Verwaltungsrecht

Erfolgloser Eilantrag – Eingliederungshilfe

Aktenzeichen  Au 3 E 16.1082

Datum:
5.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 123 Abs. 1
SGB VIII SGB VIII § 30, § 34, § 35a

 

Leitsatz

1 Über die  notwendige und geeignete Hilfe entscheiden die Jugendämter im kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozess. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Hilfeentscheidung hat eine angemessene, fachlich vertretbare und nachvollziehbare Lösung für die festgestellte Belastungssituation zu enthalten. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin …, …, wird abgelehnt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners, für weitere vier Monate die Kosten seiner vollstationären Unterbringung in einer Wohngruppe des Förderzentrums St. G. der Katholischen Jugendfürsorge („…haus“) zu übernehmen.
1. Der nach seinen Angaben im … 1997 in Afghanistan geborene Antragssteller ist als unbegleiteter minderjähriger Ausländer in das Bundesgebiet eingereist, wurde am 28. Februar 2014 aufgegriffen und nach einem Zwischenaufenthalt in einer Aufnahmeeinrichtung in München durch das Landratsamt … – Kreisjugendamt – in Obhut genommen (§ 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII). Er war dann in verschiedenen Einrichtungen im Regierungsbezirk Oberbayern untergebracht.
Am 23. Juli 2014 stellte das Kreisjugendamt …, das zunächst zum Vormund bestellt worden war, für den Antragsteller einen Asylantrag, über den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bislang noch nicht entschieden hat. Der Antragsteller ist im Besitz einer Aufenthaltsgestattung.
Mit Bescheid der Regierung von … vom 21. August 2014 wurde der Antragsteller dem Landkreis … zugewiesen.
2. Mit Bescheid vom 20. November 2014 bewilligte der Antragsgegner auf Antrag des nunmehr bestellten (Berufs-) Vormunds für den Antragsteller Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung (§ 34 SGB VIII) für die Zeit vom 1. Oktober 2014 bis 31. März 2015 in der therapeutisch-heilpädagogischen Wohngruppe „…haus“ der Katholischen Jugendfürsorge der Diözese … in …. Mit Bescheid vom 9. März 2015 wurde vom Antragsgegner Hilfe zur Erziehung in Form stationärer Heimerziehung bis zum 31. Mai 2015, d. h. bis zum Erreichen der Volljährigkeit weitergewährt. Seit März 2015 ist er in einer teilbetreuten Wohngruppe des „…hauses“ untergebracht.
Mit Bescheid vom 11. Mai 2015 bewilligte der Antragsgegner für den Zeitraum vom 1. Juni 2015 bis 30. November 2015 Hilfe für junge Volljährige in Form von stationärer Heimerziehung im „…haus“. Diese Hilfegewährung wurde mit Bescheid vom 25. November 2015 bis zum 31. Mai 2016 verlängert.
In der Hilfeplankonferenz am 17. Mai 2016 teilte die Fachkraft des Antragsgegners dem Antragsteller u. a. mit, dass an einen Umzug in eine Gemeinschaftsunterkunft für junge Erwachsene nach Abschluss des Schuljahres gedacht sei. Mit Schreiben vom 21. Mai 2016 beantragte der Antragssteller daraufhin, weiterhin Hilfe für junge Volljährige in Form von stationärer Heimerziehung. Er wolle noch für ein halbes Jahr im „…haus“ bleiben, im September 2016 eine Berufsausbildung beginnen und dann mit zwei bis drei Jugendlichen eine eigene Wohnung nehmen. Die Ankündigung eines Umzugs habe ihn außerordentlich belastet und es gehe ihm nicht gut; er könne sich deshalb nicht mehr gut auf die demnächst anstehende Schulabschlussprüfung (Qualifizierender Mittelschulabschluss) vorbereiten und befürchte, an der Prüfung nicht teilnehmen zu können. Er sehe auch die Gefahr, die geplante Ausbildung nicht durchhalten zu können. Er brauche Zeit, um sich auf Veränderungen vorzubereiten. Für ihn sei auch das Gespräch mit der Psychologin des Heimträgers wichtig; er habe Angst davor, dass ihn ein neuer Psychologe nicht verstehe. Eine Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft sei für ihn „schwierig“, weil er dort kein Einzelzimmer habe, wohin er sich zurückziehen könne.
Daraufhin gewährte der Antragsgegner aufgrund einer Entscheidung des betreffenden „Fachteams“ mit Bescheid vom 6. Juni 2016 erneut Hilfe für junge Volljährige für zwei weitere Monate (bis zum 31. Juli 2016) und mit weiterem Bescheid ebenfalls vom 6. Juni 2016 für die Zeit vom 1. August 2016 bis 30. November 2016 Hilfe für junge Volljährige in Form einer Erziehungsbeistandschaft von 8 Fachleistungswochenstunden. In den Gründen des letztgenannten Bescheids wird ausgeführt, dass der Antragsteller ab 1. August 2016 nicht mehr in der bisherigen Einrichtung (therapeutische Wohngruppe „…haus“ in …), sondern in der „jungen Gemeinschaftsunterkunft“ in … untergebracht werde.
Gegen den Bescheid vom 6. Juni 2016 (Gewährung von Hilfe für junge Volljährige – Erziehungsbeistandschaft) erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 17. Juni 2016 Widerspruch. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass ihn die Nachricht vom bevorstehenden Umzug „fertiggemacht“ habe. Es gehe ihm ganz schlecht, er fühle sich sehr hilflos. Er sei noch nicht bereit für einen Auszug.
Dem Antragsgegner wurden außerdem weitere Stellungnahmen übermittelt.
Nach der „Fachärztlichen Stellungnahme“ der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie … der Katholischen Jugendfürsorge der Diözese … vom 21. Juni 2016 sei der Antragsteller dort seit September 2014 wegen „Mittelgradiger depressiver Episode (F32.1)“ und „V.a. Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), komplexer Typ“ in ambulanter Behandlung. Der Antragsteller berichte aktuell von einer depressiven Stimmungslage, Grübeln, Rückzug, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Einschlafstörungen, Konzentrationsmangel, starker Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Aus fachärztlicher Sicht werde ein Verbleib in der aktuellen Wohngruppe zunächst für dringend notwendig erachtet, um den Antragsteller nicht weiter zu destabilisieren und langfristig seine seelische Gesundheit zu erhalten. Der geplante Wechsel in eine Gemeinschaftsunterkunft zum vorgesehenen Zeitpunkt könne erneut akute Suizidalität hervorrufen, den Schulabschluss gefährden und ggf. eine stationäre Behandlung erforderlich machen.
In mehreren u. a. per E-Mail übermittelten Äußerungen wiesen die Betreuerinnen des „…haues“ u. a. auf eine schlechte psychische Verfassung des Antragstellers seit dem letzten Hilfeplangespräch hin. Er sei in eine depressive Stimmungslage „gerutscht“ und sehe in seinem Tun keinen Sinn mehr; er weise daher „starke suizidale Tendenzen“ auf. Die Teilnahme am bzw. das Bestehen des Qualifizierenden Abschlusses sei höchst fraglich. Insbesondere sei er nicht in der Lage, die Projektprüfung zu schaffen. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 19. Juli 2016 wurde u. a. ausgeführt, dass der Antragsteller auch medikamentös versorgt werde. Um sich erforderlichenfalls in Anspannungssituationen wieder regulieren zu können, trage er eine Tablette eines Psychopharmakons bei sich, die er im Bedarfsfall eigenverantwortlich einnehmen könne. Zusätzliche Tabletten müsse er aber jeweils bei der Betreuungsperson nachfragen. Diese Handhabung der Medikamentierung, die dem Schutz des Antragstellers diene, sei bei einem Umzug in eine Gemeinschaftsunterkunft gefährdet. Wie dem Antragsgegner bekannt sei, sei der Antragsteller beim psychologischen Fachdienst der Einrichtung in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung. Bei einem Umzug in eine Gemeinschaftsunterkunft sei deren Fortsetzung gefährdet. Es sei anzunehmen, dass bereits erreichte Erfolge zunichte gemacht würden. Es könne auch nicht angenommen werden, dass die Therapie bei einem anderen Therapeuten zeitnah fortgesetzt werden könne.
Auf die zahlreichen weiteren dem Antragsgegner übermittelten Äußerungen wird verwiesen.
Der Antragsteller hat den Qualifizierenden Mittelschulabschluss mit der Durchschnittsnote „befriedigend“ (3,0) erworben; im Fach „Projekt (Soziales)“ erhielt er die Note „sehr gut“. Am 8. Juni 2016 schloss der Antragsteller einen Berufsausbildungsvertrag mit einem Medizinproduktebetrieb in … ab. Danach beginnt die Ausbildung am 1. September 2016.
Mit Schreiben vom 14. Juli 2016 erläuterte der Antragsgegner dem Antragsteller die geplanten Maßnahmen und teilte u. a. mit, dass dem Widerspruch nach Prüfung der Widerspruchsgründe und in Abstimmung mit der zuständigen sozialpädagogischen Fachkraft nicht abgeholfen werde.
Der Antragsgegner hob mit weiterem Bescheid vom 26. Juli 2016 „den Bescheid vom 06.06.2016“ auf. Gleichzeitig gewährte er dem Antragsteller für die Zeit vom 1. August 2016 bis 30. November 2016 Hilfe für junge Volljährige in Form einer Erziehungsbeistandschaft von 8 Fachleistungswochenstunden. In den Gründen wurde die sofortige Vollziehung „angeordnet“.
3. Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 26. Juli 2016 ließ der Antragssteller beim Verwaltungsgericht beantragen,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache für den Zeitraum vom 1. August 2016 bis zum 30. November 2016 die Kosten für die stationäre Hilfe für junge Volljährige in der Einrichtung „…haus“ zu gewähren.
Zur Begründung wird u. a. ausgeführt, dass sich insbesondere aus den vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen und Äußerungen der Betreuerinnen des „…hauses“ ergebe, dass der Antragsteller Anspruch auf Fortführung der bisherigen Hilfemaßnahme (stationäre Unterbringung im „…haus“) habe. Zu berücksichtigen sei auch, dass der Antragsteller bis zum (letzten) Hilfeplangespräch am 17. Mai 2016 nicht habe auf Bedarfsmedikation zurückgreifen müssen.
Da eine Beendigung des Aufenthalts in der Einrichtung zum 31. Juli 2016 angekündigt sei, bestehe auch ein Anordnungsgrund.
Mit Schriftsatz vom 29. Juli 2016 ließ der Antragsteller weiter beantragen, ihm unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
4. Der Antragsgegner beantragt
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, dass ein Bedarf an Hilfe für junge Volljährige bejaht werde. In Bezug auf die Ausgestaltung der Hilfe halte das Jugendamt nach fachlich-pädagogischer Beurteilung jedoch nicht (mehr) eine vollstationäre Unterbringung im „…haus“, sondern eine ambulant zu erbringende Hilfe in Form der Erziehungsbeistandschaft im Umfang von acht Wochenstunden für die notwendige und geeignete Hilfe. Die Änderung der Hilfeform, verbunden mit einem Wechsel der Unterbringung zum 1. August 2016 erfolge auch zum richtigen Zeitpunkt, um dem Antragsteller die Möglichkeit der Eingewöhnung bis zur Aufnahme seiner Ausbildung am 1. September 2016 zu geben. Mit dieser Maßnahme werde die Verselbstständigung des volljährigen Antragstellers gefördert.
Was die psychischen Probleme einschließlich der von der Einrichtung thematisierten Suizidalität angehe, sei festzustellen, dass der Antragsteller nach eigenen Angaben bereits im Iran psychiatrisch behandelt und medikamentiert worden sei. Diese psychischen Probleme bestünden, wie sich durchgehend aus den von der Einrichtung erstellten „Tischvorlagen“ (zur Vorbereitung der Hilfeplangespräche) ergebe, nach wie vor und seien während der Heimerziehung nicht nachhaltig beseitigt oder aufgelöst worden. Der angestrebte verbesserte Umgang des Antragsstellers in Situationen der Hochanspannung habe nur insoweit erreicht werden können, als von einer Dauermedikation auf eine Akutmedikation umgestellt worden sei, wobei aber auch Rückschritte vorgekommen seien. Die psychischen Probleme des Antragstellers bestünden außerhalb des jugendhilferechtlich relevanten Erziehungs- bzw. Verselbstständigungsdefizits, dessen Reduzierung Aufgabe der Hilfe für junge Vollständige sei. Die psychische Problematik des Antragsstellers sei nach fachlichpädagogischer Einschätzung nicht binnen der gewünschten 4-monatigen Verlängerung der stationären Hilfe für junge Volljährige aufzulösen. Vielmehr sei aufgrund des bisherigen Verlaufs davon auszugehen, dass die Problematik auch weiterhin bestehen werde. Die Bewältigung dieser psychischen Problemlage sei jedenfalls nicht Aufgabe der Jugendhilfe im Sinne einer Hilfe für junge Volljährige.
Gleichwohl sei dem Antragsteller geraten worden, sich therapeutisch an eine freie Praxis oder auch das Bezirkskrankenhaus in … anzubinden.
5.Wegen weiterer Einzelheiten, insbesondere des Inhalts der zahlreichen weiteren Äußerungen der in der bisherigen Einrichtung tätigen Betreuerinnen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte Bezug genommen.
Der Antragsgegner sicherte am 29. Juni 2016 gegenüber dem Verwaltungsgericht zu, die Kosten für die Unterbringung des Antragstellers im „…haus“ bis zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den vorliegenden Antrag zu übernehmen.
II.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um insbesondere wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern (Regelungsanordnung). Die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs (Anordnungsanspruch) und der Grund der Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) sind dabei vom Rechtsschutzsuchenden glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Für die Beurteilung maßgebend sind die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Der Antragsteller kann sich zwar auf einen Anordnungsgrund (Dringlichkeit) berufen, hat jedoch keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
1.1 Soweit der Antragsteller einen Anspruch nach § 41 Abs. 1 und 2, § 35a SGB VIII (Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte) geltend macht, wie in der Antragsschrift ausdrücklich erwähnt, fehlt es an der Glaubhaftmachung einer bestehenden oder mit hoher Wahrscheinlichkeit (§ 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII) zu erwartenden Teilhabebeeinträchtigung i. S. d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII. Zu beurteilen ist in diesem Zusammenhang die selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den zentralen Lebensbereichen Familie, Schule/Ausbildung/Arbeit und Freizeit. Die Beeinträchtigung der Teilhabe muss sich jedoch nicht auf alle Lebensbereiche erstrecken. Vielmehr reicht es aus, wenn eine solche auch nur in einem einzigen dieser zentralen Lebensbereiche gegeben ist oder droht. Während für die Feststellung der ersten Voraussetzung einer seelischen Behinderung, die seelische Störung i. S. d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII, eine fachärztliche oder psychotherapeutische Feststellung maßgeblich ist (§ 35a Abs. 1a SGB VIII), ist über die Teilhabebeeinträchtigung vom Jugendamt – gegebenenfalls unter Beteiligung anderer Stellen – zu entscheiden (vgl. z. B. BayVGH, B.v. 17.6.2004 – 12 CE 04.578 – und U.v. 24.6.2009 – 12 B 09.602 – beide juris). Insoweit kommt dem Jugendamt allerdings kein Beurteilungsspielraum zu; vielmehr unterliegt der unbestimmte Rechtsbegriff der Teilhabebeeinträchtigung der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle.
Der Antragsteller hat zu einer aktuell bestehenden oder zu erwartenden Beeinträchtigung der Teilhabe in den genannten zentralen Lebensbereich keine substantiierten Angaben gemacht, sondern verweist im Wesentlichen darauf, dass von ärztlichen und (sozial-)pädagogischen Fachstellen der Verbleib im „…haus“ für dringend geboten erachtet werde. Damit wird aber keine bestehende oder zu erwartende Teilhabebeeinträchtigung glaubhaft gemacht. Eine solche ergibt sich auch nicht aus den beigezogenen Akten. Vielmehr lassen insbesondere die Stellungnahmen der Fachkräfte der Einrichtung zur Vorbereitung der Hilfeplangespräche, die als „Tischvorlage“ bezeichnet sind, einen gegenteiligen Schluss zu. Aus diesen ergibt sich, dass der Antragsteller weder im Bereich Schule noch im Bereich Freizeit in seiner Teilhabe beeinträchtigt war und ist. Die dortigen Ausführungen jeweils unter „Sozialverhalten“ und „Leistungsbereitschaft“ schließen es jedenfalls aus, eine Teilhabebeeinträchtigung anzunehmen. Dass es gelegentlich auch zu Konflikten kommt, stellt diese Feststellung nicht in Frage. Schließlich zeigt insbesondere der bestandene „Qualifizierende Mittelschulabschluss“, auf den der Antragsteller sehr stolz ist, wie er der („fallführenden“) Fachkraft des Jugendamts bei einem gelegentlichen Gespräch im Landratsamt am 21. Juli 2016 mitteilte, dass von einer Teilhabebeeinträchtigung im schulischen Bereich nicht die Rede sein konnte. Dass zukünftig eine Teilhabebeeinträchtigung in den Bereichen Freizeit und/oder Ausbildung/Arbeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist – insoweit gelten gesteigerte Anforderungen an den Prognosemaßstab (§ 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII), die auch in der Glaubhaftmachung ihren Niederschlag finden müssten – ist ebenfalls nicht erkennbar. Da die Familie des Antragstellers sich nicht im Bundesgebiet, sondern (nach seinen Angaben) im Iran aufhält, stellt sich die Frage der Teilhabebeeinträchtigung im familiären Bereich nicht.
Ein beachtliches Integrationsrisiko im Sinne des § 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII kann daher nicht erkannt werden. Ein Anspruch nach § 41 Abs. 1 und 2, § 35a SGB VIII wurde daher nicht glaubhaft gemacht.
1.2 Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf (weitere) Heimerziehung für junge Volljährige nach § 41 Abs. 1 und 2, § 34 SGB VIII für die nächsten vier Monate glaubhaft gemacht.
Der Antragsgegner bejaht einen weiterbestehenden Anspruch des Antragstellers auf Hilfe für junge Volljährige nach § 41 Abs. 1 SGB VIII dem Grunde nach. Nach dieser Vorschrift soll einem jungen Volljährigen im Bedarfsfall Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden. Ziel der Hilfe ist es daher, Persönlichkeits- und Verselbstständigungsdefizite auszugleichen. Der junge Mensch soll „verselbstständigt“ werden, um ihm eine „eigenverantwortliche Lebensführung“ zu ermöglichen. Nach § 41 Abs. 2 SGB VIII kommen bei der Ausgestaltung der Hilfe
Eingliederungshilfemaßnahmen nach § 35a Abs. 2 und 3 SGB VIII, falls eine seelische Behinderung i. S. d. § 35a Abs. 1 SGB VIII vorliegt (hier nicht relevant, siehe oben 1.1), oder
einzelne Maßnahmen der Hilfe zur Erziehung nach §§ 28 ff. SGB VIII, mit Ausnahme der herkunftsfamilienbezogenen Hilfemaßnahmen (sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII und Erziehung in einer Tagesgruppe nach § 32 SGB VIII)
in Betracht. In welcher Form Hilfe geleistet wird, d. h. welche Maßnahme im Einzelnen die notwendige und geeignete Hilfe darstellt, haben die Fachkräfte des Jugendamtes – gegebenenfalls unter Beteiligung anderer Stellen – zu entscheiden. Dem Jugendamt kommt bei der Entscheidung, welche Hilfe im Einzelfall geeignet und erforderlich ist, ein rechtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Über die im Einzelfall notwendige und geeignete Hilfe entscheiden die Jugendämter im Rahmen eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses, wobei diese Entscheidung nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern eine angemessene Lösung für die festgestellte Belastungssituation zu enthalten hat, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (ständige Rechtsprechung vgl. z. B. BVerwG, U.v. 24.6.1999 – 5 C 24/98 – BVerwGE 109, 155; BayVGH U.v. 24.6.2009 – 12 B 09.602 – und B.v. 17.6.2004 – 12 CE 04.578 -, beide juris). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung ist daher darauf beschränkt, ob allgemein gültige Maßstäbe beachtet sowie alle für die Entscheidung relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt wurden und keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2005 – 12 CE 04.3019 -, juris). Lediglich dann, wenn eine ganz bestimmte Maßnahme als einzige angemessene Hilfe in Betracht kommt, und andere Maßnahmen nach Lage der Dinge nicht erkennbar sind, kann das Verwaltungsgericht den Träger der Jugendhilfe zur Gewährung einer konkreten Hilfemaßnahme verpflichten. Das trifft jedoch für die vom Antragsteller begehrte Hilfe (Heimerziehung) ersichtlich nicht zu. Wie sich aus den vorgelegten Akten ergibt, wurde über die Maßnahme unter Beachtung der gesetzlich vorgegebenen Verfahrensweise (Aufstellung und Fortschreibung eines Hilfeplans unter Mitwirkung des Antragstellers sowie der Betreuerinnen, Entscheidung im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte gemäß § 36 Abs. 2 SGB VIII) entschieden. Es kann weiter auch nicht erkannt werden, dass allgemein gültige Maßstäbe nicht beachtet oder die für die Entscheidung relevanten Gesichtspunkte nur unvollständig berücksichtigt worden oder sachfremde Erwägungen eingeflossen wären. Der Antragsteller zeigt auch nicht auf, inwieweit nach den o.g. Kriterien, auf die die verwaltungsgerichtliche Kontrolle beschränkt ist, die Auswahl der Hilfemaßnahme (hier: Erziehungsbeistandschaft nach § 30 SGB VIII ab 1.8.2016) in Bezug auf das zu erreichende Hilfeziel nach Art und Zeitpunkt fehlerhaft sein soll. Vielmehr kann kein Zweifel daran bestehen, dass die angebotene ambulante Erziehungsbeistandschaft eine angemessene Lösung für die Förderung der Verselbstständigung des Antragstellers i. S. d. Rechtsprechung darstellt, auch wenn der Antragsteller in der „jungen Gemeinschaftsunterkunft“ auf das bisher bewohnte Einzelzimmer wird verzichten müssen.
Es kann auch nicht beanstandet werden, dass der Antragsgegner die Behandlung der psychischen Erkrankung oder Störung, an der der Antragsteller offensichtlich seit Jahren leidet und die nach seinen Angaben bereits im Iran psychiatrisch und medikamentös behandelt wurde, bzw. die Sicherstellung der Behandlung nicht als primäres Hilfeziel berücksichtigt und in den Mittelpunkt seiner Überlegungen bei der Ausgestaltung der Hilfe gestellt hat. Der Antragsgegner weist zu Recht darauf hin, dass nach seiner fachlich-pädagogischen Sicht durch die bisherige in der Einrichtung angebotene und vom Antragsteller wahrgenommene psychotherapeutische Behandlung im Umfang von einer Wochenstunde (die zeitweise auch unterbrochen war) keine wesentliche Verbesserung eingetreten ist und jedenfalls innerhalb der nächsten vier Monate (bis zu einem vom Antragsteller selbst favorisierten Wohnungswechsel in eine privat angemietete Wohnung) eine solche auch nicht zu erwarten ist. Diese prognostische Einschätzung ist schlüssig und nachvollziehbar. Für die durch die Hilfe für junge Volljährige bezweckte Auflösung von Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung und der Verselbstständigung dürfte daher die psychotherapeutische Behandlung in der Einrichtung „…haus“ kaum von Einfluss sein.
Im Übrigen kann der Antragsteller auch nach einem Wechsel in die „junge Gemeinschaftsunterkunft“ die bisherige ambulante Behandlung im … in … fortsetzen und eine ambulante Psychotherapie bei einem nach Möglichkeit wohnortnahen niedergelassenen Therapeuten oder eventuell im Bezirkskrankenhaus beginnen, falls die Fortführung der bisherigen Therapie bei der Einrichtungspsychologin nicht mehr möglich sein sollte.
Der Erziehungsbeistand, der ihm nunmehr zur Seite stehen wird, kann ihm insoweit eine altersentsprechende Begleitung und Unterstützung bieten. Gleiches gilt auch in Bezug auf die notwendige Medikamenteneinnahme durch den Antragsteller. Der Antragsteller wird auch in der Unterkunft in … nicht völlig auf sich gestellt sein, Vielmehr steht ihm dort nach Angaben des Antragsgegners, an denen zu zweifeln kein Anlass besteht, ein erfahrenes und multiprofessionelles Team des privaten Trägers der Gemeinschaftsunterkunft bei der Bewältigung seiner lebenspraktischen Herausforderungen und seiner weiteren Verselbstständigung, aber auch beim Auftreten eventueller Krisen zur Seite – wenn auch in geringerem zeitlichen Umfang als bisher.
Schließlich wird ihm durch den Umzug in die Gemeinschaftsunterkunft auch der Weg zur Ausbildungsstätte in … nicht unzumutbar erschwert und/oder verlängert. Vom Bahnhof … aus kann der Antragsteller mit der Eisenbahn nach einer Fahrzeit von 7 Minuten den Bahnhof … erreichen und von dort aus den Weg zu seiner Ausbildungsstätte fortsetzen.
1.3 Nach allem ist der Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO.
2. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seiner Bevollmächtigten ist ebenfalls abzulehnen. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Der Antragsteller erfüllt zwar die wirtschaftlichen Voraussetzungen, doch fehlt dem Rechtsschutzantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO die Erfolgsaussicht. Insoweit wird auf die obigen Darlegungen Bezug genommen. Damit kann auch die beantragte Beiordnung seiner Bevollmächtigten nicht in Betracht kommen (§ 121 Abs. 2 ZPO).


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