkeit seiner Straftaten gerechtfertigt sein könne, berücksichtige nicht die Umstände der Tat und die familiären Verhältnisse. Der Antragsteller habe die Straftaten aufgrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit begangen und sei nur wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt worden.
Mit Beschluss vom 20. November 2017 (10 ZB 17.1961) lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 10. August 2017 ab.
Der Antragsteller wurde am 29. Oktober 2017 aus der Haft entlassen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Dem Antragsteller stehe kein Anordnungsanspruch zu, weil die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG nicht gegeben seien. Aus der Beziehung bzw. der Ehe zwischen ihm und seiner Ehefrau folge weder die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung noch ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 8 EMRK falle im vorliegenden Fall zu Ungunsten des Antragstellers aus. Die Fortführung der Ehe stelle aufgrund der mehrfachen Inhaftierungen und in der Vergangenheit erfolgten Abschiebungen des Antragstellers keinen besonderen Umstand dar. Die Ehe bestehe zwar seit 17 Jahren, diese sei jedoch die meiste Zeit räumlich getrennt voneinander gelebt worden und habe ihn auch nicht von der Begehung einer Vielzahl von Straftaten abhalten können. Es lägen auch keine dringenden humanitären und persönlichen Gründe vor, die seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern würde. Das Ziel des vom Antragsteller angestrebten weiteren Aufenthalts im Bundesgebiet bestehe in der Aufrechterhaltung der mit seiner Ehefrau geführten ehelichen und häuslichen Lebensgemeinschaft. Dieser Zweck sei kein vorübergehender, sondern ein dauerhafter und somit nicht geeignet, als Grundlage einer Ermessensduldung zu dienen. Ein Vollzug der Ausreisepflicht scheine dringend erforderlich, weil vom Antragsteller nach wie vor eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgehe. Auch sei davon auszugehen, dass der Antragsteller nicht bereit sei, seine Ausreisepflicht freiwillig zu erfüllen.
Ergänzend wird auf die vorgelegten Behördenakten und die Gerichtsakten, auch im Verfahren 10 ZB 17.1961, sowie den Beschluss des Senats vom 20. November 2017 verwiesen.
II.
Der Antrag, die Antragsgegnerin zu verpflichten, vorläufig von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen und dem Antragsteller vorläufig eine Duldung zu erteilen, ist unbegründet. Der Antragsteller hat den für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) nicht glaubhaft gemacht. Aus den von ihm vorgebrachten Gründen ergibt sich nicht, dass die Abschiebung des Antragstellers unmittelbar bevorsteht und die Entscheidung der Antragsgegnerin über den Antrag auf Erteilung einer Duldung nicht abgewartet werden kann (1.) und ihm der geltend gemachte Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG zusteht (2.).
1. Vorliegend fehlt es bereits an dem für den Erlass einen einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrund. Die von der Antragsgegnerin beabsichtigte Abschiebung kann derzeit nicht in die Wege geleitet werden, weil sie nicht im Besitz des Reisepasses des Antragstellers oder eines entsprechenden Ausweisersatzpapieres der türkischen Behörden ist, die es ihr ermöglichen würden, den Antragsteller in die Türkei abzuschieben. Die Antragsgegnerin beabsichtigte zwar, den Antragsteller unmittelbar aus der Haft am 29. Oktober 2017 in die Türkei abzuschieben. Dies scheiterte jedoch daran, dass die Ehefrau des Antragstellers seinen Reisepass nicht an die Antragsgegnerin herausgab und dieser auch im Rahmen der polizeilichen Durchsuchung der Wohnung am 6. Oktober 2017 nicht aufgefunden werden konnte. Bei einer Vorsprache bei der Antragsgegnerin am 6. November 2017 erklärte die Ehefrau des Antragstellers, dass sie den Paß derzeit nicht finde und ihn nicht vorlegen könne.
2. Der behauptete Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung und Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG ergibt sich weder aus dem Vorbringen des Antragstellers noch aus den Ausführungen seines Bevollmächtigten. Ein rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK ist nicht ersichtlich. Die Ehe des Antragstellers mit seiner deutschen Ehefrau unterfällt zwar dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK, weil zwischen den Eheleuten eine tatsächliche Verbundenheit besteht und die Ehe nach der Haftentlassung des Antragstellers fortgesetzt wurde. Allerdings lässt Art. 8 Abs. 2 EMRK einen Eingriff in das nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Privatleben zu, wenn dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratische Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit notwendig ist. Auch durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte gewichtige familiäre Belange setzen sich bei der einzelfallbezogenen Würdigung und Abwägung der für die Abschiebung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers nicht stets durch (BayVGH, B.v. 21.11.2016 –10 CS 16.2047 – juris Rn. 6 m.w.N.). Das Interesse des Antragstellers, zusammen mit seiner Ehefrau weiterhin im Bundesgebiet verbleiben zu können, besitzt im vorliegenden Fall wesentlich weniger Gewicht als die gegen einen weiteren Aufenthalt sprechenden Gründe. Vom Antragsteller geht nach wie vor die konkrete Gefahr der Begehung gravierender Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz aus. Er wurde bereits mehrfach wegen Drogenhandels und Drogenbesitzes verurteilt. Er ist seit seiner Jugend drogenabhängig und hat bislang nie erfolgreich eine Entwöhnungstherapie durchlaufen. Die ihm durch die Erteilung einer Duldung ab Oktober 2014 eingeräumte Möglichkeit, in der Bundesrepublik mit Unterstützung seiner Ehefrau eine Drogentherapie durchzuführen, hat er nicht genutzt. Er ist vielmehr wieder erheblich straffällig geworden. Das Vorbringen des Bevollmächtigten des Antragstellers, er sei nur wegen Drogenbesitzes verurteilt worden, trifft so nicht zu. Richtig ist, dass ihm bei der letzten Verurteilung der Handel mit Drogen nicht nachgewiesen werden konnte, frühere Verurteilungen erfolgten jedoch auch wegen Drogenhandels.
Diese gewichtigen, gegen den weiteren Verbleib des Antragstellers im Inland sprechenden Umstände werden nicht durch die lange bestehende Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen aufgewogen. Diese Ehe besteht zwar seit langer Zeit, die Eheleute lebten aber über lange Zeit räumlich voneinander getrennt. Während der Zeit, als sich der Antragsteller in den Niederlanden aufhielt (1996 bis 2002) unterhielt die Ehefrau im Bundesgebiet einen weiteren Wohnsitz. Ab dem Jahr 2004 bis zu seiner Wiedereinreise in das Bundesgebiet im September 2014 wurde die Ehe durch gelegentliche Besuche der Ehefrau in der Türkei aufrechterhalten.
Eine Stellung als „faktischer Inländer“, die zugunsten eines weiteren Verbleibs im Bundesgebiet sprechen würde, hat der Antragsteller nicht erlangt. Insoweit kann auf den Beschluss des Senats vom 20. November 2017 verwiesen werden.
Der Antragsteller hat im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht vorgetragen, dass tatsächliche Abschiebungshindernisse bestehen, die einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG rechtfertigen könnten.
Ein Anspruch des Antragstellers darauf, ihm eine freiwillige Ausreise zu ermöglichen, besteht nicht. Folgt man dem Vorbringen seines Bevollmächtigten, beabsichtigt der Antragsteller nicht, das Bundesgebiet zu verlassen. Er hat vielmehr vor, im Bundesgebiet die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau fortzusetzen. Auch seine Weigerung, der Antragsgegnerin für die Überwachung der Ausreise seinen Pass auszuhändigen, spricht nicht dafür, dass sich der Antragsteller an die bestehende Ausreiseverpflichtung halten wird.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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