Verwaltungsrecht

Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen aufgrund des Bestehens schwerwiegender Ausweisungsinteressen gem. § 5 Abs. 1 Nr. 2 iVm § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG

Aktenzeichen  M 12 K 18.1684

Datum:
30.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 37001
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 21, § 53, § 54 Abs. 2 Nr. 9

 

Leitsatz

1 Ob die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 21 AufenthG erfüllt sind und ob eine Einreise ohne das erforderliche Visum iSd § 5 Abs. 2 S. 1 AufenthG erfolgt ist, kann dahinstehen, wenn die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG aufgrund des Bestehens schwerwiegender Ausweisungsinteressen gem. § 5 Abs. 1 Nr. 2 iVm § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG nicht vorliegen. Eine hypothetische Ausweisungsprüfung erfolgt nicht. (Rn. 25 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das schwerwiegende Ausweisungsinteresse iSd § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist so zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3 Keine geringfügigen Straftaten iSd § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sind grundsätzlich strafgerichtliche Verurteilungen, es sei denn, dass es sich um sogenannte Bagatelldelikte oder unbedeutende Straßenverkehrsdelikte handelt, bei denen der Grad des Verschuldens als gering einzustufen ist. Eine Straftat, die zu einer Verurteilung bis zu 30 Tagessätzen geführt hat, kann als geringfügig angesehen werden. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
4 Erforderlich ist zwar nach Auffassung des BayVGH, dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung iSv § 53 AufenthG besteht und nicht zweifelsfrei entfallen ist (BayVGH BeckRS 2016, 51505 ), jedoch ist bei Verwirklichung einer der in § 54 Abs. 1 oder 2 AufenthG genannten Tatbestände bereits die Annahme einer Beeinträchtigung der in § 53 AufenthG genannten öffentlichen Interessen indiziert. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, § 113 Abs. 5 VwGO.
Es besteht kein Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 21 AufenthG. Gemäß § 21 Abs. 1 AufenthG kann einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit erteilt werden, wenn ein wirtschaftliches Interesse oder ein regionales Bedürfnis besteht, die Tätigkeit positive Auswirkungen auf die Wirtschaft erwarten lässt und die Finanzierung der Umsetzung durch Eigenkapital oder durch eine Kreditzusage gesichert ist.
Vorliegend kann dahinstehen, ob der Kläger die Voraussetzungen des § 21 AufenthG erfüllt und ob der Kläger ohne das erforderliche Visum im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG eingereist ist.
Denn es liegen die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG nicht vor, da schwerwiegende Ausweisungsinteressen gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bestehen.
Eine hypothetische Ausweisungsprüfung erfolgt nicht. Trotz des unterschiedlichen Gewichts der in § 54 AufenthG genannten Ausweisungsinteressen wird für die Erteilungsvoraussetzung nicht weiter unterschieden oder gar eine Ausweisungsabwägung gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG getroffen. Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist in der Regel‚ dass kein Ausweisungsinteresse vorliegt, das gegenwärtig tatsächlich besteht und rechtlich noch verwertbar ist. Die Prüfung von Ausweisungsinteressen bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dient dem Zweck, aktuell zu befürchtende Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG abzuwenden; je gewichtiger ein Ausweisungsinteresse ist, umso weniger strenge Voraussetzungen sind an die Prüfung des weiteren Vorliegens einer Gefährdung zu stellen. Nachdem es um die Erlaubnis künftigen Aufenthalts geht, ist nicht die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Vergangenheit von Bedeutung, sondern nur eine solche in Gegenwart und Zukunft. Unerheblich ist, ob ein Bleibeinteresse besteht oder völkerrechtliche Verbote einer Abschiebung trotz Vorliegens eines Ausweisungsinteresses entgegenstehen (vgl. OVG Hamburg, B.v. 7.9.1994 – Bs IV 164/94 – NVwZ-RR 1995, 544).
Gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG liegt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen hat.
Mit Beschluss des Amtsgerichts … vom … Dezember 2017 wurde ein Strafverfahren gegen den Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung gegen eine Auflage vom 500,- Euro gemäß § 153a Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt. Mit der endgültigen Einstellung des Strafverfahrens nach Erfüllung der Geldauflage gemäß § 153a Abs. 2 StPO ist zwar kein Schuldeingeständnis des Klägers verbunden (BayVGH, B.v. 14.5.2007 – Aktenzeichen 24 CS 07.675 – BeckRS 2007, 29786). Mit Blick auf die Beurteilung des Vorliegens eines Ausweisungsinteresses lässt sich aus der Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO vielmehr weder ableiten, dass der Straftatbestand nicht erfüllt, noch dass er erfüllt ist (BayVGH, B.v. 28.9.2012 – 10 CS 12.1680 – BeckRS 2012, 58236 Rn. 35). Für das Gericht besteht aber kein Zweifel daran, dass der Kläger die angeklagte Tat begangen hat, nachdem er im verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren den ihm zu Last gelegten Tatvorwurf eingeräumt hat, indem er durch seinen Prozessbevollmächtigten vortragen ließ, bei ihm liege die klare Einsicht vor, Unrecht begangen zu haben. Es liegt somit ein schwerwiegendes Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor, da der Kläger einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat, § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Dabei ist § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG so zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig oder geringfügig aber nicht vereinzelt ist.
Durch rechtskräftigen Strafbefehl vom … August 2015 wurde der Kläger zudem wegen Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen zu je 40,- Euro verurteilt.
Die gefährliche Körperverletzung, welcher sich der Kläger schuldig gemacht hat, stellt keine geringfügige Straftat im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG dar. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann es zwar auch bei vorsätzlich begangenen Straftaten unter engen Voraussetzungen Ausnahmefälle geben, in denen der Rechtsverstoß des Ausländers als geringfügig zu bewerten ist, was trotz der gebotenen ordnungsrechtlichen Beurteilung etwa dann in Betracht kommen kann, wenn ein strafrechtliches Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist (BVerwG, U.v. 24.9.1996 – 1 C 9/94 – juris). Die Einstellung des Verfahrens ist hier jedoch nicht nach § 153 Abs. 2 StPO wegen Geringfügigkeit erfolgt, sondern nach § 153a Abs. 2 StPO. Auch nach § 153a StPO ist zwar Voraussetzung, dass die Schwere der Schuld einer Einstellung nicht entgegensteht, dies ist jedoch nicht mit Geringfügigkeit gleichzusetzen. Vielmehr ermöglicht § 153a StPO die Einstellung des Verfahrens auch bei Schuld im mittleren Bereich. Nachdem das Strafverfahren gegen den Kläger nicht von vorneherein nach § 153 StPO eingestellt wurde, sondern eine Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO erfolgte, spricht schon dieser Verfahrensgang dafür, dass auch Staatsanwaltschaft und Amtsgericht das Vergehen des Klägers nicht als geringfügig eingestuft haben (VG Bayreuth, B.v. 13.4.2007 – B 1 S 07.215). Auch bei der Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen handelt es sich um keinen geringfügigen Verstoß. Nicht geringfügig sind grundsätzlich strafgerichtliche Verurteilungen, es sei denn, dass es sich – anders als im Fall des Klägers – um sogenannte Bagatelldelikte oder unbedeutende Straßenverkehrsdelikte handelt, bei denen der Grad des Verschuldens als gering einzustufen ist. Eine Straftat, die zu einer Verurteilung bis zu 30 Tagessätzen geführt hat, kann als geringfügig angesehen werden (vgl. Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 Nr. 55.2.2.2 und Nr. 55.2.2.3.1). Im Fall des Klägers wurde jedoch eine Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen verhängt. Zudem handelt es sich hierbei jeweils nicht um einen vereinzelten Verstoß.
Erforderlich ist nach Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 53 AufenthG besteht (BayVGH, U. v. 29.8.2016 – 10 AS 16.1602 – juris). Ist die Gefahr zweifelsfrei entfallen, soll auch kein Ausweisungsinteresse mehr angenommen werden. Allerdings ist bei Verwirklichung einer der in § 54 Abs. 1 oder 2 AufenthG genannten Tatbestände bereits die Annahme einer Beeinträchtigung der in § 53 AufenthG genannten öffentlichen Interessen indiziert (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand September 2018, § 5 AufenthG Rn. 27). Für ein Entfallen der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gibt es keine Anhaltspunkte. Zwar liegt die dem Einstellungsbeschluss vom … Dezember 2017 zugrundeliegende Straftat des Klägers bereits mehr als drei Jahre zurück und der Kläger hat die erteilten Auflagen rechtzeitig und vollständig erfüllt, allerdings handelt es sich bei dem durch den Kläger in der Vergangenheit gefährdeten Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit um ein hohes Rechtsgut, so dass ein umso geringerer Maßstab an die Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung durch den Kläger angelegt werden muss. Zudem handelt es sich bei der Situation, in der es zu der gefährlichen Körperverletzung des Klägers kam, um ein Treffen, bei dem es um noch ausstehende Lohnzahlungen eines Dritten und somit um einen beruflichen Kontext im weiteren Sinne ging. Da der Kläger auch derzeit als Selbständiger ein Unternehmen mit Angestellten führt und dieses auch in Zukunft führen will, besteht bei ihm die erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass er auch in Zukunft Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten im beruflichen Kontext durch Gewalt lösen wird. Auch hinsichtlich der Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen besteht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Darüber hinaus spricht für das Bestehen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, dass der Kläger seit seiner Einreise am … Mai 2014 innerhalb kürzerer Zeit bereits dreimal strafrechtlich in Erscheinung getreten ist.
Ausreichende Gründe, welche die Straffälligkeit des Klägers als atypischen Sonderfall erscheinen lassen, bestehen nicht. Selbst ein länger dauernder Voraufenthalt in Deutschland und eine damit verbundene wirtschaftliche Integration rechtfertigen, für sich genommen, nicht die Annahme eines Ausnahmefalls (VGH München, Beschluss vom 24.4.2014 – 10 ZB 14.524 – BeckRS 2014, 51264). Außergewöhnliche Hinderungsgründe, die gegen eine Rückkehr in den Kosovo sprechen, sind nicht ersichtlich. Da der Kläger nach seinem erstmaligen Aufenthalt in der Bundesrepublik in den Jahren 1993 bis 2000 in den Kosovo zurückkehrte und auch die Heirat des Klägers im Kosovo stattfand, ist davon auszugehen, dass er seine Heimatsprache spricht und mit den Verhältnissen in seinem Heimatland hinreichend vertraut ist.
Dem Kläger steht auch kein Aufenthaltsrecht nach §§ 27 Abs. 1, 28 Abs. 1 Nr. 1, 30 Abs. 1 AufenthG bzw. § 31 AufenthG zu, da ausweislich der Gründe des Urteils des Familiengerichts des Amtsgerichts … vom … Juni 2017 zwischen dem Kläger und seiner damaligen Ehefrau seit dem 25. Februar 2016 keine eheliche Lebensgemeinschaft mehr bestanden und diese auch nicht drei Jahre im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG angedauert hat. Gründe, von der Voraussetzung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG gem. § 31 Abs. 2 AufenthG zur Vermeidung einer besonderen Härte abzusehen, wurden weder vorgetragen noch sind sie ersichtlich.
Auch die auf § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung und die auf § 50 AufenthG gestützte Ausreisefrist begegnen keinen rechtlichen Bedenken.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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