Verwaltungsrecht

Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland

Aktenzeichen  M 10 K 18.6014

Datum:
16.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 1695
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6, § 7 Abs. 2 S. 5, S. 6
GG Art. 6

 

Leitsatz

1. Ein Bescheid über die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt kann von dem Ehegatten des Betroffenen im Wege der Drittanfechtung angegriffen werden; er ist dann vollumfänglich zu überprüfen, weil nur eine umfassend rechtmäßige Verlustfeststellung nicht das Grundrecht aus Art. 6 GG verletzt. (Rn. 28 und 40) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch die erstmalige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von siebeneinhalb Jahren wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge, mit gefährlicher Körperverletzung, mit besonders schwerem Raub und mit versuchtem bewaffneten Sichverschaffen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge kann zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit iSd § 6 Abs. 5 S. 3 FreizügG/EU begründen. (Rn. 52 – 53) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf vier Jahre ab der Ausreise ist erforderlich und ausreichend bei einem faktischen Inländer, der in Deutschland fast sein ganzes Leben grundsätzlich beanstandungsfrei – bis auf die Anlasstat für die Verlustfeststellung – verbracht, hier jahrelang gearbeitet hat und dessen Ehefrau und viereinhalbjährige Tochter, die auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, in Deutschland leben. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 6. November 2018 wird insoweit aufgehoben, als in Ziffer 2 das Verbot, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten, auf länger als 4 Jahre befristet wurde.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Von den Kosten des Verfahrens hat der Kläger 1/2, die Klägerin 4/10 und die Beklagte 1/10 zu tragen.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Parteien dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Gründe

Die Klage der Klägerin hat Erfolg, soweit in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids vom 6. November 2018 das Verbot, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten, auf länger als 4 Jahre befristet worden ist. Insoweit ist der Bescheid vom 6. November 2018 rechtswidrig und war daher aufzuheben. Im Übrigen bleiben die Klagen ohne Erfolg. Die Klage der Klägerin ist ansonsten zwar zulässig, aber unbegründet. Die Klage des Klägers ist bereits unzulässig, da die Klagefrist nicht gewahrt worden ist.
1. Die Klage der Klägerin ist im Hinblick auf Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids vom 6. November 2018 insoweit erfolgreich, als das Verbot, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten, auf länger als 4 Jahre befristet worden ist. In dieser Hinsicht ist die Klage zulässig und begründet.
a) Die Klage der Klägerin gegen die Feststellung des Verlustes des Rechts ihres Ehemanns auf Einreise und Aufenthalt ist zulässig.
aa) Die Klägerin ist insbesondere klagebefugt nach § 42 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO. Sie kann geltend machen, durch den angegriffenen Bescheid in ihrem Recht aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt zu sein. Dies gilt auch dann, wenn der angegriffene Bescheid gegenüber dem Ehemann der Klägerin bestandskräftig geworden ist, vgl. hierzu: BVerwG, U.v. 27.8.1996 – 1 C 8/94 – NVwZ 1997, 1116 (1117).
bb) Die Klage ist von der Klägerin am 10. Dezember 2018 innerhalb der Monatsfrist nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO erhoben worden. Die Frist beginnt mit der Bekanntgabe zu laufen. Die Bekanntgabe erfolgte hier aufgrund der Zustellung des Bescheids per Postzustellungsurkunde an die zum damaligen Zeitpunkt nicht anwaltlich vertretene Klägerin am 8. November 2018. Die Klagefrist begann damit am 9. November 2018 zu laufen und endete mit Ablauf des 10. Dezember 2018, da der 8. Dezember 2018 ein Samstag war (§ 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Alt. 1 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB i.V.m. § 222 Abs. 2 ZPO).
b) Die Klage ist im Hinblick auf die Dauer der Befristung, soweit sie 4 Jahre übersteigt, begründet. Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 6. November 2018 ist diesbezüglich rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 7 Abs. 2 Satz 5, Satz 6 FreizügG/EU auf 7 Jahre ist im konkreten Fall unverhältnismäßig. Nach Auffassung des Gerichts ist unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls eine Frist von lediglich 4 Jahren geboten.
Nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU dürfen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ihr Freizügigkeitsrecht nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU verloren haben, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Dieses Verbot wird von Amts wegen befristet; die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU überschreiten (§ 7 Abs. 2 Satz 5 und Satz 6 FreizügG/EU).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Befristungsentscheidung ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Die Befristungsentscheidung nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU stellt keine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde dar; vielmehr ist sie auch hinsichtlich der Dauer der Befristung gerichtlich voll überprüfbar. Für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist gesetzlich keine Höchstfrist vorgesehen; insoweit ist bei Unionsbürgern ein langfristiger Ausschluss der Wiedereinreise bei fortbestehender Rückfall- bzw. Gefährdungsprognose grundsätzlich nicht ausgeschlossen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18/14 – BVerwGE 151, 361 ff. – juris Rn. 23, 29, 31).
Bei der Bemessung der Frist ist in einem ersten Schritt eine an dem Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung sowie dem mit ihr verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierte äußerste Frist zu bestimmen. Hierzu bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der Verlustfeststellung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf die im vorliegenden Fall bedeutsame Gefahrenschwelle des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU zu tragen vermag. In der Regel kann dabei eine Prognose realistischerweise nur über einen Zeitraum von maximal zehn Jahren gestellt werden; weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung kaum abschätzen (BVerwG, U.v. 25.3.2015, a.a.O. – juris Rn. 27, 31 m.w.N.).
Diese äußerste Frist muss sich in einem zweiten Schritt an höherrangigem (Unions- und Verfassungs-)Recht messen und gegebenenfalls relativieren lassen, um fortwirkende einschneidende Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Im Rahmen dieses normativen Korrektivs sind insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten schutzwürdigen Belange des Unionsbürgers in den Blick zu nehmen; im Extremfall kann die Abwägung sogar zu einer Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt führen (BVerwG, U.v. 25.3.2015, a.a.O. – juris Rn. 28 m.w.N.).
Gemessen an diesen Maßstäben ist im vorliegenden Fall die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf mehr als fünf Jahre nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU zwar grundsätzlich möglich. Aber nach Würdigung aller und insbesondere der in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Umstände erscheint eine Befristung auf 4 Jahre im Ergebnis als hinreichend und angebracht.
Die Beklagte hat hier zur Begründung der Länge der Frist recht kurz und pauschal ausgeführt, dass wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der festgestellten hohen Wiederholungsgefahr sowie im Hinblick auf die familiären und sozialen Bindungen (Ehefrau, Tochter, Eltern und Schwester) ein Zeitraum von 7 Jahren erforderlich sei, um dem hohen Gefahrenpotential Rechnung tragen zu können. Vor dem Hintergrund der Rückfallgefahr sei nicht zu erwarten, dass der Kläger die maßgebliche Gefahrenschwelle des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU vor Ablauf der Frist von 7 Jahren unterschreite.
Aus diesen Ausführungen der Beklagten ist zum einen nicht ersichtlich, dass sich die Beklagte zur Bemessung der konkreten Frist in einem zweiten Schritt nochmals ausführlich mit den schutzwürdigen Belangen des Klägers im Einzelnen auseinandergesetzt hat. Zum anderen ist hier vor dem Hintergrund der sozialen und familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet eine Befristung über 4 Jahre hinaus unverhältnismäßig. Der Kläger ist faktischer Inländer, was von der Beklagten grundsätzlich im Bescheid auch so zugrunde gelegt worden ist. Er hat in Deutschland fast sein ganzes Leben grundsätzlich beanstandungsfrei verbracht. Er ist hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat hier jahrelang gearbeitet, so dass er letztlich (auch) durch die deutsche Gesellschaft geprägt ist. Auch wenn verschiedentlich strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden sind, ist der Kläger, abgesehen von der Straftat, die nunmehr den Anlass für die Verlustfeststellung bildet, nie strafrechtlich verurteilt worden. Darüber hinaus sind hier ganz maßgeblich die familiären Beziehungen zu seiner Ehefrau und seiner Tochter, die auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, zu berücksichtigen (Art. 6 GG). Die Tochter des Klägers ist derzeit erst 4,5 Jahre. Für ein Kind dieses Alters ist es schwierig, den Kontakt zum Vater über lange Jahre im Wesentlichen nur über Fernkommunikationsmittel zu pflegen, ohne dass es zu einer vollständigen Entfremdung kommt. Insbesondere im Interesse des Kindes hält das Gericht im Ergebnis eine Befristung auf 4 Jahre ab Ausreise für erforderlich, aber auch ausreichend.
2. Im Übrigen bleibt die zulässige Klage der Klägerin erfolglos, da sie unbegründet ist. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 6. November 2018 ist – abgesehen von der Dauer der Befristung in Ziffer 2 – rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Der angegriffene Bescheid vom 6. November 2018 ist vollumfänglich zu überprüfen, auch wenn es sich um eine Drittanfechtungskonstellation handelt, da die Klägerin gegen die Verlustfeststellung für ihren Ehemann klagt. Prüfungsumfang ist nicht lediglich die Frage, ob der streitgegenständliche Bescheid Art. 6 GG – insbesondere im Rahmen der Ermessenserwägungen – verletzt (offen gelassen in BVerwG, U.v. 27.8.1996, a.a.O., S. 1119). Denn nach Auffassung des Gerichts verletzt nur eine umfassend rechtmäßige Verlustfeststellung nicht das Grundrecht aus Art. 6 GG.
b) Der angegriffene Bescheid ist im Hinblick auf die Verlustfeststellung in Ziffer 1 rechtmäßig, da die Beklagte die Verlustfeststellung in zutreffender Weise auf der Grundlage des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ausgesprochen hat.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden.
aa) Der Kläger war jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung freizügigkeitsberechtigt im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1, Abs. 2, § 2 Abs. 1 FreizügG/EU.
Ob die Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU das tatsächliche Vorliegen eines Freizügigkeitstatbestands voraussetzt (bejahend: BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – BeckRS 2015, 44249; Kurzidem in BeckOK, Ausländerrecht, 24. Ed. 1.11.2019, § 6 FreizügG/EU Rn. 2; verneinend: Cziersky-Reis in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 6 FreizügG/EU Rn. 8), kann im vorliegenden Fall offen bleiben, da die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung gegeben waren.
Als Staatsangehöriger von Bosnien-Herzegowina ist der Kläger zwar nicht Unionsbürger. Da er aber mit einer kroatischen Staatsangehörigen und damit einer Unionsbürgerin, die als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt war, verheiratet ist, stand dem Kläger im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung am 6. November 2018 das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zu (§ 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU).
bb) Die Beklagte hat den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in zutreffender Weise aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt.
Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um eine Verlustfeststellung zu begründen, § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU.
Nach dem gestuften Schutzsystem des § 6 FreizügG/EU darf eine Verlustfeststellung nach einem Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts im Sinne des § 4a FreizügG/EU (ständiger rechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet seit 5 Jahren) nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU). Bei Unionsbürgern und deren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Bundesgebiet hatten, darf eine Verlustfeststellung sogar nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden (§ 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU).
Im vorliegenden Fall kann dahin stehen, ob der Auffassung der Beklagten zu folgen ist, dass der Kläger nur den Schutz des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU in Anspruch nehmen kann, da die Kontinuität des langjährigen Aufenthalts des Klägers zum Bundesgebiet mit Antritt der Haftstrafe unterbrochen ist. Hierbei ist im konkreten Fall insbesondere fraglich, ob – wie von der Beklagten angenommen – die derzeit verbüßte Strafhaft zur Unterbrechung des Zehnjahreszeitraums führt. Die Frage, ob die erste Haftstrafe ein sofortiges Abreißen des Integrationszusammenhangs des Ausländers und damit eine Unterbrechung bewirkt, wenn nach einem langjährigen Aufenthalt im Inland, der zu einer Verwurzelung des Betroffenen geführt hat, die Verurteilung zu einer ersten Haftstrafe den Anlass für die Verlustfeststellung bildet, hat der VGH Mannheim dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt (B.v. 27.4.2016 – 11 S 2081/15 – BeckRS 2016, 46949). Über diese Frage ist, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden. Hinzu kommt, dass im konkreten Fall fraglich ist, welche Aufenthaltszeiten des Klägers für die Berechnung der 10 Jahre maßgeblich sind. Da der Kläger erst seit dem Jahr 2011 verheiratet ist und Kroatien erst am 1. Juli 2013 der Europäischen Union (EU) beigetreten ist, kommt es in Betracht, den Zehnjahreszeitraum frühestens ab 1. Juli 2013 beginnen zu lassen, so dass die 10 Jahre offensichtlich nicht erfüllt wären. Allerdings können nach der Rechtsprechung des EuGH auch Voraufenthaltszeiten, die vor dem Beitritt eines Landes zur EU zurückgelegt worden sind, berücksichtigungsfähig sein (vgl. hierzu: Kurzidem, a.a.O., § 6 Rn. 24; Dienelt, a.a.O., § 6 Rn. 57 jew. m.w.N.). Insoweit ist jedoch fraglich, ob dies auch für den Ehegatten eines Staatsangehörigen eines Beitrittslandes gilt. Im Ergebnis spricht hier jedoch viel dafür, dass der Zehnjahreszeitraum jedenfalls nicht vor der Heirat mit der Klägerin im Jahr 2011 begonnen hat, da diese dem Kläger das Freizügigkeitsrecht erst vermittelt. Unter dieser Prämisse wäre der Zehnjahreszeitraum jedenfalls schon nicht erfüllt.
(1) Die Entscheidung dieser Fragen kann jedoch offen bleiben, da nach Auffassung des Gerichts unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls hier jedenfalls zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU vorliegen.
Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe vom mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherheitsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht. Der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU setzt nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist. Eine Ausweisungsmaßnahme ist hier auf außergewöhnliche Umstände begrenzt (vgl. EuGH, U.v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 40, 41). Sie muss auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden und kann nur dann mit zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt werden, wenn sie angesichts der außergewöhnlichen Schwere der Bedrohung für den Schutz der Interessen, die mit ihr gewahrt werden sollen, erforderlich ist. Dieses Ziel darf unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers und insbesondere der schweren negativen Folgen, die eine solche Maßnahme für Unionsbürger haben kann, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, nicht durch weniger strikte Maßnahmen erreicht werden können. Dabei ist insbesondere der außergewöhnliche Charakter der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Person, nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung, gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedsstaat zu gefährden (EuGH, U.v. 23.11.2010, a.a.O., Rn. 49 f.; zum Ganzen: BayVGH, B.v. 10.12.2014 – 19 ZB 13.2013 – juris Rn. 7).
Gemessen an diesen Maßstäben liegen im vorliegenden Fall zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit vor. Der Kläger ist rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 5 Jahren, nämlich zu 7 Jahren und 6 Monaten, verurteilt (§ 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU). Diese Verurteilung wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge, mit gefährlicher Körperverletzung, mit besonders schwerem Raub und mit versuchtem bewaffneten Sichverschaffen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ist auch als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen. Die vom Kläger begangenen Straftaten sind dem Bereich der Schwerkriminalität zuzuordnen. Es handelt sich um ein heftiges Gewaltverbrechen, unter dem das Opfer nach Aktenlage nach wie vor psychisch und physisch leidet. Auch die Art und Weise der Begehung der Straftat weist hier besonders schwerwiegende Merkmale auf. Der Kläger hat sich nicht an die Absprache mit seinem Bekannten gehalten, dass das Messer nur zur Drohung eingesetzt werden solle. Er hat mit dem Messer vielmehr viermal auf Arm und Oberkörper des Opfers und damit besonders sensible Bereiche des Körpers eingestochen. Der Todeseintritt beim Opfer konnte nur aufgrund des schnellen notärztlichen Einsatzes verhindert werden. Dieses Verhalten sowie der Umstand, dass der Kläger nach einer solchen Tat einfach die Tasche an sich genommen und geflüchtet ist, zeugen von einer erheblichen kriminellen Energie. Hintergrund dieser Straftat war der enorme Suchtdruck beim Kläger aufgrund einer langjährigen intensiven Drogenabhängigkeit. Gerade der Schutz vor derartigen Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit sowie vor Betäubungsmitteldelikten sind aber eine wichtige Aufgabe und ein Grundinteresse der Gesellschaft.
Der Annahme von zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit steht vorliegend nicht entgegen, dass es sich um die erste Verurteilung des Klägers handelt. Wie dargelegt, handelt es sich um ein erhebliches Gewaltverbrechen zur Beschaffung von Betäubungsmitteln. Gerade der Umstand, dass der Kläger noch nie strafrechtlich verurteilt worden ist, und dann eine solche Gewalttat begeht, zeugt von einer erheblichen kriminellen Energie. Hinzu kommt, dass verschiedentlich strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Kläger liefen. Im Fall des Klägers ist die Abwärtsspirale aufgrund der langjährigen massiven Drogenabhängigkeit gut erkennbar. Die Drogenabhängigkeit führte zum Verlust sozialer und familiärer Bindungen, insbesondere zur Trennung von seiner Ehefrau. Auch die Arbeitsleistungen des Klägers verschlechterten sich.
(2) Das Gericht teilt die Einschätzung der Beklagten, dass die Umstände, die den vom Kläger begangenen Straftaten zugrunde gelegen sind, ein persönliches Verhalten erkennen lassen, welches eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere, die Grundinteressen der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU darstellt.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Wiederholungsgefahr ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, U.v. 29.4.2004 – C-482/01 und C-493/01 Orfanopoulos Olivieri – EuZW 2004, 402).
Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, Entscheidung v. 27.10.1977 – 30/77 „Bouchereau“ – BeckRS 2004, 73063). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – NVwZ 2010, 389). Bei gewichtigeren Straftaten reicht danach eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Straftatbegehung aus, um eine solche Gefährdung zu begründen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – BeckRS 2013, 47815). Aus den verwertbaren Straftaten sowie den sonstigen hinzutretenden Umständen ist also prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung erneuter Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ist.
Gemessen an diesen Vorgaben ist bei dem Kläger prognostisch eine Wiederholungsgefahr – jedenfalls für die Begehung weiterer Delikte der Betäubungsmittelkriminalität – gegeben.
Der Kläger hat ein massives Delikt gegen die körperliche Integrität begangen, bei dem es sich um ein Rechtsgut von höchstem verfassungsrechtlichen Rang handelt. Durch Straftaten, die sich gegen ein solches Rechtsgut richten, werden den Opfern erhebliche körperliche und seelische Schäden zugefügt, die sich schlimmstenfalls ein Leben lang auswirken können. Daher ist der Schutz vor derartigen Delikten eine wichtige Aufgabe und ein Grundinteresse der Gesellschaft. Dies gilt auch bei Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz (vgl. zu diesem Gedanken: EGMR, U.v. 19.3.2013 – 45971/08 – juris Rn. 47).
Aufgrund der deswegen zugrunde zu legenden geringeren Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadenseintritts ist prognostisch anzunehmen, dass vom Kläger weiterhin eine Gefahr ausgeht.
Zwar hat der Kläger Reue gezeigt und seinen Willen, sich künftig straffrei zu verhalten, bekundet. Allerdings wiegen die von ihm begangenen Straftaten schwer. Der Kläger hat – wie bereits dargelegt – ein schweres Gewaltverbrechen wegen seiner Drogensucht begangen. Dies zeugt von einer erheblichen kriminellen Energie des Klägers. Hinzu kommt, dass die hohen Schulden des Klägers (aus dem Gerichtsverfahren ca. 53.000 EUR zuzüglich ausstehender Rückzahlung des Unterhaltsvorschusses für die Tochter) einen nicht unerheblichen Risikofaktor für die Begehung weiterer Straftaten darstellen, zumal es nach der Haftentlassung für den Kläger nicht einfach werden dürfte, mit einer derartigen Vorstrafe wieder Arbeit zu finden.
Darüber hinaus war Hintergrund der Straftaten Beschaffungskriminalität. Die Suchtmittelabhängigkeit des Klägers ist derzeit jedoch nicht abschließend bearbeitet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – BeckRS 2016, 40758 Rn. 8 m.w.N.) bildet in Fällen der Straffälligkeit infolge Suchtmittelabhängigkeit die erfolgreiche Absolvierung einer Therapie die zwingende Voraussetzung für ein Entfallen der Wiederholungsgefahr. Entgegen der Auffassung der Klägerbevollmächtigten reichen Teilerfolge der Therapie, insbesondere bereits erreichte Lockerungsstufen, nicht aus, um die Wiederholungsgefahr entfallen zu lassen.
Eine Wiederholungsgefahr aufgrund der nicht abschließend bearbeiteten Suchtmittelabhängigkeit ist im vorliegenden Fall auch deswegen anzunehmen, weil beim Kläger erkennbar ist, dass er in der Vergangenheit in kritischen Lebenssituationen, die auch in Zukunft wieder auftreten können, dazu neigte, zu Betäubungsmitteln zu greifen. Seine Drogensucht begann aufgrund der Trennung von seiner ersten Freundin und verstärkte sich massiv aufgrund der Krise in der Ehe mit der Klägerin. Solange der Kläger auch insoweit keine Bewältigungsstrategien im Rahmen einer Therapie erlernt hat, ist dies ein weiterer Umstand, der aus Sicht des Gerichts für eine Wiederholungsgefahr spricht.
Auch die gutachterlichen Stellungnahmen des Bezirksklinikums …, zuletzt vom 15. Januar 2020, nach der der Kläger gute Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluss der Therapie habe, ändern hieran nichts. Um die erhebliche Wiederholungsgefahr im Fall des Klägers ernsthaft in Zweifel ziehen zu können, wäre nach ständiger Rechtsprechung (BayVGH, B.v. 17.12.2015, a.a.O.) erforderlich, dass der Kläger eine Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig straffreien Verhaltens auch nach Straf- bzw. Therapieende glaubhaft gemacht hätte.
cc) Die Entscheidung der Beklagten über die Verlustfeststellung stellt sich auch unter Berücksichtigung der Umstände nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU als ermessensfehlerfrei dar.
Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Entscheidung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt hierfür ist der Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung. Zu berücksichtigen sind also auch neue Gesichtspunkte, die für die behördliche Ermessensentscheidung relevant sein können (vgl. Cziersky-Reis in NK-AuslR, 2. Aufl. 2016, Freizügigkeitsgesetz/EU, § 6 Rn. 56).
Es ist vorliegend rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in ihrer Güter- und Interessenabwägung den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung des Klägers gegenüber seinen persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet den Vorzug gegeben hat.
Auf Seiten des öffentlichen Interesses ist – im Einklang mit der Beklagten – zu berücksichtigen, dass der Kläger sehr schwerwiegende sozialschädliche Straftaten, insbesondere einen versuchten Mord und ein Betäubungsmitteldelikt, begangen hat. Es besteht angesichts der nicht bewältigten Suchtproblematik auch eine erhebliche Wiederholungsgefahr (s. hierzu bereits ausführlich oben).
Auf Seiten der privaten Interessen des Klägers hat die Beklagte in nicht zu beanstandender Weise gewürdigt, dass es sich bei dem Kläger um einen faktischen Inländer handelt, dessen Integration in wirtschaftlicher, sozialer und familiärer Hinsicht zwar zunächst gelungen, aber durch die langjährige Drogenabhängigkeit erheblich beeinträchtigt worden ist.
Dem Kläger ist es – wie von der Beklagten angenommen – zuzumuten, in Bosnien-Herzegowina zu leben. Zwar hat er dort nur sein erstes Lebensjahr verbracht, aber er hat nach eigenen Angaben noch Verwandte dort. Insbesondere zu einem Onkel hat der Vater des Klägers noch Kontakt, so dass dieser für den Kläger unterstützend zur Verfügung stehen dürfte. Hinzu kommt, dass der Kläger bosnisch jedenfalls spricht; das Erlernen der Schriftsprache ist ihm insoweit zuzumuten. Vor diesem Hintergrund dürfte der Kläger als junger, grundsätzlich gesunder und arbeitsfähiger Mann in der Lage sein, in Bosnien-Herzegowina sein Auskommen zu finden.
Auch unter Berücksichtigung der familiären und sozialen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet erweist sich die Verlustfeststellung als ermessensfehlerfrei. Die familiären Beziehungen zu den Eltern und der Schwester des Klägers fallen insoweit nicht erheblich ins Gewicht, da der Kläger als erwachsener Mann jedenfalls nicht auf deren Unterstützung angewiesen ist. Nach ausführlicher Befragung der Kläger in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht zudem der Auffassung, dass auch unter Berücksichtigung der familiären Beziehungen des Klägers zur Klägerin und zu seiner deutschen Tochter (Art. 6 GG) das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung des Klägers sein persönliches Bleibeinteresse überwiegt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. hierzu und zum Folgenden nur: BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – NvWZ 2013, 1207) gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten.
Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehöriger ist und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann.
Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte.
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist das Gericht der Auffassung, dass die familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet nicht in einer derart erheblichen Weise von enger, persönlicher Verbundenheit getragen sind, die es rechtfertigen würden, die hier sehr schwerwiegenden Gründe des öffentlichen Interesses zu überwiegen.
Nach Befragung der Kläger in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass zwischen den Klägern eine eheliche Lebensgemeinschaft, die von persönlicher Verbundenheit getragen ist, tatsächlich wieder gelebt wird.
Zwar gaben die Kläger an, dass sie sich nach ihrer Trennung im Januar 2017 wieder versöhnt hätten. Aber die Ausführungen der Klägerin zur Versöhnung in der mündlichen Verhandlung waren wenig glaubhaft. Die Klägerin hat die konkrete Frage des Gerichts, wie und wann es zur Versöhnung kam, zunächst ausweichend beantwortet. Bei einer weiteren Nachfrage gab sie recht pauschal an, dass sie dem Kläger verziehen habe, weil ihm alles sehr leid tue und er sich verändert habe. Konkrete Ausführungen zur Versöhnung machte die Klägerin jedoch nicht. Dem Gericht erschließt es sich allerdings nicht, dass sich die Klägerin ohne Weiteres mit ihrem Ehemann versöhnt hat, vor dem sie jedenfalls in der Vergangenheit aufgrund seiner Aggressivität erhebliche Angst gehabt hat (vgl. die Zeugeneinvernahme der Klägerin vom 26.6.2017 im strafrechtlichen Verfahren, Bl. 217 ff. Behördenakte). Auch sonst erweckte die Klägerin nicht den Eindruck, dass sie ihrem Ehemann wieder zugetan ist. Zwar hielten sich die Kläger in der mündlichen Verhandlung an den Händen; die Initiative ging insoweit jedoch vom Kläger aus. Die Klägerin saß eher etwas von ihrem Ehemann abgewandt.
Selbst wenn von einer Versöhnung der Kläger auszugehen wäre, ist aktuell jedenfalls nicht belegt, dass zwischen den Klägern wieder eine enge, von Vertrauen getragene Lebensgemeinschaft mit dem Willen und der Fähigkeit besteht, den Alltag mit seinen Problemen gemeinsam zu bewältigen. Die Kläger haben seit ihrer Trennung im Januar 2017 nicht mehr zusammen gelebt, zunächst wegen des Auszugs des Klägers aus der ehelichen Wohnung, dann wegen Haft und Unterbringung des Klägers.
Unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls ist das Gericht auch nicht davon überzeugt, dass zwischen dem Kläger und seiner Tochter eine intensive Beziehung besteht. Zwar tragen die Kläger vor, dass die Klägerin und ihre Tochter den Kläger regelmäßig einmal im Monat in der Haft bzw. in der Klinik besuchen, der Kläger täglich mit seiner Tochter telefoniere und das Kind auch sonst sehr häufig vom Vater spreche und nach ihm frage.
Auch wenn anzuerkennen ist, dass der Kläger sich im Rahmen seiner Möglichkeiten wohl um den Kontakt zu seiner Tochter bemüht, fällt für das Gericht hier erheblich ins Gewicht, dass der Kläger schon im Zeitpunkt seiner Inhaftierung, als das Kind zwei Jahre alt war, seine Elternverantwortung nicht (mehr) in einem erheblichen Umfang ausgeübt hat, was sich durch die Inhaftierung eher noch verschlechtert hat.
Der Kläger ist im Januar 2017, als die Tochter 1,5 Jahre alt war, aus der gemeinsamen Wohnung in …, in der er sich wegen seiner Arbeit in … ohnehin regelmäßig nur am Wochenende aufhielt, ausgezogen. Die Trennung von seiner Familie ist daher schon vor der Inhaftierung erfolgt und insoweit unabhängig von Inhaftierung und Verlustfeststellung. Seit diesem Zeitpunkt besteht keine in einer gemeinsamen Wohnung gelebte Familiengemeinschaft mehr. Auch wenn die Kläger übereinstimmend angaben, dass der Kläger sich nach der Trennung regelmäßig um seine Tochter gekümmert habe, war dieser Kontakt zeitlich doch sehr eingeschränkt. Hinzu kommt, dass es die Drogenabhängigkeit dem Kläger schwer gemacht haben dürfte, sich intensiv um das Kind zu kümmern und einen maßgeblichen Erziehungsbeitrag zu leisten. Der Kläger selbst gab in der mündlichen Verhandlung an, dass er an den Tagen, an denen er sich mit seiner Tochter traf, darauf verzichtet habe, vorher Drogen zu konsumieren. Im Rahmen der Erstellung des psychiatrischen Gutachtens vom 7. Dezember 2017 im Strafverfahren äußerte er gar, dass er an diesen Tagen vormittags nüchtern geblieben sei, ab Mittag habe er jedoch mit seiner Tochter nichts mehr unternehmen können (Bl. 294 Behördenakte). Dass es dem Kläger auch bereits nach der Geburt des Kindes schwerfiel, aufgrund seiner Drogenabhängigkeit überhaupt eine Beziehung zu dem Kind aufzubauen, ergibt sich bereits aus der Stellungnahme der früheren Bevollmächtigten des Klägers vom 13. September 2018.
Seit der Inhaftierung des Klägers ist der Kontakt naturgemäß sehr eingeschränkt. In der Haft haben die Klägerin und ihre Tochter den Kläger einmal monatlich besucht. Seit der Kläger in der Klinik ist, finden allerdings nach Angaben der Klägerin wegen der Wegstrecke auch nur monatliche Besuche statt, obwohl häufigere Besuche möglich wären. Auch besteht telefonischer Kontakt. Allerdings ist das Gericht nach der insoweit zurückhaltenden Reaktion des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugt, dass dieser telefonische Kontakt intensiv ist. Zunächst erweckte der Kläger bei der Beantwortung der Frage des Gerichts den Eindruck, nicht mit seiner Tochter zu telefonieren. Auf Nachfrage gab er dann an, zwar täglich anzurufen, aber seine Tochter wolle dann häufig lieber spielen gehen, als zu telefonieren. Auch wenn dem Gericht hierbei bewusst ist, dass dieses Verhalten sicherlich auch dem Alter des Kindes geschuldet ist, spricht dieser Umstand jedenfalls nicht für eine besonders intensive Beziehung.
Zwar ist hier zu berücksichtigen, dass vorliegend ein noch recht kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht versteht und diese rasch als endgültigen Verlust begreift. Allerdings ist dieser Umstand bereits durch die Trennung von der Familie und die Inhaftierung eingetreten und nicht durch die Verlustfeststellung verursacht. Etwaige Härten können – wie die Beklagte im Bescheid auch dargelegt hat – über Betretenserlaubnisse aufgefangen werden.
Da vorliegend nicht von einer von emotionaler Verbundenheit getragenen engen Beziehung zwischen Vater und Kind auszugehen ist und die öffentlichen Interessen hier besonders schwer wiegen, hat das Gericht es nicht für erforderlich gehalten, ein kinderpsychologisches Gutachten einzuholen.
c) Ziffern 2 und 3 des angefochtenen Bescheides sind im Übrigen unter Berücksichtigung der Vorgaben des § 7 FreizügG/EU rechtmäßig.
3. Die Klage des Klägers hat keinen Erfolg, da sie bereits unzulässig ist. Die Klageerhebung des Klägers am 10. Dezember 2018 hat die Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht gewahrt.
Die Frist beginnt mit der Bekanntgabe zu laufen. Die Bekanntgabe des Bescheids an den Kläger erfolgte gegenüber der damals (nur für den Kläger bestellten) Bevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis. Für den Beginn der Frist maßgeblich ist hierbei das Empfangsbekenntnis vom 7. November 2018 und nicht dasjenige vom 6. November 2018, da der am 6. November 2018 übermittelte Bescheid sich als unleserlich erwies.
Die Klagefrist begann damit am 8. November 2018 zu laufen und endete mit Ablauf des 7. Dezember 2018 (§ 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Alt. 1 BGB).
Abgesehen davon, dass ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO nicht gestellt worden ist, wäre ein solcher jedenfalls wegen Ablaufs der Jahresfrist nach § 60 Abs. 3 VwGO unzulässig.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Da die Klage des Klägers bereits unzulässig ist, hat er die Hälfte der Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Klägerin hat 4/10 der Verfahrenskosten zu tragen, da sie mit ihrem Klagebegehren weitgehend unterlegen ist.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben