Verwaltungsrecht

Flüchtlingsanerkennung für Syrer ohne Vorverfolgung

Aktenzeichen  W 2 K 16.31341

Datum:
6.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 140364
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid vom 10. August 2016 (Gz. …*) wird in Ziffer 2 aufgehoben.
II.Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
III.Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.   

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit dem Schreiben der Klägerbevollmächtigten vom 13. September 2016 und der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. Februar 2016 mit Ergänzung vom 24. März 2016 vor.
Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz Asylgesetz (AsylG) i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I 2008, 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 31. Juli 2016, ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der Entscheidungsfindung maßgeblich.
Die Klage ist zu diesem Zeitpunkt sowohl zulässig, als auch begründet.
Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylG ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er befindet sich nach Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen seiner vermuteten politischen Überzeugung außerhalb Syriens.
Zwar hat er Syrien – auch nach eigenem Vortrag – ohne Vorverfolgung verlassen, jedoch droht ihm nach Überzeugung des Gerichts nach einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den syrischen Staat. Gem. § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat.
Das Gericht geht davon aus, dass der syrische Staat auch gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags in Verbindung mit einem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Ausdruck einer regimekritischen Gesinnung sieht und zum Anknüpfungspunkt für Festnahme und Folter nimmt. In Übereinstimmung mit beachtlichen Teilen der Rechtsprechung (vgl. statt vieler: VG Trier, U.v. 16.6.2016, Az. 1 K 1576/16.TR – juris; VG Köln, U.v. 23.6.2016, Az. 20 K 1599/16.A – juris; VG Regensburg, U.v. 29.6.2016, Az. RO 11 K 16.30707 – juris; VG Düsseldorf, GB v. 10.8.2016, Az. 3 K 7501/16.A) gewinnt das Gericht diese Überzeugung aus den in das Verfahren einbezogenen Erkenntnisquellen.
Zwar liegen seit dem generellen Abschiebestopp im April 2011 keine aktuellen Fallbeispiele von Rücküberstellungen aus westlichen Ländern vor. Allerdings weist das Auswärtige Amt (Auskunft der Botschaft Beirut an das Bundesamt vom 3.2.2016) darauf hin, dass Syrien-Rückkehrer befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien. Dies stehe überwiegend in Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst. Da Flüchtlinge, die aus den Nachbarländern zurückkehren, nicht vergleichbar sind mit Rückkehrern aus westlichen Ländern (so auch VG Regensburg, a.a.O.), lässt sich daraus nicht folgern, dass das Regime seine Praxis der geheimdienstlichen Überwachung und Befragung von rückkehrenden Asylbewerbern aufgegeben hat. Es besteht kein Anlass für die Annahme, dass sich der Umgang des syrischen Regimes mit Personen, die sich durch einen Asylantrag und einen längeren Aufenthalt im westlichen Ausland tatsächlich oder vermeintlich einer regimekritischen Haltung verdächtig gemacht haben, etwas geändert hätte. Im Gegenteil ist im Zuge der seit März 2011 anhaltenden Eskalation der politischen Konflikte in Syrien davon auszugehen, dass sich die Gefährdungslage weiterhin erheblich verschärft hat und der syrische Staat eine illegale Ausreise, Aufenthalt im westlichen Ausland und Asylantragstellung inzwischen generell als Ausdruck einer regimekritischen Überzeugung auffasst (vgl. statt vieler: VG Köln, U.v. 26.6.2016, Az. 20 K 4130/13.A – juris). Zur Überzeugung des Gerichts ist der syrische Staat nach wie vor darauf ausgerichtet, alle Lebensbereiche seiner Staatsangehörigen totalitär zu durchdringen und jede als regimekritisch gewertete Handlung oder Gesinnung durch Inhaftierung und Folter bereits im Keim zu ersticken (vgl. dazu ausführlich: OVG Sachsen-Anhalt, U.v. 18.7.2012, Az. 3 L 147/12 – juris).
So knüpft die obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte bei der Rückkehr auch dann an die unterstellte politische Überzeugung an, wenn die Befragung sich nicht (nur) auf die eigene Haltung bezieht, sondern unter anderem der allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene dient (vgl. VG Regensburg, U.v. 29.6.2016, a.a.O. unter Verweis auf VG Köln, U.v. 22.5.2014, Az. 20 K 3152/13.A). Damit verbunden sind die Gefahr von Verfolgungshandlungen in Form von Festnahme und Folterung, wie sie beispielsweise von Amnesty International („It breaks the human – torture, disease and death in Syria’s prisons“, August 2016) detailliert dokumentiert sind. Selbst bei einer routinemäßigen Befragung zur allgemeinen Informationsgewinnung ohne individuelle Verdachtsmomente besteht – zur Überzeugung des Gerichts – die erhebliche Gefahr von Folter (vgl. Amnesty International, a.a.O.).
Diese – auch von der Beklagten bis vor kurzen in ständiger Entscheidungspraxis geteilte Einschätzung – ist auch nicht durch die bürgerkriegsbedingte Destabilisierung des syrischen Regimes oder die massenhafte Ausstellung von Pässen seit Januar 2015 erschüttert. Zwar ist auf Beschluss von Präsident Assad für eine Passausstellung keine Bescheinigung des syrischen Geheimdienstes („Muhabarat“) mehr erforderlich (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt vom 19.4.2016, Gz. 508-9-516.80/48699). Wie insbesondere das VG Regensburg (a.a.O.) unter Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes (Botschaft Beirut) an das Bundesamt vom 3. Februar 2016 überzeugend ausführt, ist die geänderte Ausstellungspraxis wohl überwiegend finanziell motiviert und lässt keinen Rückschluss auf eine „liberale Haltung“ des Regimes gegenüber Rückkehrern aus dem westlichen Ausland zu.
Auch liegen keine Erkenntnisse vor, aus denen zuverlässig geschlossen werden kann, dass das syrische Regime zu Verfolgungshandlungen gegenüber Rückkehrern aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage wäre (so aber z.B. OVG NRW, B.v. 7.5.2013 – 14 A 1008/13.A). Zwar mag das Regime um das politische und physische Überleben kämpfen und die Kontrolle über erhebliche Landesteile verloren haben (so die Begründung des OVG NRW, a.a.O.), jedoch bedarf es für eine obligatorische Befragung von Rückkehrern keiner weitergehenden Ressourcen als sie das Assad-Regime derzeit jedenfalls noch hat (so auch VG Regensburg, U.v. 29.6.2016, RN 11 K 16.30666 – juris). Denn eine (unterstellte) Rückführung würde seitens des rückführenden Staates immer in Abstimmung mit den Behörden des aufnehmenden, d.h. des syrischen Staates erfolgen. Organisatorisch wären für eine obligatorische Befragung und der damit verbundenen Foltergefahr der abgelehnten Asylbewerber aus dem westlichen Ausland also lediglich die Kontrolle über den internationalen Flughafen in Damaskus sowie dort angesiedelte Mitarbeiter und Gefängnisse notwendig. Ob es in dieser Situation für das Assad-Regime „sinnvoller“ wäre, die vorhandenen Ressourcen anders einzusetzen, ist reine Spekulation und wird weder durch die ins Verfahren einbezogenen Erkenntnisquellen gestützt, noch lässt die allgemeine Berichterstattung zuverlässig auf solche Liberalisierungstendenzen schließen. So geht auch das VG Regensburg (a.a.O.) nicht davon aus, dass die syrische Regierung es angesichts der Zuspitzung der Situation in Syrien und des Überlebenskampfes des Assad-Regimes den Verfolgungsdruck auf aus dem westlichen Ausland zurückkehrende Staatsangehörige mildert oder gar aufgibt.
Im Fall des Klägers als einem jungen Mann im wehrfähigen Alter muss dieser bei einer Rückkehr nach Syrien mit einer sofortigen Einberufung rechnen. So berichtet das Auswärtige Amt, dass bereits im November 2015 binnen weniger Wochen mehrere tausend Personen in Syrien zum Wehrdienst eingezogen worden seien (unbestätigte Zahlen variierten zwischen 7000 und 11.000). Laut Augenzeugenberichten solle sich die Anzahl junger Männer in den Straßen Damaskus deutlich reduziert haben. Es werde berichtet, dass über die Überprüfung an den Checkpoints hinaus auch Wohnhäuser aufgesucht werden, um Wehrdienstverweigerer zu rekrutieren. Auch gäbe es verlässliche Berichte, dass inhaftierte Personen aus dem Gefängnis heraus zum Militärdienst eingezogen worden seien. Selbst wenn der Kläger also Inhaftierung und Folter durch einen sofortigen Eintritt in die syrische Armee abwenden könnte, läge eine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a AsylG vor. Denn damit wäre er gezwungen, sich in eine Armee einzufügen, aus deren Reihen heraus, im aktuell herrschenden Bürgerkrieg Kriegsverbrechen und Folter begangen werden. So listet § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ausdrücklich die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt als Verfolgungshandlung auf, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 (Kriegsverbrechen usw.) fallen. Daraus ist zu folgern, dass auch die konkrete Gefahr der Rekrutierung in eine Armee, aus deren Reihen heraus mit Wissen und Billigung der militärischen Führung Kriegsverbrechen begangen werden, als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG anzusehen ist. Schon angesichts der allgemein zugänglichen täglichen Berichtserstattung ist das Gericht überzeugt, dass im syrischen Bürgerkrieg auch seitens der Regierungstruppen fortgesetzt und systematisch Kriegsverbrechen, wie beispielsweise die Bombardierung ziviler Versorgungseinrichtungen oder Folter von Kriegsgefangenen, begangen werden. Für den Kläger, der bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer sofortigen Rekrutierung zur syrischen Armee zu rechnen hätte, besteht mithin zusätzlich die beachtliche Gefahr einer weiteren Verfolgungshandlung.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht dem Kläger nicht zur Verfügung, da er bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus keinen (möglicherweise) sicheren Landesteil sicher und legal erreichen kann, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG.
Der Kläger erfüllt damit die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Seiner Klage ist stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gerichtsverfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.


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