Verwaltungsrecht

Erfolgreiche Asylklage syrischer Staatsangehöriger – Familienasyl

Aktenzeichen  W 8 K 20.30183

Datum:
17.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 21022
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 26
RL 2011/95/EU Art. 3, Art. 23
VwGO § 94

 

Leitsatz

Die abgeleitete Statusgewährung nach § 26 AsylG (“Familienasyl”) ist mit Unionsrecht vereinbar. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Januar 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu voll-streckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Januar 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 26 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie beantragt, aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Wege des Familienflüchtlingsschutzes nach § 26 AsylG. Für den Kläger resultiert der Anspruch aus § 26 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 5 Satz 1 AsylG. Der in Deutschland geborene minderjährige Kläger ist Sohn seiner unanfechtbar als Flüchtling anerkannten Mutter. Der Mutter des Klägers wurde internationalen Schutz im Sinne der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG mit Bescheid der Beklagten vom 2. Februar 2015 zuerkannt. Die Zuerkennung des internationalen Schutzes für die Mutter ist unanfechtbar und auch nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen.
Für den Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz ist nach deutschen Recht nicht nur unerheblich, dass der Kläger in Deutschland geboren wurde und das Kindschaftsverhältnis nicht bereits im Verfolgerstaat der Mutter bestanden hat, sondern insbesondere auch, dass die stammberechtigte Mutter einerseits die syrische Staatsangehörigkeit hat, während der Kläger andererseits die ägyptische Staatsangehörigkeit, also die Staatsangehörigkeit eines Nichtverfolgerstaates besitzt (so ausdrücklich BVerwG, EuGH-Vorlage v. 18.12.2019 – 1 C 2/19 – juris Rn. 14; vgl. auch VG Köln, B.v. 3.8.2020 – 20 L 1243/20.A; VG Berlin, U.v. 27.11.2019 – 19 K 53.19 A – juris). Dafür spricht schon der Wortlaut des § 26 AsylG, der das Erfordernis der gemeinsamen Staatsangehörigkeit im Gegensatz zu anderen Erfordernissen gerade nicht als Voraussetzung für die Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes enthält. Im Gesetz findet sich keine Grundlage, dass eine gemeinsame Staatsangehörigkeit oder ein letzter Aufenthalt in dem Verfolgerstaat vorliegen müssten. Der deutsche Gesetzgeber hat gerade darauf verzichtet, das zusätzliche weitere Erfordernis einer gemeinsamen Staatsangehörigkeit im Gesetz zu normieren. Auch die gesetzliche Intention nach dem Sinn und Zweck der Regelung zum Familienflüchtlingsschutz schließt Kinder mit anderer Staatsangehörigkeit nicht vom Familienflüchtlingsschutz aus, da der Gesetzgeber gerade diesen nahen Angehörigen der Stammberechtigten ohne Prüfung eigener Verfolgungsgründe ein Zusammenleben mit dem tatsächlich verfolgten und anerkannten Stammberechtigten im Bundesgebiet ermöglichen wollte. Der Schutz von Ehe und Familie spricht für eine gleichlaufende Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Die Intention besteht auch darin, die Integration der nahen Familienangehörigen des anerkannten Flüchtlings zu fördern. Der übergreifende Zweck der Ermöglichung eines Zusammenlebens mit dem unanfechtbar anerkannten Flüchtling wird nur diese Auslegung gerecht. Denn der anerkannte Flüchtling, hier die Mutter, kann nicht auf die Möglichkeit des Nachsuchens um Schutz in einem anderen Staat (hier etwa dem Heimatstaat ihres Ehemannes und des Vaters des Klägers: Ägypten) verwiesen werden. Das Gleiche gilt für die Kinder (siehe dazu schon VG Würzburg, U.v. 16.12.2019 – W 8 K 19.31597 – juris Rn. 21 mit Verweis auf Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 13 und Rn. 30; Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 119, 1.3.2019, § 26 Rn. 46 und Rn. 54 sowie VG Hannover, B.v. 18.11.2019 – 3 B 5314/19 – juris; VG Berlin, G.v. 7.10.2019 – 34 K 16.19 A – juris; VG Frankfurt (Oder), U.v. 26.3.2019 – 3 K 455/17.A – juris; VGH BW, U.v. 16.5.2002 – A 13 S 1068/01 – AuAS 2002, 224 jeweils m.w.N. auch zur Gegenauffassung). Ein möglicher aufenthaltsrechtlicher Anspruch auf Verbleib des Klägers in Deutschland und gegebenenfalls auch seines Vaters ist nicht gleichwertig, weil der Kläger so nicht ohne weiteres alle mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte in Anspruch nehmen kann, wenn er bloß einen aufenthaltsrechtlichen Schutz erhält, als wenn ihm selbst die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 18.12.2019 – 1 C 2/19 – juris Rn. 31 f.).
Auch europarechtliche Erwägungen stehen dem Ergebnis nicht entgegen (VG Köln, B.v. 3.8.2020 – 20 L 1243/20.A – juris; VG Berlin, U.v. 27.11.2019 – 19 K 53.19 A – juris; andere Ansicht aber VG Cottbus, U.v. 17.1.2019 – 5 K 511/18.A – juris; siehe mittlerweile aber nun auch BVerwG, EuGH-Vorlage v. 18.12.2019 – 1 C 2/19 – juris). Denn der Europäische Gerichtshof (U.v. 14.10.2018 – C-652/16 – ABl. EU 2018, Nr. C 436,4 – juris) hat ausdrücklich entschieden, dass Art. 3 der Richtlinie 2011/95/EU dahin auszulegen ist, dass er einem Mitgliedstaat gestattet, in Fällen, in denen einem Angehörigen einer Familie nach der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung internationaler Schutz gewährt wird, die Erstreckung dieses Schutzes auf andere Angehörige dieser Familie vorzusehen, sofern diese nicht unter einen der – hier soweit ersichtlich nicht einschlägigen – in Art. 12 der Richtlinie 2011/95/EU genannten Ausschlussgründe fallen und sofern ihre Situation wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist (siehe EuGH, U.v. 14.10.2018 – C-652/16 – ABl. EU 2018, Nr. C 436,4 – juris Leitsatz 3 und Rn. 66 f.). Denn Staaten können nach der Richtlinie 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie, siehe insbesondere Art. 3 dieser Richtlinie) günstigere Normen vorsehen, sofern diese Vergünstigung die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährdet. Der Generalanwalt hat in seinen Schlussanträgen ausgeführt, dass eine auf der Grundlage des nationalen Rechts erfolgende automatische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Familienangehörige einer Person, der dieser internationale Schutz zuerkannt wurde, nicht von vornherein keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist. Denn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für nahe Verwandte weist einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes auf mit der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren (so ausdrücklich auch EuGH, U.v. 14.10.2018 – C-652/16 – ABl. EU 2018, Nr. C 436,4 – juris Rn. 72/73). Zudem ist die Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft für Familienangehörige eines anerkannten Flüchtlings nicht unvereinbar mit dem System der Genfer Flüchtlingskonvention und wird auch vom UNHCR empfohlen. Des Weiteren verfolgt diese Zuerkennung Ziele, die im Einklang mit der Richtlinie 2011/95/EU stehen, die in Art. 23 Abs. 1 ausdrücklich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten festlegt, den Familienverband des Flüchtlings aufrecht zu erhalten und den Mitgliedstaaten darüber hinaus die Entscheidung über die zu diesem Zweck zu ergreifenden Maßnahmen überlässt. Die Erweiterung des Flüchtlingsschutzes auf nahe Familienangehörige entspricht der „Logik des internationalen Schutzes“ (so ausdrücklich Schlussanträge des Generalanwalts vom 28.6.2018 – C-652/16 – juris Rn. 47 ff., insbesondere Rn. 58). Wie schon ausgeführt ist der Verweis auf einen aufenthaltsrechtlichen Schutz nicht gleichwertig.
Ergänzend wird noch angemerkt, dass sich das Gericht nicht gehalten sah, das vorliegende Verfahren mit Blick auf die EuGH-Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, EuGH-Vorlage v. 18.12.2019 – 1 C 2/19 – juris) wegen Vorgreiflichkeit auszusetzen und auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bzw. des Bundesverwaltungsgerichts zu warten. Denn das Gericht hat grundsätzlich die Wahl, ob es sein Verfahren gemäß § 94 VwGO aussetzt oder die vorgreifliche Frage wie hier inzident selbst entscheidet (vgl. nur Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 94 Rn. 5).
Nach alledem ist dem Kläger unter Aufhebung der betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstiger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Antragsablehnung in Nrn. 2 und 3 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (§ 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG [„oder“] und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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