Verwaltungsrecht

Erfolgreiche Klage auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft – Herkunftsland Myanmar

Aktenzeichen  M 17 K 17.35494

Datum:
25.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3, § 4
AufenthG AufenthG § 60
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

In Myanmar sind die Rohingya weiterhin zum Teil gravierenden Menschenrechtsverletzungen durch die Armee und lokale Behörden ausgesetzt; sie sind unter anderem in ihrer Freizügigkeit und Berufsausübung erheblich eingeschränkt und werden aufgrund der teilweisen Versagung eines personenrechtlichen Status drastisch und systematisch diskriminiert. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 6. März 2017 wird in den Nrn. 1, 3 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 1/3, die Beklagte 2/3.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 25. Juli 2017 trotz Ausbleibens der Beklagtenseite entschieden werden. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und in dem aufrechterhaltenen Umfang auch begründet, da die Beklagte zur Feststellung verpflichtet ist, dass beim Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG vorliegt.
1. Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VG Ansbach, U.v. 28.4.2015 – AN 1 K 14.30761 – juris Rn. 65ff. m.V. auf: BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit – insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit – abzustellen. Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für eine Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27.85 – juris).
2. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt:
2.1 Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger ursprünglich aus Myanmar stammt und Volkszugehöriger der Rohingya ist. Die entsprechenden Fragen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung konnte er glaubhaft, sehr detailliert und ohne Zögern beantworten. Insbesondere konnte er seine Flucht aus Myanmar und die Unterschiede zwischen …ern und Rohingya plausibel und widerspruchsfrei darlegen.
2.2 Zwar wird in dem streitgegenständlichen Bescheid dem Kläger die Abschiebung nach … angedroht, unregistrierte Flüchtlinge, wie der Kläger, sind nach Auskunft des Auswärtigen Amts vom 6. Dezember 2013 an das Verwaltungsgericht Augsburg aber unmittelbar von Abschiebung nach Myanmar bedroht, so dass die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach … nach Myanmar weitergeschoben wird.
2.3 Als Rohingya drohen ihm bei einer Rückkehr nach Myanmar aber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 3 AsylG.
In Myanmar sind die Rohingya weiterhin zum Teil gravierenden Menschenrechtsverletzungen durch die Armee und lokale Behörden ausgesetzt, sie sind unter anderem in ihrer Freizügigkeit und Berufsausübung erheblich eingeschränkt und werden aufgrund der teilweisen Versagung eines personenrechtlichen Status drastisch und systematisch diskriminiert (UNHCR v. 10.12.2015; Auswärtiges Amt v. 6.12.2013, jew. an VG Augsburg; vgl. a. VG Münster, U.v. 1.10.2014 – 1 K 2062/13.A – juris 26ff.; VG Düsseldorf, U.v. 4.9.2014 – 8 K 4059/13.A – juris Rn. 20ff.; SZ v. 6.11.2015, v. 3./4.6.2015, Focus 22/2015). Unter anderem im November 2016 kam es in Myanmar auch wieder zu erheblichen Übergriffen auf Dörfer muslimischer Rohingyas (Human Rights Watch, Burma: New Wave of Destruction in Rohingya Villages v. 21.11.2016, www.hrw.org; SZ v. 18.11.2016).
Zudem nehmen in Myanmar Sicherheitskräfte willkürlich Personen fest und führen harte Verhörpraktiken durch. Es kommt zu Folter und extralegalen Tötungen durch die Sicherheitskräfte (vgl. VG Freiburg, U.v. 17.6.2010 – A 6 K 314/10 – juris; VG Augsburg, U.v. 1.2.2013 – Au 6 K 12.30101 – juris Rn. 27). Zwar ist in Myanmar zwischenzeitlich ein gewisser Demokratisierungsprozess zu verzeichnen, doch es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich an den Gesetzen selbst oder der Vollzugspraxis etwas geändert hat (vgl. z.B. a. Berichte in der SZ v. 6. und 18.11.2016). Myanmar bleibt von einem Rechtsstaat noch weit entfernt und es sind weiterhin Fälle von Behördenwillkür weit verbreitet (vgl. VG Augsburg, U.v. 1.2.2013 – Au 6 K 12.30101 – juris Rn. 30, 31, 38, 42 m.w.N.; VG Regensburg, Gerichtsbescheid v. 29.7.2013 – RN 2 K 13.30348).
Nach alledem kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger als Rohingya von den Behörden Myanmars Schutz beanspruchen könnte (vgl. § 3d AsylG) oder für ihn eine inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG besteht.
Zudem ist – da der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben nie myanmarische Personalpapiere besessen hat und heimlich nachts über die „grüne Grenze“ ausgereist ist – davon auszugehen, dass er Myanmar damals illegal verlassen hat, so dass ihm bei seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Maßnahmen im Sinne des § 3 AsylG aufgrund der illegalen Ausreise und der Asylantragstellung drohen. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln kann die illegale Ausreise aus Myanmar mit einer mehrjährigen Haftstrafe geahndet werden. Eine Anpassung der Gesetze nach dem Regierungswechsel ist bisher offenbar nicht erfolgt. Zwar hat nach Angaben des Auswärtigen Amtes die Beantragung von Asyl in Deutschland allein keine Repressalien zur Folge. Dies sei allerdings anders zu beurteilen, wenn weitere Umstände, wie z.B. die Begehung einer Straftat nach myanmarischem Recht, hinzuträten. Eine solche Straftat kann aber gerade die illegale Ausreise aus Myanmar und/oder (Wieder-)Einreise nach einem illegalen Auslandsaufenthalt sein. Auch in Folge der aktuellen politischen Entwicklung ist insoweit keine andere Beurteilung angezeigt. Zwar hat sich die menschenrechtliche Situation in letzter Zeit etwas verbessert, jedoch bleibt Myanmar von einem Rechtsstaat noch weit entfernt und es sind weiterhin Fälle von Behördenwillkür weit verbreitet (vgl. VG Regensburg, U.v. 14.2.2017; VG München, U.v. 7.3.2016 – M 17 K 16.30010 – juris; VG Augsburg, U.v. 1.2.2013 – Au 6 K 12.30101 – juris Rn. 30, 31, 38, 42 m.w.N.; VG Regensburg, Gerichtsbescheid v. 29.7.2013 – RN 2 K 13.30348; vgl. a. UNHCR v. 21.12.2012 an das VG Ansbach; Auswärtiges Amt v. 6.12.2013 an das VG Augsburg).
Aufgrund dieser Gesamtumstände geht das Gericht davon aus, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach … zumindest wegen der dann zu erwartenden Abschiebung nach Myanmar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen drohen.
Der Klage war somit hinsichtlich § 3 AsylG stattzugeben. Dementsprechend waren auch die Ablehnung des subsidiären Schutzes (Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids), die Verneinung von Abschiebungsverboten (Nr. 4), die Abschiebungsandrohung (Nr. 5) sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot (Nr. 6) aufzuheben.
Die Kostenfolge ergibt sich hinsichtlich des in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen Teils (Anerkennung als Asylberechtigter) aus § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen aus § 154 Abs. 1 VwGO (vgl. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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