Verwaltungsrecht

erfolgreicher Eilantrag bei defizitären Aufnahmebedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Griechenland

Aktenzeichen  M 17 E 20.32546

Datum:
17.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35947
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 71 Abs. 5 S. 1, S. 2
EMRK Art. 3, Art. 4
GRC Art. 4

 

Leitsatz

1. Da bei Ablehnung eines Folgeantrags die Mitteilung an die Ausländerbehörde, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1–3 VwVfG nicht vorliegen, kein Verwaltungsakt ist und somit in der Hauptsache nicht mit der Anfechtungsklage angefochten werden kann, ist vorläufiger Rechtsschutz nicht gem. § 80 Abs. 5 VwGO, sondern dergestalt zu gewähren, dass der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO aufgegeben wird, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung vorläufig nicht aufgrund einer nach Ablehnung des Folgeantrags ergangenen Mitteilung erfolgen darf bzw. eine solche Mitteilung zu widerrufen oder zu unterlassen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für anerkannte Schutzberechtigte in Griechenland ist eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK festzustellen; es ist davon auszugehen, dass die Aufnahmebedingungen für Schutzberechtigte gegenwärtig in einer Weise defizitär sind, die eine Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse nicht gewährleisten und einen Verbleib dort regelmäßig ausschließen werden. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO verpflichtet, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland bis zur Bestandskraft des Bescheids vom 10. September 2020 bzw. im Fall der Klageerhebung bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache vorläufig nicht vollzogen werden darf.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die Ablehnung seines Asylfolgeantrags als unzulässig und gegen den Vollzug der unanfechtbaren Abschiebungsandrohung des vorangegangenen Asylverfahrens.
Dem Antragsteller, jemenitischer Staatsangehöriger mit arabischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens, wurde am 21. September 2018 in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (Mitteilung der griechischen Behörden, Bl. 119 der Erstverfahrensakte des Bundesamtes). Am 22. Oktober 2018 reiste er aus Österreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 20. November 2018 im Bundesgebiet einen förmlichen Asylantrag. Mit Bescheid vom 8. Mai 2019 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2) und forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen; für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde die Abschiebung nach Griechenland oder einen anderen Staat, in den der Antragsteller einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht. Der Antragsteller dürfe nicht in den Jemen abgeschoben werden (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Nr. 5). Der Asylantrag des Antragstellers sei angesichts der Gewährung internationalen Schutzes in Griechenland unzulässig und werde daher materiell nicht geprüft. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Klage des Antragstellers wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 11. November 2019, rechtskräftig seit dem 17. Dezember 2019, abgewiesen.
Am 9. September 2020 stellte der Antragsteller aus der Abschiebehaft heraus durch seinen Bevollmächtigten beim Bundesamt ein „Asylfolgeschutzgesuch“ (Asylfolgeantrag). Zugunsten des Antragstellers seien im Hinblick auf Griechenland Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 10. September 2019, eingegangen am gleichen Tag, beantragte der Antragsteller beim Verwaltungsgericht München,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, es dem Landesamt für Asyl und Rückführungen vorläufig zu untersagen, den Antragsteller nach Griechenland zurückzuschieben bzw. hilfsweise eine bereits erfolgte Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG gegenüber dem Landesamt für Asyl und Rückführungen vorläufig zu widerrufen oder höchst hilfsweise – falls eine solche Mitteilung noch nicht erfolgt ist – es vorläufig zu unterlassen, gegenüber dem Landesamt für Asyl und Rückführungen eine Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG vorzunehmen.
Das Landesamt für Asyl und Rückführungen habe am 14. Juli 2020 die Genehmigung zur Luftabschiebung nach Griechenland erteilt. Nachdem ein erster Abschiebeversuch aufgrund Widerstands des Antragstellers gescheitert sei, habe das Amtsgericht Passau auf Antrag der Regierung von Niederbayern mit Beschluss vom 12. August 2018 Abschiebehaft bis zum 23. September 2020 angeordnet. Die griechische Regierung habe am 13. Juli 2020 mehr als 11.000 schutzberechtigte Person aufgefordert, staatlich finanzierte Unterkünfte zu verlassen, mehrere hundert Flüchtlinge würden bereits auf öffentlichen Plätzen in Athen kampieren. Es sei daher davon auszugehen, dass der Antragsteller nach einer Überstellung nach Griechenland dort über einen längeren Zeitraum keinen effektiv gesicherten Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen habe. Dem Antragsteller drohe in Griechenland eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK.
Mit Bescheid vom 10. September 2020 lehnte das Bundesamt den Folgeantrag des Antragstellers als unzulässig (Nr. 1) und den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 8. Mai 2019 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ab (Nr. 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Folgeantrag sei unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG, weil die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (§ 71 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG) mangels Änderung der Sachlage nicht vorlägen. Auch die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) seien nicht erfüllt. Die Verhältnisse für Schutzberechtigte in Griechenland ließen kein Abschiebungsverbot erkennen. Auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 11. November 2019 werde Bezug genommen. Der vom Bevollmächtigten des Antragstellers in Bezug genommenen Bericht, wonach bis zu 11.000 schutzbedürftige Flüchtlinge durch die griechische Regierung zum Verlassen der staatlichen Unterkünfte aufgefordert worden seien, betreffe nur vulnerable Schutzberechtigte. Zu dieser Personengruppe gehöre der Antragsteller jedoch nicht. Auch aus der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie ergebe sich keine relevante Änderung der Sachlage.
Die Antragsgegnerin übersandte die Behördenakten, stellt jedoch kein Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
1. Er ist zulässig.
a) Der Antrag, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von einer Mitteilung an die Ausländerbehörde nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG abzusehen bzw. eine solche zu widerrufen, ist statthaft.
Das Bundesamt hat den Folgeantrag abgelehnt, ohne eine weitere Abschiebungsandrohung zu erlassen (vgl. § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG). Mangels einer erneuten Abschiebungsandrohung bildet die im Bescheid vom 8. Mai 2019 enthaltene bestandskräftige Abschiebungsandrohung i.V.m. einer etwaigen Mitteilung an die Ausländerbehörde, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen, gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG die Grundlage für den Vollzug einer Abschiebung des Antragstellers. Da die Mitteilung an die Ausländerbehörde kein Verwaltungsakt ist und somit in der Hauptsache nicht mit der Anfechtungsklage angefochten werden kann, ist vorläufiger Rechtsschutz nicht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, sondern dergestalt zu gewähren, dass der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO aufgegeben wird, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung vorläufig nicht aufgrund einer nach Ablehnung des Folgeantrags ergangenen Mitteilung erfolgen darf bzw. eine solche Mitteilung zu widerrufen oder zu unterlassen (ganz h.M., vgl. etwa VG Augsburg, B.v. 3.4.2019 – Au 3 E 19.30435 – juris Rn. 12 ff.; VG Düsseldorf, B.v. 2.4.2019 – 29 L 257/19.A – juris Rn. 5 ff.; VG Würzburg, B.v. 6.2.2019 – W 10 S 19.30006 – juris Rn. 14 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, B.v. 14.1.2019 – 7 B 11544/18 – juris Rn. 4; ausführlich VG Berlin, B.v. 21.11.2017 – 32 L 670.17 A – juris Rn. 15).
b) Eine in der Hauptsache noch zu erhebende Klage gegen den Bescheid vom 10. September 2020 ist noch möglich, da die zweiwöchige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG derzeit noch nicht abgelaufen ist. Eine Verkürzung der Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V.m. § 71 Abs. 4 und § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG auf eine Woche tritt nicht ein, weil das Bundesamt nicht nach § 71 Abs. 4 AsylG vorgegangen ist.
2. Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn der Antragsteller glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung – ZPO), dass ihm der geltend gemachte Anspruch zusteht (Anordnungsanspruch) und dieser Anspruch in einer Weise gefährdet ist, dass er durch eine gerichtliche Entscheidung gesichert werden muss (Anordnungsgrund). Ein Anordnungsanspruch erfordert dabei die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg oder zumindest auf einen Teilerfolg des geltend gemachten Begehrens in einem (etwaigen) Hauptsacheverfahren. Maßgeblicher Zeitpunkt für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung ist dabei die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG).
a) Ein Anordnungsgrund ist gegeben, weil der Antragsteller wegen der vollziehbaren Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 8. Mai 2019 und der Ablehnung seines Folgeantrags jederzeit mit seiner Abschiebung nach Griechenland rechnen muss. Zwar hat das Bundesamt im Bescheid vom 8. Mai 2019 in Nr. 5 des Tenors die Vollziehung der Abschiebungsandrohung ausgesetzt. Aus der Begründung des Bescheids geht jedoch hervor, dass die Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung wiederaufleben soll, sobald die Entscheidung des Bundesamts über den Asyl(erst)antrag unanfechtbar wird. Dies ist mit Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 11. November 2019 geschehen. Auch der Umstand, dass sich der Antragsteller derzeit in Abschiebehaft befindet und bereits ein Versuch einer Abschiebung nach Griechenland vorgenommen wurde, zeigt, dass das Bundesamt selbst die Abschiebungsandrohung für vollziehbar hält.
b) Der Antragsteller hat zwar keine Umstände glaubhaft gemacht, aus denen sich im Hinblick auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ein Anordnungsanspruch ergibt. Insbesondere hat der Antragsteller eine nachträgliche Veränderung der Sach- und Rechtslage zu seinen Gunsten insoweit nicht vorgetragen. Der Antragsteller kann auf Grund des in Griechenland gewährten internationalen Schutzes in Deutschland keine weitere Schutzgewährung verlangen. Sein erneuter Asylantrag wäre gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wiederum als unzulässig abzulehnen. Dem ist weder der Antragsteller noch sein Bevollmächtigter entgegengetreten.
c) Der Antragsteller hat jedoch Umstände glaubhaft gemacht, die einen Anordnungsanspruch im Hinblick auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK in Bezug auf Griechenland begründen.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können sich auch die – staatlich verantworteten – allgemeinen Lebensverhältnisse als eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt dabei allerdings ein Mindestmaß an Schwere voraus, für das das Bestehen einiger Mängel nicht reicht (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – Mohammed Hussein/Italien und Niederlande, Nr. 27725.10 – ZAR 2013, S. 336). Diese Norm verpflichtet nicht, jede Person innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs mit einem Obdach zu versorgen oder sie finanziell zu unterstützen, um ihr einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – a.a.O.). Auch gewährt sie von einer Überstellung betroffenen Ausländern grundsätzlich keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Allein die Tatsache, dass die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse bei einer Überstellung bedeutend geschmälert würden, begründet grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Vorschrift. Die Verantwortlichkeit eines Staates ist jedoch dann begründet, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und – trotz ausdrücklich im nationalen Recht verankerter Rechte – behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u.a. – juris Rn. 88 ff.; vgl. zum Vorstehenden auch VG Berlin, B.v. 22.12.2017 – 23 L 896.17 A – juris Rn. 9).
Hierzu stellte der Europäische Gerichtshof mit Urteilen vom 19. März 2019 (Az. C-297/17 und C-163/17) ergänzend fest, dass zwar grundsätzlich im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Vermutung gelten müsse, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht. Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr bestehe, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. In diesem Kontext sei in Anbetracht des allgemeinen und absoluten Charakters des Verbots in Art. 4 der EU-Grundrechte-Charta, das eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden sei und ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbiete, festzustellen, dass es für die Anwendung von Art. 4 der Charta gleichgültig ist, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine solche Behandlung zu erfahren. Daher sei das Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein neuer Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt wurde, in dem Fall, dass es über Angaben verfüge, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem bereits subsidiären Schutz gewährenden Mitgliedstaat nachzuweisen, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Insoweit sei festzustellen, dass die genannten Schwachstellen nur dann unter Art. 4 der Charta, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, fallen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit sei dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.03.2019 – C-297/17 – juris, Rn. 85 ff. und U.v. 19.03.2019 – C-163/17 – juris, Rn. 82 ff.).
Gemessen an diesem Maßstab ist für anerkannte Schutzberechtigte in Griechenland eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK festzustellen. Es ist entgegen der Einschätzung des Bundesamtes davon auszugehen, dass die Aufnahmebedingungen für Schutzberechtigte gegenwärtig in einer Weise defizitär sind, die eine Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse nicht gewährleisten und einen Verbleib dort regelmäßig ausschließen werden (vgl. hierzu auch VG Berlin, B.v. 7.3.2019 – 23 L 57.19 A – n.v.; VG Berlin v. 8.20.2018 – 23 L 598.18 A – juris; VG Bremen, B.v. 28.5.2018 – 5 V 837/18 – n.v.; VG Aachen, B.v. 3.7.2017 – 4 L 782.17.A – juris; VG Trier, B.v. 13.12.2017 – 7 L 14132/17.TR – juris; VG Stuttgart B.v. 9.2.2017 – 4 L 782.17 A – juris; a.A. VG München, B.v. 17.12.2018, M 4 S 18.34491; VG Berlin, B.v. 6.12.2018 – 9 L 703.18 A). Wie sich den vorliegenden Erkenntnismitteln entnehmen lässt, die auf die Situation anerkannter Schutzberechtigter in Griechenland eingehen, stellen sich deren Lebensbedingungen, wenn sie nicht über ausreichend eigene Mittel verfügen, durchgehend mehr als prekär dar. Zwar hat das griechischen Migrationsministeriums in einem Schreiben vom 8. Januar 2018 an das Innenministerium ausgeführt, dass die europarechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Behandlung international Schutzberechtigter nunmehr im griechischen Recht Niederschlag gefunden haben und diese Personengruppe die gleichen Rechte wie die einheimische Bevölkerung hat, doch ist angesichts der schlechten wirtschaftlichen und staatlich-administrativen Situation des Landes nicht davon auszugehen, dass diese auf dem Papier bestehenden Rechte den Schutzberechtigten auch praktisch und effektiv zur Verfügung stehen. Die Situation anerkannter Schutzberechtigter stellt sich trotz jüngst erzielter einzelner Verbesserungen derzeit weiterhin als unzureichend dar: Anerkannte Schutzberechtigte sind in der Vielzahl von Arbeits- und Wohnungslosigkeit betroffen. Sie leben ohne jegliche staatliche Unterstützung unter prekären Bedingungen. Die Befriedigung elementarer Bedürfnisse (Wohnraum, Zugang zu Nahrungsmitteln, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung) ist nicht gewährleistet.
NGOs bezeichnen die Lebensbedingungen für Menschen mit internationalem Schutzstatus in Griechenland als alarmierend. Schutzberechtigte sehen sich nicht nur mit fehlenden Möglichkeiten zur Integration in die griechische Gesellschaft konfrontiert, sondern auch oft mit unzulänglichen Lebensumständen und humanitären Standards, einer äußerst prekären sozioökonomischen Situation und kämpfen oft um ihr bloßes Überleben. Es bestehen weiterhin flächendeckende Defizite bezogen auf die Aufnahme, Versorgung und Integration von Schutzberechtigten. In der Praxis besteht für Flüchtlinge immer noch kein gesicherter Zugang zu Unterbringung, Lebensmittelversorgung, medizinischer und psychologischer Behandlung oder zum Arbeitsmarkt. So sind auf dem Festland bekannt, in denen anerkannte Flüchtlinge inoffiziell für einige Monate weiter in den Unterbringungszentren bleiben durften und Bargeld erhielten wie Asylbewerber. Jedoch wurden für sie keine weiteren Integrationsmaßnahmen ergriffen. Sie erhielten keinen Zugang zu entsprechenden Informationen oder Unterstützung bei der Integration. Besondere staatliche Hilfsangebote für anerkannte Schutzberechtigte neben dem allgemeinen staatlichen Sozialsystem bestehen nicht. Konzepte für eine speziell zugeschnittene Information durch öffentliche Behörden sowie Zugangserleichterungen zu staatlichen Leistungen für anerkannte Schutzberechtigte befinden sich lediglich im Aufbau (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, zuletzt aktualisiert am 19. März 2020, Seite 27 f.).
Gemäß Gesetz haben Flüchtlinge in Griechenland zwar dieselben sozialen Rechte wie griechische Staatsbürger, aber bürokratische Hürden, staatliche Handlungsdefizite, mangelnde Umsetzung des Gesetzes und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise können den Genuss dieser Rechte schmälern. Das neue System der sozialen Grundsicherung vom Februar 2017 befindet sich noch im Aufbau und wird schrittweise eingeführt. Die überwiegende Mehrheit der anerkannten Schutzberechtigten bezieht bisher keine soziale Grundsicherung. Einige NGOs bieten punktuell Programme zur Unterstützung bei der Beantragung von Sozialleistungen an. Erster Anlaufpunkt ist die HELP-Webseite des UNHCR. Es beraten z.B. der Arbeiter-Samariter-Bund, die Diakonie und der Greek Refugee Council. Im Juli 2019 gab es 72.290 Bezieher der EU-finanzierten Geldleistungen im Rahmen sogenannter Cash-Card Programm des UNHCR, darunter 13.800 anerkannte Schutzberechtigte. Es besteht kein Anspruch auf Teilnahme an dem Cash-Card-Programm, es handelt sich nicht um einen Sozialhilfeanspruch, sondern um humanitäre Hilfe. Der Bezugszeitraum endet grundsätzlich nach Anerkennung bzw. nach einer Übergangsfrist von 6 bis 12 Monaten. In der Praxis wurden bisher keine Asylwerber nach ihrem Statuswechsel von dem Bezug ausgeschlossen. Für bereits anerkannte Schutzberechtigte – wie den Antragsteller – ist ein Neueintritt in das Cash-Card-Programm allerdings nicht möglich (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, zuletzt aktualisiert am 19. März 2020, Seite 28 f.).
Anerkannte Schutzberechtigte haben seit 2013 Zugang zu Unterbringung unter den gleichen Bedingungen wie Drittstaatsangehörige, die sich legal in Griechenland aufhalten. Eine staatliche Sozialleistung zur Wohnungsunterstützung besteht derzeit auch für die griechische Bevölkerung noch nicht. In der Praxis wird Schutzberechtigten, die als Asylwerber in einem Flüchtlingslager oder in einer Wohnung des UNHCR-Unterbringungsprogramms (ESTIA) untergebracht waren, gestattet, nach ihrer Anerkennung für weitere 6 Monate in der gleichen Unterkunft zu bleiben. Wohnraum wäre grundsätzlich auf dem freien Wohnungsmarkt zu beschaffen. Das private Anmieten von Wohnraum für bzw. durch anerkannte Schutzberechtigte wird durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, Bekannte und Studenten, sowie gelegentlich durch Vorurteile erschwert. Personen, die keine Unterkunft haben und nicht das Geld besitzen, eine zu mieten, leben oft in überfüllten Wohnungen, verlassenen Häusern ohne Zugang zu Strom oder Wasser oder werden obdachlos. Schutzberechtigte haben Zugang zu Unterbringungseinrichtungen für Obdachlose, die jedoch nur begrenzt vorhanden sind. Eigene Unterbringungsplätze für anerkannte Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte existieren nicht. Es gibt auch keine eigene Unterstützung für ihre Lebenshaltungskosten. In Athen etwa gibt es vier Asyle für Obdachlose (zugänglich für griechische Staatsbürger und legal aufhältige Drittstaatsangehörige). Aber es ist äußerst schwierig, dort zugelassen zu werden, da sie chronisch überfüllt sind und Wartelisten führen. Die Aufnahme ins ESTIA-Programm ist nur für diejenigen anerkannten Schutzberechtigten möglich, welche die Kriterien der Vulnerabilität erfüllen und bereits als Asylwerber an dem Programm teilgenommen haben. Im Rahmen des Programms werden hauptsächlich Familien untergebracht. Prioritäre Kriterien sind das Vorliegen einer medizinischen Indikation, bevorstehende Geburt oder Neugeborene, alleinerziehende Mütter sowie Unterbringung der vulnerablen Personen von den Erstaufnahmeeinrichtungen auf den ostägäischen Inseln, welche jedoch sämtlich auf den Antragsteller nicht zutreffen. Im Rahmen des ESTIA-Programms waren im März 2019 6.790 anerkannte Schutzberechtigte untergebracht. Die Auslastungsquote lag Ende August 2019 mit 21.622 Einwohnern (Asylwerber und anerkannte Schutzberechtigte) bei 98,2 % der Kapazitäten (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, zuletzt aktualisiert am 19. März 2020, Seite 30).
Ein Zugang zum Arbeitsmarkt steht rechtlich dauerhaft und legal im Land lebenden Personen zu, damit grundsätzlich auch Schutzberechtigten. Die Chancen zur Vermittlung eines Arbeitsplatzes sind jedoch gering. Die staatliche Arbeitsagentur OAED hat bereits für Griechen kaum Ressourcen für die aktive Arbeitsvermittlung (Betreuungsschlüssel: 1 Mitarbeiter für über 1.000 Arbeitslose) und noch kein Programm zur Arbeitsintegration von Flüchtlingen aufgelegt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, zuletzt aktualisiert am 19. März 2020, Seite 31).
Anerkannte Schutzberechtigte haben durch Gesetz vom 20. Februar 2016, umgesetzt seit Ende 2016, einen gesetzlichen Anspruch auf unentgeltliche medizinische Behandlung (auch in Krankenhäusern) und sind in die staatliche Krankenversicherung mit einbezogen. Das Gesundheitssystem erfüllt diesen Anspruch auch in der Praxis, insbesondere im Rahmen der Notfallversorgung. Trotz des günstigen Rechtsrahmens wird der tatsächliche Zugang zu medizinischer Versorgung in der Praxis durch einen erheblichen Ressourcen- und Kapazitätsmangel sowohl für Fremde als auch für die einheimische Bevölkerung erschwert. Der von verschiedenen Sparmaßnahmen stark betroffene öffentliche Gesundheitssektor steht unter enormem Druck und ist nicht in der Lage, den gesamten Bedarf an Gesundheitsleistungen weder für die einheimische Bevölkerung noch für Migranten zu decken (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, zuletzt aktualisiert am 19. März 2020, Seite 31).
Diese alle Lebensbereiche erfassenden Defizite (Wohnung, Unterhalt, Zugang zum Arbeitsmarkt, angemessene Gesundheitsversorgung) sind als so erheblich zu werten, dass sie die Annahme rechtfertigen, dass Schutzberechtigte sich – unabhängig davon, ob sie (wie hier nicht) einer besonders vulnerable Personengruppe angehören – regelmäßig außerstande sehen werden, ihre existentiellen Bedürfnisse zu befriedigen und dauerhaft in Griechenland zu verbleiben. Da besondere Umstände, die vorliegend eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich sind, muss davon ausgegangen werden, dass eine Abschiebung des Antragstellers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK führen würde und dem Antragsteller somit in Abänderung der Bescheide vom 8. Mai 2019 – zumindest nunmehr – ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuzuerkennen ist.
Zur Sicherung des nach dem oben Gesagten voraussichtlich erfolgreich einklagbaren Anspruchs des Antragstellers auf Feststellung von Abschiebungsverboten hat die Antragsgegnerin durch geeignete Mitteilung an die Ausländerbehörde dafür zu sorgen, dass seine Abschiebung bis zur Bestandskraft des Bescheids vom 10. September 2020 bzw. im Fall der Klageerhebung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache nicht vollzogen wird.
Als unterlegene Partei hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO). Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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