Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Italien

Aktenzeichen  M 22 S 16.50215

Datum:
4.4.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 134018
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylVfG § 34a
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2

 

Leitsatz

Die Frage, ob systemische Mängel im italienischen Asylverfahren bzw. den Aufnahmebedingungen vorliegen, muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (M 22 K 16.50214) gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für … vom 7. März 2016 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die ihm drohende Abschiebung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Seinen eigenen Angaben nach ist der … geborene Antragsteller nigerianischer Staatsangehöriger und reiste am 22. Juni 2015 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 31. August 2015 Asylantrag stellte.
Im Rahmen des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens im Bundesamt für … (Bundesamt) gab der Antragsteller am 31. August 2015 an, dass er sein Heimatland im März 2014 verlassen habe und über Niger und Libyen im Juni 2015 nach Italien gelangt sei, bevor er über Österreich weiter nach Deutschland gereist sei.
Mit Blick auf die obigen Angaben und einen Treffer der Kategorie 2 bezüglich Italiens im EURODAC-Fingerabdrucksystem wandte sich das Bundesamt am 29. Oktober 2015 fristgerecht mit dem Ersuchen um Übernahme an die zuständigen italienischen Behörden. Diese antworteten auf das Aufnahmeersuchen nicht.
Mit streitgegenständlichen Bescheid vom 7. März 2016 lehnte das Bundesamt den in Deutschland gestellten Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 2) und befristete das gesetzliche Einreise und Aufenthaltsverbot auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 3). Auf die Begründung des Bescheids, der dem Antragsteller am 14. März 2016 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt wurde, wird Bezug genommen.
Mit Schriftsatz vom 21. März 2016, eingegangen beim Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, ließ der Antragsteller durch seine Bevollmächtigten Klage gegen den Bescheid vom 7. März 2016 (M 22 K 16.50214) zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und weiter beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.
Zur Begründung führte die Antragspartei ausführlich aus, dass der Antragsteller aufgrund diverser Übergriffe während seiner Reise nach Deutschland behandlungsbedürftig traumatisiert sei und ihm eine Abschiebung nach Italien insoweit nicht zumutbar sei; dies zumal er im Falle einer Rückführung nach Italien dort aufgrund systemischer Mängel im italienischen Asylsystem Gefahr laufe einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu sein.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 30. März 2016 die Behördenakte vor und äußerte sich im Übrigen nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten in den Verfahren M 22 S 16.50215 und M 22 K 16.50214 sowie auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des Bescheids des Bundesamts vom 7. März 2016 ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO i. V. m. §§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, 75, 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG (vormals AsylVfG, vgl. Art. 1 Nr. 1 des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20. Oktober 2015, BGBl. I S. 1722, in Kraft getreten am 24. Oktober 2015) statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere wurde er fristgerecht binnen Wochenfrist (§ 74 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG) erhoben.
2. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der (gleichfalls binnen Wochenfrist) erhobenen Klage hinsichtlich der Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 7. März 2016 hat auch in der Sache Erfolg. Nach der in diesem Verfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung stellen sich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen dar. Die im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Antrag vorzunehmende Interessenabwägung fällt bei dieser Sachlage zugunsten des Antragstellers aus.
Wesentlich für diese Bewertung ist der Umstand, dass Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen mit Blick auf eine möglicherweise zu erwartende Verletzung des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) bedingt durch die Verhältnisse, mit denen sich der Antragsteller als abgeschobener Asylbewerber in Italien konfrontiert sähe.
Auf der Grundlage der Aussagen in den aktuellen Erkenntnismitteln erscheint insbesondere fraglich, ob der Antragsteller bei einer Rückführung nach Italien sogleich Zugang zum Aufnahmesystem für Asylbewerber im Hinblick auf eine Unterkunft und die Sicherstellung des Lebensunterhalts hätte. Nach den Feststellungen in der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an das Verwaltungsgericht Schwerin vom 23. April 2015, die auf den Länderbericht von AIDA, Stand: Januar 2015, Bezug nimmt (siehe hierzu nunmehr den AIDA Länderbericht Italien, Stand: Dezember 2015, S. 62, wonach sich an der Situation anscheinend nichts geändert hat; vgl. auch die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 25.03.2015 an das VG Schwerin), gibt es insbesondere in den großen Städten eine Lücke zwischen dem Asylgesuch und seiner formellen Registrierung. Es könne Wochen bis Monate dauern, bis die sog. Verbalizzazione erfolge. In dieser Zeit hätten die Asylsuchenden „allenfalls“ keinen Zugang zu Unterbringung und medizinischer Versorgung, die über eine Notfallversorgung hinausgehe. Mittellose Asylbewerber seien in dieser Zeit obdachlos, außer sie könnten vorübergehend bei Bekannten oder in Notschlafstellen unterkommen. Statistiken dazu, wie viele Personen von diesem Problem betroffen seien, gebe es allerdings nicht. Für Dublin-Rückkehrer (auch solche, die bereits einen Asylantrag in Italien gestellt haben) stellt sich die Situation soweit ersichtlich vergleichbar dar (vgl. hierzu AIDA Länderbericht Italien, Stand: Dezember 2015, S. 63 f.).
Anzumerken ist weiter, dass die Problematik auch vor dem Hintergrund zu sehen ist, dass die Kapazitäten der für die Unterbringung von Asylbewerbern vorgesehenen Einrichtungen angesichts des Anstiegs der Zahl der Schutzsuchenden im Zuge der sog. Flüchtlingskrise offenkundig bei weitem nicht ausreichend sind. Angesichts der aktuellen Entwicklungen verbietet es sich daher auch, hinsichtlich der Beurteilung der Situation auf die Feststellungen bzw. Wertungen in älteren Gerichtsentscheidungen abzustellen.
Müsste der Antragsteller für den Fall seiner Rückkehr nach Italien tatsächlich damit rechnen, längerfristig obdachlos zu sein, ehe ihm ein Unterkunftsplatz zur Verfügung gestellt werden kann, so wäre dies auch in Ansehung der dem italienischen Staat (nach dem Gemeinschaftsrecht) obliegenden Verpflichtungen gegenüber (mittellosen) Asylbewerbern wohl als Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta (bzw. Art. 3 EMRK) zu werten, was zur Folge hätte, dass auch eine Abschiebung nach Italien durch die deutschen Behörden zu unterbleiben hätte (andernfalls auch diesen ein Verstoß gegen Art. 4 EU-Grundrechtecharta vorzuwerfen wäre). Da nach den vorliegenden Erkenntnissen aber eine solche Gefahrenlage für den Fall der Abschiebung – wie dargestellt – jedenfalls möglich (wenn nicht sogar naheliegend) erscheint, ist es nach Auffassung des Gerichts hier geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Eine abschließende Klärung der inmitten stehenden Fragen muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben (vgl. zum Ganzen in Bezug auf Schutzsuchende, die nicht wie etwa Familien mit kleinen Kindern als besonders vulnerabel gelten, ein Abschiebungsverbot bzw. systemische Mängel bejahend: VG Düsseldorf, U.v. 15.12.2015 – 12 K 7303/15.A – juris; VG Potsdam, GB.v. 30.9.2015 – VG 4 K 2689/14.A – abrufbar über die Rechtsprechungsdatenbank in asyl.net; VG Hannover, U.v. 7.9.2015 – 10 A 13369/14 – asyl.net; VG München, U.v. 28.7.2015 – M 24 K 15.50498 – juris; solche Mängel dagegen verneinend: VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316 – juris; VG München, U.v. 3.11.2015 – 12 K 15.50799 – juris und VG Augsburg, U.v. 19.10.2015 – Au 5 K 15.50416 – juris).
Auf die Frage, ob auch im Hinblick auf den Vortrag des Antragstellers zu dessen Erkrankung eine Abschiebung unzulässig sein könnte (wenn ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis anzunehmen wäre), muss daher hier nicht mehr eingegangen werden (zu den Anforderungen bezüglich der Darlegung einer PTBS vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8/07 – juris; zur Aussetzung einer Abschiebung bei Suizidgefahr vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 8.10.2015 – OVG 12 S 60.15 – juris).
Für das weitere Verfahren sei vorsorglich bemerkt, dass, sollte sich die Einschätzung zur Gefahr einer längerfristigen Obdachlosigkeit bestätigen, hieraus nicht notwendig zu folgern wäre, dass insoweit ein systemischer Mangel im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-Verordnung zu konstatieren wäre. Vielmehr würde sich dann ggf. die Frage stellen, ob nicht im Wege einer vom Bundesamt zu veranlassenden Abstimmung mit den italienischen Behörden die eine Abschiebung hindernden Umstände ausgeräumt werden könnten (durch Einholung einer verbindlichen Zusicherung der italienischen Behörden wie in den Fällen bei beabsichtigter Abschiebung von besonders vulnerablen Personen). Ein solches Vorgehen könnte unter Umständen auch mit Blick auf die vorgetragene Erkrankung des Klägers angezeigt sein (wenn davon auszugehen wäre, dass medizinische Gründe einer Abschiebung nicht grundsätzlich entgegenstehen). Allerdings scheint es sich so zu verhalten, dass die italienischen Behörden gegenwärtig nicht mehr bereit sind, individuelle Zusicherungen abzugeben (vgl. dazu Hocks, Asylmagazin 6/2015, S. 185).
3. Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG stattzugeben.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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