Verwaltungsrecht

Ernstlicher Zweifel am Offensichtlichkeitsausspruch

Aktenzeichen  M 16 S 16.31580, M 16 S 16.31654

Datum:
25.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 30 Abs. 1, § 36 Abs. 3 S. 1
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
GG GG Art. 16a

 

Leitsatz

Im Rahmen des Offensichtlichkeitsausspruchs nach § 30 Abs. 1 AsylG ist ebenfalls ein Anspruch gemäß § 26 AsylG zu prüfen, der Asylantrag, von der Gewährung internationalen Schutzes für stammberechtigte Familienangehörige, profitieren könnte. Eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet ist in solchen Fällen erst möglich, nachdem das Bundesamt den Asylantrag des Stammberechtigten überprüft und als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Verfahren M 16 S 16.31580 und M 16 S 16.31654 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
II.
Die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen die jeweilige Nr. 5 der Bescheide des Bundesamts für … vom 21. Juni 2016 und 4. Juli 2016 wird angeordnet.
III.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragstellerin zu 1 ist russische Staatsangehörige. Sie ist die Mutter der Antragstellerinnen zu 2 und 3. Gemeinsam mit dem syrischen Ehemann bzw. Vater und dem Sohn bzw. Bruder reisten die Antragstellerinnen im Januar 2016 in das Bundesgebiet ein und stellten am 12. April 2016 Asylanträge.
Am 17. Juni 2016 wurden die Antragstellerin zu 1 und ihr Ehemann vom Bundesamt für … (Bundesamt) angehört.
Mit Bescheid vom 21. Juni 2016, zugestellt am 24. Juni 2016, lehnte das Bundesamt den Antrag der Antragstellerin zu 1 auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie den Antrag auf Asylanerkennung als offensichtlich unbegründet ab (Nrn. 1 und 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3) und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG. Die Antragstellerin zu 1 wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung in die Russische Föderation oder in einen anderen aufnahmebereiten oder zur Rückübernahme verpflichteten Staat angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Antragstellerin zu 1 drohe in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitze, weder Verfolgung noch ein ernsthafter Schaden. Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht gegeben. Das von Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK geschützte Recht auf Wahrung des Familienlebens sei bei einer beabsichtigten Abschiebung (nur) eines Teils der Familienmitglieder allerdings als mögliches inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis von der für den Vollzug der Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde zu berücksichtigen, wobei Art. 8 EMRK nicht über den ohnehin zu beachtenden Schutz von Art. 6 Grundgesetz – GG hinausgehe. Als Ausnahme hiervon könne ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis vorliegen, wenn Familienmitglieder, z. B. Eheleute oder ein Elternteil und ein Kind mit verschiedenen ausländischen Staatsbürgerschaften, in zwei verschiedene Länder abgeschoben werden sollen, und eine Familienzusammenführung unzumutbar erschwert sei. In diesem Fall würde sich der Verstoß gegen Art. 8 EMRK erst in den Zielstaaten der Abschiebung konkretisieren. Dies sei jedoch vorliegend nicht gegeben. Der syrische Ehemann der Antragstellerin zu 1 verfüge über eine Aufenthaltsgenehmigung in der Russischen Föderation. Der am 21. Januar 2004 geborene Sohn sei zwar auch syrischer Staatsangehöriger. Für ihn bestehe aber die Möglichkeit des vereinfachten Erwerbs der russischen Staatsangehörigkeit, soweit dies noch nicht erfolgt sei. Die Antragstellerinnen zu 2 und 3 seien russische Staatsangehörige.
Mit Bescheid vom 4. Juli 2016, zugestellt am 6. Juli 2016, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die Anträge auf Asylanerkennung der Antragstellerinnen zu 2 und 3 als offensichtlich unbegründet ab (Nrn. 1 und 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3) und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG (Nr. 4). Die Antragstellerinnen zu 2 und 3 wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung in die Russische Föderation oder in einen anderen aufnahmebereiten oder zur Rückübernahme verpflichteten Staat angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Die Antragstellerinnen zu 2 und 3 seien neben der angegebenen syrischen auch im Besitz der russischen Staatsangehörigkeit. Diese werde von einem Kind erworben, wenn nur ein Elternteil die russische Staatsangehörigkeit besitze und das Kind in Russland geboren sei. Das sei bei den Antragstellerinnen zu 2 und 3 der Fall. Eine Verfolgung durch die Russische Föderation sei nicht ersichtlich, ihnen drohe bei Rückkehr dorthin auch kein ernsthafter Schaden. Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht gegeben.
Am 1. Juli 2016 erhob der Bevollmächtigte der Antragstellerinnen Klage gegen den Bescheid vom 21. Juni 2016 (M 16 K 16.31579) und am 8. Juli 2016 Klage gegen den Bescheid vom 4. Juli 2016 (M 16 K 16.31652) und beantragte jeweils gleichzeitig,
die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen die jeweiligen Abschiebungsandrohungen anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Antragstellerin zu 1 habe zusammen mit ihrem syrischen Ehemann, ihrem Sohn und ihren Töchtern in Syrien gelebt. Der Ehemann sei Arzt und habe dort als Chirurg gearbeitet. Wegen des Bürgerkriegs und massiver individueller Gefährdung durch Bürgerkriegshandlungen sei die Familie nach Deutschland geflüchtet. Die Familienmitglieder hätten gemeinsam Asyl beantragt; über den Asylantrag des Ehemannes bzw. Vaters sei noch nicht entschieden. Es sei davon auszugehen, dass dieser Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise zumindest auf subsidiären Schutz habe. Vor Verbescheidung des Asylantrags des Ehemannes bzw. des Vaters hätte das Bundesamt nicht den Antrag der Ehefrau und der Töchter als offensichtlich unbegründet ablehnen und ihnen die Abschiebung androhen dürfen. Die Antragstellerinnen hätten Anspruch auf Familienasyl und internationalen Schutz für Familienangehörige. Die vom Bundesamt in Bezug genommene Aufenthaltsgenehmigung des Ehemannes der Antragstellerin zu 1 in der Russischen Föderation sei erloschen. Es drohe daher die Trennung der Familie.
Das Bundesamt hat die Behördenakten vorgelegt, ein Antrag wurde nicht gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten der vorliegenden Verfahren, der Verfahren M 16 K 16.31579 und M 16 K 16.31652 sowie auf den Inhalt der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die Verbindung der Verfahren beruht auf § 93 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO.
Die fristgerecht (§ 36 Abs. 3 Satz 1 Asylgesetz – AsylG) erhobenen Anträge sind zulässig und begründet.
Gemäß Art. 16a GG, § 36 Abs. 4 AsylG kann das Verwaltungsgericht auf Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die Aussetzung der Abschiebung anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Im Rahmen der Entscheidung über einen solchen Antrag ist im Hinblick auf den durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen effektiven Rechtsschutz auch zu prüfen, ob das Bundesamt zu Recht davon ausgegangen ist, dass der geltend gemachte Anspruch auf Asylanerkennung bzw. auf Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht besteht – wobei eine nur summarische Prüfung nicht ausreicht – und ob diese Ablehnung weiterhin Bestand haben kann (BVerfG, B.v. 2.5.1984 – 2 BvR 1413/83 – juris). Offensichtlich unbegründet ist ein Asylantrag dann, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen (§ 30 Abs. 1 AsylG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegen ernstliche Zweifel i. S.v. Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris).
Die vorliegenden Anträge sind begründet, da ernstliche Zweifel am Offensichtlichkeitsurteil und an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide im Übrigen bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Zwar hat das Gericht keine durchgreifenden Bedenken gegen den Offensichtlichkeitsausspruch bezogen auf individuelle eigene Verfolgungsgründe der Antragsstellerinnen. Auf die betreffenden zutreffenden Ausführungen in den streitgegenständlichen Bundesamtsbescheiden wird insoweit Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Allerdings setzt der Offensichtlichkeitsausspruch nach § 30 Abs. 1 AsylG ebenfalls voraus, dass auch ein Anspruch gemäß § 26 AsylG offensichtlich nicht in Betracht kommt. Soweit die Möglichkeit der Anerkennung als Asylberechtigter bzw. der Gewährung internationalen Schutzes für stammberechtigte Familienangehörige besteht, kann der Asylantrag eines möglicherweise davon profitierenden Familienangehörigen nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden. Eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet ist in diesen Fällen erst möglich, nachdem das Bundesamt den Asylantrag des Stammberechtigten überprüft und als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat. Entscheidet das Bundesamt über den Asylantrag in der qualifizierten Form nach § 30 Abs. 1 AsylG bevor eine unanfechtbare negative Entscheidung über des Begehren der Stammberechtigten getroffen ist bzw. bevor eine qualifizierte Ablehnung als offensichtlich unbegründet auch gegenüber dem Stammberechtigten gefallen ist, ist eine Entscheidung im Sinne von § 30 AsylG allein deshalb rechtswidrig (vgl. VG Würzburg, B.v. 20.2.2015 – W 6 S 15.30048 – juris, Rn. 15 m. w. N.; VG München, B.v. 15.6.2015 – M 23 S 15.30614 – juris).
Mangels entgegenstehenden Vortrags des Bundesamts ist hier davon auszugehen, dass über den Antrag des syrischen Ehemanns bzw. Vaters der Antragstellerinnen bislang nicht entschieden wurde. Da auch nicht offensichtlich auszuschließen ist, dass diesem Flüchtlingsschutz oder ein subsidiärer Schutzstatus zuerkannt wird, ist derzeit von der Rechtswidrigkeit der hier streitgegenständlichen Bescheide auszugehen.
Den Anträgen war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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