Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Eilantrag eines ivorischen Asylbewerbers wegen offensichtlich unbegründeter Asylablehnung

Aktenzeichen  W 2 S 18.32013

Datum:
26.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 33432
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 36 Abs. 3, § 75 Abs. 1
GRC Art. 18, Art. 19 Abs. 2, Art. 47
AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

Die Frage, welche Auswirkungen das Urteil des EUGH in der Rechtssache C 181/16 (BeckRS 2018, 11637 – Gnandi) für den im AsylG in bestimmten Fällen gesetzlich angeordneten Sofortvollzug hat, sprengt den Rahmen der im Eilverfahren alleine möglichen summarischen Prüfung und führt zu einem Überwiegen des privaten Aufschubinteresses. (Rn. 11 – 12) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage W 2 K 18.32012 gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts für … vom 21. September 2018 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der zur Person nicht ausgewiesene Antragsteller, nach eigenen Angaben ein am … … 1987 in Ano S/P Agboville/Elfenbeinküste geborener, konfessionsloser ivorischer Staatsangehöriger vom Volk der Akan, reiste am 6. September 2018 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte am 1. September 2018 einen Asylantrag.
Bei Anhörungen vor dem Bundesamt für … (Bundesamt) am 19. September 2018 gab der Antragsteller im Wesentlichen an, er habe die Elfenbeinküste am 4. Dezember 2011 verlassen. Er habe auf einer Baustelle gewohnt und habe dafür nichts bezahlen müssen. Er habe zehn Brüder im Altern zwischen 17 und 37 Jahren, sowie vier Schwestern. Ein Bruder sei Polizist. Die anderen arbeiteten als Taxisfahrer und auf Baustellen. Er habe noch Kontakt zu dem Bruder, der Polizist sei. Die anderen Geschwister seien immer mit ihrer Mutter zusammen gewesen. Seine Mutter hingegen habe ihn verlassen. Er habe nicht die Möglichkeit bekommen, weiterhin zur Schule zu gehen. Er selbst habe die Schule bis zur sechsten Klasse besucht und diese auch abgeschlossen. Er habe keinen Beruf erlernt, sondern als Aushilfe auf Baustellen gearbeitet. Wenn er Arbeit gehabt habe, habe er 2.000 CFA-France pro Tag verdient. Er habe jedoch keine feste Arbeit gehabt. Seine Eltern seien geschieden. Er habe sich keine Wohnung leisten können, sondern nur auf einer Baustelle gelebt. Er habe keine Unterstützung von seinen Eltern erhalten. Er habe keine Schlafmöglichkeit gehabt und kein Geld, von dem er habe Leben können. Er sei nach Deutschland gekommen, um eine Arbeit zu finden. In der Elfenbeinküste müsse man entweder Geld bezahlen, um eine Arbeit zu bekommen, oder jemanden kennen, der einem eine Arbeit vermittelt. Er könne nicht in die Elfenbeinküste zurückkehren, weil er dort keine Arbeit und keine Wohnung habe.
Mit Bescheid vom 21. September 2018, dem Antragsteller persönlich ausgehändigt am 24. September 2018, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, den Antrag auf Asylanerkennung und den Antrag auf subsidiären Schutz jeweils als offensichtlich unbegründet ab (Ziffer 1 bis 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4), forderte den Antragsteller unter Androhung der Abschiebung in die Elfenbeinküste zur Ausreise auf (Ziffer 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Begründung des Bescheides Bezug genommen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller am 26. September 2018 Klage (W 2 K 18.32012) und beantragte zugleich:
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
Zur Begründung werde auf die Anhörung beim Bundesamt verwiesen. Der Kläger wolle in Deutschland arbeiten und seine Gründe in der mündlichen Verhandlung vorbringen.
Die Antragsgegnerin stellte im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bislang keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten in Sofort- und Hauptsache Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig. Er ist gemäß §§ 75 Abs. 1, 36 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, soweit sich die Klage gegen die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 5 des angefochtenen Bescheides richtet. Er wurde gemäß § 36 Abs. 3 AsylG auch fristgerecht erhoben.
Der Antrag ist begründet. Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Abschiebungsanordnung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem nach § 75 Abs. 1 AsylG gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug der Abschiebungsanordnung überwiegt. Hierbei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Klageverfahrens zu berücksichtigen, soweit diese sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits abschätzen lassen. Nach diesem Maßstab überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernsthafte Zweifel an der Vereinbarkeit der gemäß §§ 75 Abs. 1, 36 Abs. 3 AsylG automatischen sofortigen Vollziehbarkeit von Abschiebungsandrohungen bei Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet mit höherrangigem europäischem Recht.
Der EuGH hat mit Urteil vom 19. Juni 2018 in der Rechtssache C 181/16 (Gnandi) für Recht erkannt (Abl. C 285 v. 13. August 2019, S. 4-5):
„Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und im Licht des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, die in den Art. 18, 19 Abs. 2 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind, ist dahin auszulegen, dass sie dem nicht entgegensteht, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz beantragt hat, nach der Ablehnung dieses Antrags durch die zuständige Behörde oder zusammen mit der Ablehnung in einer einzigen behördlichen Entscheidung und somit vor der Entscheidung über den gegen diese Ablehnung eingelegten Rechtsbehelf eine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 erlassen wird, sofern u. a. der betreffende Mitgliedstaat gewährleistet, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf ausgesetzt werden, dass der Antragsteller während dieses Zeitraums in den Genuss der Rechte aus der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten kommen kann und dass er eine nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände geltend machen kann, die im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115, insbesondere ihren Art. 5, erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts.“
Die Frage, welche Auswirkungen diese Rechtsprechung für die Rechtmäßigkeit bzw. Auslegungs- und Anwendungspraxis des in §§ 75 Abs. 1, 36 Abs. 3 AsylG gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges der Abschiebungsandrohung (dazu: Hruschka, Asylmagazin 9/2018, S. 290 ff) haben, sprengt den Rahmen der in einem Eilverfahren alleine möglichen summarischen Prüfung der Rechtslage und führt – im Lichte der vom EuGH herangezogenen Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – zu einem Überwiegen des privaten Bleibeinteresses des Antragstellers.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung war mithin anzuordnen.
Dem Antrag war mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.


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