Verwaltungsrecht

Erfolgreiche auf Bescheidung gerichtete Untätigkeitsklage: Kein “Durchentscheiden” bei fehlender Entscheidung des BAMF über Asylantrag

Aktenzeichen  M 11 K 16.31693

Datum:
23.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 75, § 113 Abs. 5 S.1
RL 2005/85/EG RL 2005/85/EG Art. 12 Abs. 1 S. 1, Art. 13 Abs. 1, Abs. 2
RL 2013/32/EU Art. 14 Abs. 1 S. 1, Art. 15 Abs. 1, Abs. 2
GVG GVG § 169 S. 1

 

Leitsatz

1 Wegen der Besonderheiten des Asylverfahrens ist das Gericht nicht gehalten, „durchzuentscheiden“ und eine Entscheidung in der Sache zu treffen, d.h. Spruchreife nach § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO herzustellen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die permanente Überlastung einer Behörden ist kein zureichender Grund für die Nichtbescheidung eines Antrags iSd § 75 S. 3 VwGO. Es ist Aufgabe des zuständigen Ministeriums bzw. der Behördenleitung in dieser Lage für hinreichenden Ersatz zu sorgen oder entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3 Es ist angemessen, dass das BAMF binnen einer Frist von 3 Monaten ab Rechtskraft des Urteils über den Asylantrag entscheidet. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Asylantrag vom 22. Juli 2014 bis spätestens drei Monate nach Rechtskraft des Urteils zu entscheiden.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärten (§ 101 Absatz 2 VwGO).
Die Klage hat Erfolg.
1. Die Klage wurde erst nach Ablauf der Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO eingereicht.
2. Die Antrags-/Klagepartei hat einen Anspruch darauf hat, dass die Beklagte in angemessener Zeit über ihren Antrag entscheidet (vgl. a. VG Düsseldorf, U.v. 30.10.2014 – 24 K 992/14.A – juris Rn. 21).
Das Gericht ist wegen der Besonderheiten des Asylverfahrens nicht gehalten, „durchzuentscheiden“ und eine Entscheidung in der Sache zu treffen, d.h. Spruchreife nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO herzustellen (so auch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 01.07.1997 – A 13 S 1186/97 -; VG Freiburg, Urteil vom 23.09.2016 – A 1 K 2611/16 – juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 08.07.2016 – A 3 K 172/16 – juris; VG Stuttgart, Urteil vom 23.03.2016 – A 12 K 439/16 – juris; VG München, Urteil vom 08.02.2016 – M 24 K 15.31419 – juris; VG Trier, Urteil vom 18.08.2016 – 5 K 3379/16.TR -; a.A. BayVGH, Beschluss vom 07.07.2016 – 20 ZB 16.30003 – juris sowie – nicht tragend – VG Freiburg, Beschluss vom 26.01.2016 – A 5 K 2597/15 – juris).
Das VG Freiburg (Urteil vom 23.09.2016 – A 1 K 2611/16) führt hierzu zutreffend aus:
„Zwar geht das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 07.03.1995 (- 9 C 264.94 – juris-Rn. 14) davon aus, dass das Verwaltungsgericht auch im Asylverfahren die Sache grundsätzlich spruchreif zu machen hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat hiervon allerdings wegen der besonderen Struktur des asylrechtlichen Verwaltungsverfahrens eine Ausnahme zugelassen, wenn das Bundesamt überhaupt noch keine sachliche Entscheidung über einen Asylantrag getroffen hat. Aus der besonderen Struktur des asylrechtlichen Anerkennungsverfahrens folgt hiernach, dass die vom Bundesamt verweigerte sachliche Prüfung nicht durch das Gericht zu treffen, sondern vorrangig vom Bundesamt als zuständiger Fachbehörde nachzuholen ist. Zwar betrifft diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausdrücklich nur Fälle, in denen nach den §§ 32 und 33 AsylVfG (heute: AsylG) eine Sachentscheidung unterblieben ist. Für den Fall, dass das Bundesamt über einen Asylantrag ohne sachlichen Grund innerhalb angemessener Frist nicht entschieden hat, kann aber im Ergebnis nichts anderes gelten (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 01.07.1997, aaO.). Dem Kläger ginge bei einem Durchentscheiden des Gerichts eine Tatsacheninstanz verloren, die mit umfassenden Verfahrensgarantien ausgestattet ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.03.1995, aaO.). Ferner kann das Gericht bei einer ablehnenden Entscheidung über den Asylantrag keine Abschiebungsandrohung mit den entsprechenden gesetzlich vorgeschriebenen Fristen aussprechen. Diese Entscheidung hat vielmehr das Bundesamt zu treffen, wobei sich die von ihm zu setzende Ausreisefrist danach richtet, ob es den Asylantrag als unbeachtlich, offensichtlich unbegründet (vgl. § 36 Abs. 1 AsylG) oder lediglich als einfach unbegründet (vgl. § 38 Abs. 1 AsylG) ablehnt. Eine vergleichbare Möglichkeit steht dem Gericht nicht zu (VGH Bad.-Württ., ebd.). Schließlich wäre in diesen Fällen mit einem Durchentscheiden des Gerichts keine Verfahrensbeschleunigung verbunden, da gegen eine nach der Entscheidung des Gerichts durch das Bundesamt ergehende Abschiebungsandrohung wiederum gerichtlicher Rechtsschutz in Anspruch genommen werden könnte.
Hinzu kommt, dass das Bundesverwaltungsgericht im Asylrecht auch in den so genannten Dublin-Verfahren, in denen das Bundesamt den Asylantrag nicht in der Sache geprüft hat, den Gerichten keine Berechtigung zuweist, den geltend gemachten Asylanspruch sachlich zu prüfen, sondern eine Anfechtungsklage als allein statthafte Klageart ansieht (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 – 1 C 32.14 – BVerwGE 153, 162).
Ferner sprechen auch europarechtliche Gesichtspunkte gegen ein Durchentscheiden. Denn aus unionsrechtlichen Gründen muss im Anwendungsbereich der Asylverfahrensrichtlinie Asylbewerbern eine auf bloße Verwaltungsentscheidung gerichtete Untätigkeitsklage möglich sein. Entscheidend ist, dass sowohl Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2005/85/EG (Asylverfahrensrichtlinie alte Fassung – AsylVf-RL a.F.) als auch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie neue Fassung – AsylVf-RL n.F.), die auf nach dem 20. Juli 2015 gestellte Asylanträge anzuwenden ist (vgl. Art. 52 AsylVf-RL n.F.), den Asylbewerbern ein subjektives Recht auf eine behördliche Entscheidung nach einer persönlichen Anhörung und anschließend einen Anspruch auf dessen gerichtliche Überprüfung einräumen. Dabei kann eine Anhörung durch ein Gericht in der mündlichen Verhandlung die in Art. 13 Abs. 1 AsylVf-RL a.F. und in Art. 15 Abs. 1 AsylVf-RL n.F. vorgesehenen Anforderungen an die persönliche Anhörung nicht stets wahren. Denn Art. 13 Abs. 1 und 2 AsylVf-RL a.F. wie auch Art. 15 Abs. 1 und 2 AsylVf-RL n.F. sehen vor, dass die persönliche Anhörung vor der Verwaltung regelmäßig ohne die Anwesenheit von Familienangehörigen und unter Bedingungen stattfindet, die eine angemessene Vertraulichkeit gewährleisten, während der Grundsatz der Öffentlichkeit (§ 169 Satz 1 GVG i.V.m. § 55 VwGO) Ausnahmen gemäß § 171a ff. GVG (i.V.m. § 55 VwGO) nur unter engeren Voraussetzungen zulässt (vgl. VG München, Urteil vom 08.02.2016 – M 24 K 15.31419 – juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 18.07.2016 – A 4 K 5054/15 -).
Dieser Vergleich des unionsrechtlich vorgesehenen Verfahrensanspruchs eines Asylbewerbers einerseits mit der Ausgestaltung des nationalen verwaltungsprozessualen Verfahrensrechts andererseits spricht dafür, dass ein Asylbewerber nicht verpflichtet ist, seine Untätigkeitsklage auf bestimmte inhaltliche Rechtspositionen zu richten, deren Spruchreifmachung eine entsprechende Anhörung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung durch das Gericht erforderlich machen könnte, sondern zur Wahrung seiner unionsrechtlichen Verfahrensrechte im Verwaltungsverfahren seine Untätigkeitsklage auch auf eine bloße Verpflichtung zur Entscheidung richten kann.
Einem Absehen von einem Durchentscheiden bei einer fehlenden behördlichen Entscheidung über den Asylantrag steht auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Verpflichtung der Gerichte, bei so genannten Folgeanträgen durchzuentscheiden (BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 – 9 C 28.97 – BVerwGE 106, 171), nicht entgegen. Beide Fallkonstellationen unterscheiden sich grundlegend. Während bei einem Folgeantrag nach erfolgloser Durchführung eines Asylerstverfahrens bereits einmal eine Prüfung des Asylbegehrens durch die Behörde erfolgt ist, und es im behördlichen Verfahren im Folgeverfahren zunächst lediglich um die Frage geht, ob die Bestandskraft der ursprünglichen Entscheidung aufgrund bestimmter Umstände zu durchbrechen ist, ist bei der vorliegenden Konstellation noch überhaupt keine inhaltlich Prüfung des materiellen Anspruchs des Asylbewerbers erfolgt. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist zudem zeitlich vor dem Erlass der europäischen Verfahrensrichtlinien ergangen und konnte von daher deren Vorgaben naturgemäß noch nicht berücksichtigen (vgl. VG Karlsruhe, U. vom 18.07.2016 – A 4 K 5054/15 -).
Besonders deutlich wird diese Problematik anhand der vorliegenden Fallkonstellation. Außer der Aufnahme der wesentlichen Personaldaten ist hier keinerlei Aufklärung des Sachverhalts im Verwaltungsverfahren erfolgt. Das Gericht müsste also gewissermaßen das gesamte Verwaltungsverfahren in eigener Regie durchführen. Dieses Ergebnis kann aber kaum mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung vereinbar sein. Soweit der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Beschluss vom 07.07.2016 – 20 ZB 16.30003 – juris) der Auffassung ist, die Verwaltungsgerichte hätten das Bundesamt in solchen Fällen durch prozessleitende Verfügungen oder im Beschlusswege zur Durchführung unabdingbarer Verfahrensschritte anzuhalten, dürfte dies der Realität der Gerichtsverfahren in der ersten Instanz nicht entsprechen. Abgesehen davon, dass es wohl keine Rechtsgrundlage gibt, die es den Verwaltungsgerichten ermöglichen würde, das Bundesamt beispielsweise verbindlich mit Maßnahmen der Identitätsfeststellung, der Einholung eines Sprachgutachtens oder einer Anhörung des Asylbewerbers zu betrauen, dürfte ein solches Ansinnen jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht auf unüberwindbare Schwierigkeiten stoßen. Nach den Erfahrungen der Kammer ist es schon kaum möglich, auf einfachste Anfragen sinnvolle Antworten des Bundesamts zu erhalten. Gerichtliche Verfügungen werden vielmehr häufig gar nicht, verspätet oder inhaltlich unzureichend beantwortet. Wie es den Verwaltungsgerichten bei dieser Ausgangslage gelingen sollte, das offenbar nach wie vor überlastete Bundesamt in zahlreichen Fällen dazu zu bewegen, für erforderlich gehaltene Maßnahmen der Sachverhaltsaufklärung durchzuführen, ist unerfindlich.“
Diesen Ausführungen schließt sich das Gericht an. Das Gericht hat ebenfalls aus zahlreichen Verfahren die Erfahrung gemacht, dass Akten nur nach mehrfachen Aufforderungen vorgelegt werden und Anfragen nicht, unzureichend oder verspätet beantwortet werden.
In diesem Verfahren ist zwar bei Asylantragstellung eine Anhörung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats erfolgt.
Auf Nachfragen vom 14. Juli 2016, 5. August 2016 und 31. August 2016, wann mit einer Entscheidung gerechnet werden kann, erfolgte keine Antwort der Beklagten.
Es fehlt an einem sachlichen Grund für die Nichtbescheidung des Asylantrags.
Eine (vorübergehende) Überbelastung der Behörde kann zwar grundsätzlich einen zureichenden Grund i.S.v. § 75 Satz 3 VwGO darstellen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, Rn. 13).
Jedoch stellte sich zum Zeitpunkt der Asylantragstellung am 22. Juli 2014 die Lage noch anders dar.
Wie auch eine Broschüre der Beklagten (Das Bundesamt in Zahlen 2015) auf S. 14 ergibt, waren zwar die Asylerstantragszahlen Anfang 2015 bei über 20000, aber erst ab Mitte des Jahres 2015 erfolgte der steile Anstieg.
So führt auch das VG Freiburg im Urteil vom 23. September 2016 aus:
„Indes stellt sich die Lage im Jahr 2014 noch anders dar. In diesem Jahr war „nur“ ein Eingang von 202.834 Asylanträgen zu verzeichnen. Diese Anzahl stellt zwar bereits eine deutliche Steigerung zum Jahr 2013 mit 127.023 gestellten Asylanträgen dar (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zu Asyl, Februar 2016, S. 4). Eine Überlastung des Bundesamtes wird hierdurch aber nicht begründet, zumal im Jahr 2014 immerhin 128.911 Asylanträge beschieden wurden. Erst im Jahr 2015 ist ein extremer Anstieg auf eine Zahl von 476.649 Asylanträgen zu verzeichnen, wobei diese Zahl offenbar allein die förmlichen Anträge abbildet. In der Gesamtheit dürfte für 2015 vielmehr von bis zu 1,1 Mio. Asylfällen auszugehen sein. Hiernach spricht Vieles dafür, dass die über zweijährige Untätigkeit der Beklagten im vorliegenden Verfahren die Folge einer seit mehreren Jahren zu verzeichnenden ständigen Arbeitsüberlastung des Bundesamtes ist. Diese stellt jedoch keinen sachlichen Grund im Sinne des § 75 VwGO dar (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 23.03.2016 – A 12 K 439/16 – juris; Dolde/Porsch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 75 Rn. 8 m.w. Nachw.).“
Bei einer permanenten Überlastung bestimmter Behörden liegt kein zureichender Grund für die Nichtbescheidung eines Antrags im Sinne von § 75 Satz 3 VwGO vor, da es in einem solchen Fall Aufgabe des zuständigen Ministeriums bzw. der Behördenleitung ist, für hinreichenden Ersatz zu sorgen oder entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen.
Das Gericht hält eine Frist für die Entscheidung über den Asylantrag von 3 Monaten ab Rechtskraft des Urteils für angemessen. Dabei hat es sich an der Vorschrift des § 75 VwGO orientiert. Der Fristablauf nach Rechtskraft des Urteils trägt dem Umstand Rechnung, dass eine vorläufige Vollstreckung bei Verpflichtungsklagen nur hinsichtlich der Kosten möglich ist (vgl. § 167 Absatz 2 VwGO).
Nach alledem war der Klage stattzugeben.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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