Verwaltungsrecht

Extreme Gefahrenlage nach Art. 3 EMRK in Verbindung mit § 60 Abs. 5 AufenthG in Afghanistan aufgrund beesonderer Umstände

Aktenzeichen  M 17 K 17.31283

Datum:
1.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 74 Abs. 2 S. 1
VwGO VwGO § 58 Abs. 2, § 60, § 113 Abs. 1 u. 5
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5 u. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Eine Gesamtbetrachtung aufgrund der nicht ausreichenden Behandlung psychischer Erkrankungen, dem Umstand, dass der Kläger noch nie in Afghanistan gelebt hat, sich bereits seit ca. vier Jahren in Deutschland aufhält und in Afghanistan keine Verwandten hat ist von einer extremen Gefahrenlage für den Kläger auszugehen, sodass gegenwärtig eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung iSv Art. 3 EMRK in Verbindung mit § 60 Abs. 5 AufenthG zu bejahen ist.(Rn. 50 – 53) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 23. Dezember 2016 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz hinsichtlich Afghanistan vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 3/4, die Beklagte 1/4.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 29. Mai 2017 trotz des Ausbleibens der Beklagten entschieden werden. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
I.
Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie nicht verfristet.
Der streitgegenständliche Bescheid wurde an die Gemeinschaftsunterkunft am 28. Dezember 2016 zugestellt, sodass die Klagefrist des § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG an sich mit Ablauf des 11. Januar 2017 endete. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die Rechtsbehelfsbelehrung:des Bescheides unrichtig war, sodass gemäß § 58 Abs. 2 VwGO die Jahresfrist gelten würde, mit der Folge, dass die Klage fristgerecht eingereicht worden wäre. Denn der Kläger hat glaubhaft gemacht, dass ihm der Bescheid in der Gemeinschaftsunterkunft erst am 11. Januar 2017 ausgehändigt wurde. Zwar hat sich auf dem Bescheid bzw. dem entsprechenden Umschlag der Eingangsstempel vom 28. Dezember 2016 befunden, vom rechtsunkundigen und mit der deutschen Sprache nicht vertrauten Kläger kann aber nicht verlangt werden, die Bedeutung dieses Stempels zu erkennen. Der Kläger hat daher die Klagefrist ohne Verschulden nicht eingehalten, sodass zumindest Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 60 VwGO) gewährt werden kann.
II.
Die Klage ist auch insoweit begründet, als die Beklagte verpflichtet ist, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, im Übrigen jedoch unbegründet, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 und 5 VwGO).
1. Ein Verfolgungs- oder Lebensschicksal, das die Zuerkennung einer Rechtsstellung als Flüchtling rechtfertigen würde, ist vorliegend aus dem Vortrag des Klägers nicht erkennbar.
Das Gericht folgt insoweit der zutreffenden Begründung der Beklagten im angegriffenen Bescheid, auf die verwiesen wird (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend wird Folgendes ausgeführt:
1.1 Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VG Ansbach, U.v. 28.4.2015 – AN 1 K 14.30761 – juris Rn. 65ff. m.V. auf: BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
1.2 Der Kläger hat hier geltend gemacht, dass die Taliban bzw. Feinde, die sich an der Familie rächen wollten, die Onkel, den Vater und den Bruder des Klägers umgebracht hätten sowie wiederholt bei den Nachbarn Erkundigungen nach der Familie eingeholt worden seien.
Abgesehen davon, dass der Vortrag des Klägers sehr oberflächlich und inhaltsarm war, begründet dies bereits mangels Anknüpfung an die dort genannten Merkmale keine Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG.
Im Übrigen spricht gegen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung des Klägers auch der Umstand, dass die Verwandten des Klägers bereits 2004 bzw. 2005 ermordet wurden, der Kläger nach eigenen Angaben aber erst 2010 ausgereist ist.
2. Die Beklagte hat auch zu Recht die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG abgelehnt.
2.1 Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:
1.die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit – insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit – abzustellen. Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für eine Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27.85 – juris).
2.2 Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Kläger in Afghanistan die Todesstrafe, Folter oder insbesondere unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Bestrafung droht:
a) Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen. Kriterien hierfür sind etwa die Art der Behandlung oder Bestrafung und der Zusammenhang, in dem sie erfolgt, die Art und Weise der Vollstreckung, ihre zeitliche Dauer, ihre physischen und geistigen Wirkungen sowie gegebenenfalls Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Abstrakt formuliert sind darunter Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. VGH BW, U.v. 6.3.2012 – A 11 S 3070/11 – juris Rn. 16; Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylG Rn. 21-27 m.w.N.).
Der Ausländer hat stichhaltige Gründe für die Annahme darzulegen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Der Maßstab der stichhaltigen Gründe entspricht dabei dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, wobei das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet. Bei qualifizierender Betrachtungsweise, d.h. bei einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung, müssen die für die Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht haben und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Die in diesem Sinne erforderliche Abwägung bezieht sich nicht allein auf das Element der Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern auch auf das Element der zeitlichen Nähe der befürchteten Ereignisse und auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs ist in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. VGH BW, U.v. 6.3.2012 – A 11 S 3070/11 – juris Rn. 17 m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylG Rn. 61 ff. m.w.N.).
b) Diese Kriterien sind vorliegend nicht erfüllt:
aa) Zum einen bestehen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Klägers, da seine Ausführungen sehr pauschal, inhaltsarm und oberflächlich waren. Weder zu den Ermordungen seiner Verwandten noch zu den angeblichen Erkundigungen bei ihren Nachbarn wurden nähere Angaben gemacht. Diese Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Klägers werden durch den Umstand verstärkt, dass er zum Teil widersprüchliche Angaben machte. So gab er einerseits an, aus Pakistan im Jahr 2010 ausgereist zu sein. Andererseits schilderte er einen Reiseweg, der ca. ein Jahr und 8 Monate gedauert habe, mit der Folge, dass er, da er im Juli 2013 nach Deutschland einreiste, erst Ende 2011 ausgereist wäre.
bb) Zum anderen wurden die Verwandten des Klägers schon vor 12 bzw. 13 Jahren getötet und der Kläger hat Pakistan bereits 2010 oder 2011, d.h. vor sechs oder sieben Jahren, verlassen. Nach diesem langen Zeitraum ist eine Gefährdung nicht mehr wahrscheinlich (vgl. BayVGH, U.v. 21.6.2013 – 13a B 12.30170 – juris Rn. 29 zu einem Zeitraum von drei bzw. fünf Jahren). Hinzu kommt, dass der Kläger – wie bereits ausgeführt – nach der Ermordung seiner Verwandten noch fünf oder sechs Jahre in Pakistan lebte, ohne dass es – abgesehen von nicht näher erläuterten Erkundigungen bei den Nachbarn – zu Bedrohungen oder ähnlichem kam.
cc) Im Übrigen ist davon auszugehen, dass der Kläger, der nie in Afghanistan gelebt hat, sich in einer Großstadt, wie … oder …, niederlassen wird. Aufgrund der Anonymität dieser Großstädte und unter Berücksichtigung der Entfernung zu Pakistan, wo er aufgewachsen ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger dort von den Taliban gefunden werden kann, zumal die Gebietsgewalt dort beim afghanischen Staat und nicht bei den Taliban liegt (vgl. a. VG Ansbach, U.v. 13.1.2017 – AN 11 K 15.31065 – juris Rn. 29; Lagebericht des Auswärtigen Amts v. 19.10.2016). Eine Meldepflicht besteht in Afghanistan nicht (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan der Bundesrepublik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Stand 19.12.2016, S. 188; BayVGH, U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30427 – juris Rn. 28; VG Würzburg, U.v. 15.6.2016 – W 2 K 15.30769 – juris Rn. 25; VG Köln, U.v. 6.6.2014 – 14 K 6276/13.A – juris Rn. 42), so dass die Gefahr, dass der Kläger von den Taliban – selbst wenn ihn diese nach der langen Zeit suchen sollten – aufgespürt werden könnte, nicht beachtlich wahrscheinlich ist. Gleiches gilt für die angeblichen Feinde der Familie. Es ist nicht anzunehmen, dass der Aufenthalt des Klägers in … und vor allem in der Millionenstadt … bekannt werden würde.
2.3 Auch eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG kann nicht angenommen werden:
a) Die von einem bewaffneten Konflikt ausgehende – und damit allgemeine – Gefahr muss sich in der Person des Klägers so verdichtet haben, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG darstellt. Bezugspunkt für die Beurteilung der Bedrohung ist der tatsächliche Zielort des Ausländers. Da der Kläger in Pakistan aufgewachsen ist, sich mittlerweile seit ca. vier Jahren in Deutschland aufhält und er in Afghanistan keine Verwandten hat, ist zu erwarten und ihm auch zuzumuten, dass er sich in einer Großstadt, insbesondere … oder …, niederlassen wird. Eine Individualisierung der Gefahr kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben, wie etwa berufsbedingter Nähe zu einer Gefahrenquelle oder einer bestimmten religiösen Zugehörigkeit (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 18). Derartige Umstände liegen in der Person des Klägers jedoch nicht vor.
b) Beim Fehlen individueller gefahrerhöhender Umstände kann eine Individualisierung nur ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, was ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt voraussetzt (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 19).
In … besteht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine existenzielle Gefährdung, insbesondere die Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben: In der Zentralregion Afghanistans, zu der auch … gehört, wurden laut UNAMA (www.u…org; Afghanistan – protection of civilians in armed conflict, annual report 2016) im Jahr 2016 2.348 Zivilpersonen getötet oder verletzt. Ausgehend von einer Einwohnerzahl von insgesamt ca. 6,5 Millionen (vgl. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 32), ergibt sich ein Risiko von 1:2.768, verletzt oder getötet zu werden. Selbst bei einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen aufgrund einer hohen Dunkelziffer ergebe sich eine Wahrscheinlichkeit von 1:922, was keine erhebliche individuelle Gefahr darstellt (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – Rn. 22).
Dem Kläger wäre es aber z.B. auch zumutbar, sich in … niederzulassen. In der westlichen Region, in der … liegt, gab es 836 Opfer. Bei einer Einwohnerzahl von ca. 3,5 Millionen ergibt sich ein Risiko von nur ca. 1:4.187 bzw. – bei Berücksichtigung der Dunkelziffer – von 1:1.396 (vgl. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 35 ff.).
Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Vierteljahresbericht von UNAMA vom 25. April 2017. Danach wurden zwischen 1. Januar 2017 und 31. März 2017 2.181 Zivilpersonen getötet oder verletzt. Hochgerechnet auf das Jahr ergäben sich damit 8.724 Opfer, so dass sich – bezogen auf die Bevölkerungszahl Afghanistans von ca. 33,3 Millionen (vgl. www.w…org) – ein Risiko von 1:3.817 bzw. 1:1.272 errechnet.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar entschieden, dass es neben der quantitativen Ermittlung des Risikos, in der Rückkehrprovinz verletzt oder getötet zu werden, auch einer wertenden Gesamtbetrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung bedarf. Ist allerdings die Höhe des quantitativ festgestellten Risikos eines dem Kläger drohenden Schadens – wie hier – weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, vermöge sich das Unterbleiben einer wertenden Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht auszuwirken. Zudem sei die wertende Gesamtbetrachtung erst auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung der Gefahrendichte möglich (Ue.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – juris Rn. 24; v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 23; v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 33).
Nach alledem ist es auch bei einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände weder in … noch in … beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden. Zumindest für alleinstehende männliche Staatsangehörige besteht in Afghanistan keine extreme Gefahrenlage (vgl. BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 11).
c) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus den aktuellen Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern vom Dezember 2016.
Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan deutlich verschlechtert habe. Es werde keine Unterscheidung von „sicheren“ und „unsicheren“ Gebieten vorgenommen, sondern die Bedrohung unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls bewertet. UNHCR ist der Auffassung, dass das gesamte Staatsgebiet Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt betroffen sei. Es müsse ein starkes soziales Netzwerk im Gebiet der Neuansiedlung geben. Die Wohnraumsituation sowie der Dienstleistungsbereich seien in … aufgrund der andauernden Primär- und Sekundärfluchtbewegungen extrem angespannt und auch in … halte sich eine große Zahl von Binnenvertriebenen auf.
Abgesehen davon, dass auch bei der vom UNHCR geforderten Einbeziehung der individuellen Aspekte des Klägers nicht von einer Gefahr, aufgrund eines innerstaatlichen Konflikts getötet oder verletzt zu werden, auszugehen ist (s.o. a, b), beruht die Bewertung in den genannten Anmerkungen auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben, die sich nicht mit den oben (s. a, b) dargelegten Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an einen bewaffneten Konflikt und eine erhebliche individuelle Gefährdung decken. Konkrete bzw. neuere Zahlen oder Ausgangsdaten, die die bisherige Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich das Gericht anschließt, in Frage stellen könnten, werden nicht genannt (vgl. BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris Rn. 6 f.; B.v. 4.4.2017 – 13a ZB 17.30231 – juris Rn. 12; B.v. 28.3.2017 – 13a ZB 17.30212 – juris Rn. 5; B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 11; B.v. 20.1.2017 – 13a ZB 16.30996 – juris Rn. 9; VG Augsburg, U.v. 19.12.2016 – Au 5 K 16. 31939 – juris Rn. 42). Entsprechendes gilt für den von Klägerseite zitierten Jahresbericht von amnesty international vom 22. Februar 2017. Basierend auf den oben dargelegten Zahlen ist auch bei einer Gesamtbetrachtung nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Kläger, bei dem keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG droht.
3. Es liegt jedoch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vor.
3.1 § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017, 3 A 140/16 – juris Rn. 53 m.w.N.). Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen.
Zwar sind arbeitsfähige, gesunde junge Männer auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, so dass für alleinstehende männliche Staatsangehörige grundsätzlich keine extreme Gefahrenlage besteht (BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 12; B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris Rn. 5; B.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30929 – juris Rn. 2; B.v. 22.12.2016 – 13a ZB 16.30684 – juris Rn. 7; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 17; VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 60).
Hier bestehen jedoch besondere Umstände, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich der Kläger in Afghanistan eine Existenzgrundlage schaffen könnte:
Beim Kläger liegen laut dem aktuellen Attest von Dr. B. vom 26. Mai 2017 eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung, eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ sowie eine schwere depressive Episode vor. Der Kläger habe multiple Suizidversuche sowie Selbstverletzungen unternommen und sei bereits zweimal in stationär-psychiatrischer Behandlung gewesen. Er erhalte verschiedene Psychopharmaka und befinde sich einmal monatlich in ambulant-psychiatrischer Behandlung. Im Falle einer Abschiebung sei eine deutliche Verschlechterung des psychischen Zustands zu erwarten und der Kläger wäre nicht imstande, in dem ihm ohnehin fremden Land Afghanistan einer Erwerbstätigkeit nachzukommen, geschweige denn eine Anstellung zu suchen und eine Ausbildung zu absolvieren. Auch die dringend notwendige ärztliche Behandlung könne er dort nicht fortführen lassen. Die Fortführung der regelmäßigen fachärztlich-psychiatrischen Behandlung einschließlich Medikation und die Zuführung zu einer traumaspezifischen Psychotherapie seien weiterhin dringend erforderlich. Bestätigt wurden diese Ausführungen durch die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Insbesondere schilderte dieser, dass er sich vor drei Tagen mit einem Rasiermesser am Arm verletzt hat. Mehrere horizontal verlaufende Schnittwunden am Arm konnte das Gericht in Augenschein nehmen.
Eine ausreichende Behandlung psychischer Erkrankungen ist aber in Afghanistan nicht möglich. Abgesehen von einzelnen Pilotprojekten findet eine Behandlung derartiger Erkrankungen nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Folgebehandlungen seien oft schwierig zu leisten, insbesondere wenn die Patienten – wie hier der Kläger – kein unterstützendes Familienumfeld hätten. Sie würden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen „behandelt“ oder es werde ihnen in einer „Therapie“ mit Brot, Wasser und Pfeffer der „böse Geist ausgetrieben“. Traditionell mangele es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke (Lagebericht des Auswärtigen Amts v. 19.10.2016, S. 23f.). Auch nach Auskunft der schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Behandlung von Trauma in … vom … März 2009 haben psychisch erkrankte Personen, die eine lang andauernde, spezifische Behandlung benötigten, ohne die Unterstützung der Familie in Afghanistan keine Möglichkeit zu leben. Der Zugang zu psycho-sozialer Traumabehandlung in Afghanistan sei sehr limitiert bis nicht vorhanden.
Hinzukommt im vorliegenden Fall, dass der Kläger noch nie in Afghanistan gelebt hat, sich bereits seit ca. vier Jahren in Deutschland aufhält und in Afghanistan keine Verwandten hat. Zumindest kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass er mit seinen psychischen Erkrankungen, die nach den obigen Ausführungen in Afghanistan nicht in ausreichender Weise behandelt werden können, dort in absehbarer Zeit eine Arbeitsstelle finden wird, die ihm die Sicherung des Existenzminimums ermöglichen könnte.
In Gesamtbetrachtung all dieser Umstände ist daher hier ausnahmsweise von einer extremen Gefahrenlage für den Kläger auszugehen, sodass gegenwärtig eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK in Verbindung mit § 60 Abs. 5 AufenthG zu bejahen ist.
Ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.).
Nach alledem war der Klage daher hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben (Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids). Dementsprechend waren auch die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 5 und 6 des Bescheids; vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris); Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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