Verwaltungsrecht

Existenzgrundlage und Prognoseaussichten in Afghanistan

Aktenzeichen  M 17 K 17.32941

Datum:
4.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. Februar 2017 in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 5/6, die Beklagte 1/6.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 3. Juli 2017 trotz Ausbleibens der Beklagtenseite entschieden werden. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Soweit die Klage zurückgenommen wurde (Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus), war das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet, da die Beklagte verpflichtet ist, festzustellen dass hinsichtlich Afghanistans die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO).
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017, 3 A 140/16 – juris Rn. 53 m.w.N.). Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen.
2. Zwar sind arbeitsfähige, gesunde junge Männer auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, so dass für alleinstehende männliche Staatsangehörige grundsätzlich keine extreme Gefahrenlage besteht (BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 12; B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris Rn. 5; B.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30929 – juris Rn. 2; B.v. 22.12.2016 – 13a ZB 16.30684 – juris Rn. 7; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 17; VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 60).
Hier liegen jedoch besondere Umstände vor, aufgrund derer nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich der Kläger in Afghanistan eine Existenzgrundlage schaffen kann:
2.1 Laut den Attesten vom … Juni 2017, … April 2016, … Februar 2016 und … Januar 2016 liegen beim Kläger eine anamnestisch geistige Retardierung, eine (fokale) Epilepsie mit Krampfanfällen und organische affektive Störungen vor. Es sei insbesondere eine Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten und des Denkvermögens gegeben. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung berichtet, dass er drei- bis viermal im Monat einen Krampfanfall habe und ohnmächtig werde. Gegen die Epilepsie nehme er Valproat retard und Levetiracetam.
2.2 Es ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger bei diesem Krankheitsbild in Afghanistan eine Arbeitsstelle finden wird, die ihm die Sicherung des Existenzminimums ermöglichen könnte. Selbst wenn sich seine Schwester und seine Tante noch in Afghanistan aufhalten sollten, ist nicht ersichtlich, dass diese den Kläger in ausreichender Weise finanziell und betreuerisch unterstützen könnten. Dies gilt umso mehr, als der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert hat, dass die Schwester und die Tante mit seiner Krankheit nicht umgehen könnten, sondern vielmehr in Panik geraten seien, als sie einen Anfall miterlebt hätten, und Angst vor dem Zustand des Klägers hätten.
In Gesamtbetrachtung all dieser Umstände ist daher hier ausnahmsweise von einer extremen Gefahrenlage für den Kläger in Afghanistan auszugehen, sodass gegenwärtig eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK in Verbindung mit § 60 Abs. 5 AufenthG zu bejahen ist.
Ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.).
Nach alledem war der Klage daher hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben (Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids). Dementsprechend waren auch die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 5 und 6 des Bescheids; vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris); Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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