Verwaltungsrecht

Flüchtlingseigenschaft eines syrischen Wehrpflichtigen

Aktenzeichen  AN 15 K 17.30203

Datum:
2.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 164888
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1 und 4, § 3a, § 3b Abs. 1 Nr. 5, § 28 Abs. 1a

 

Leitsatz

1. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer  Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG NVwZ 2013, 936). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht vorliegend deshalb, weil sich der Kläger durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst in Syrien entzogen hat. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Januar 2017 wird in der Ziffer 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die aufgrund der Verzichtserklärungen der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist begründet. Die Beklagte hat mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 und der Kläger mit Schriftsatz seines Vormunds vom 23. Mai 2017 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Streitgegenstand ist vorliegend die Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamtes vom 16. Januar 2017 und somit die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG besitzt.
Der streitgegenständliche Bescheid ist insoweit rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), da dem Kläger im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zusteht.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl, 1953 II S. 559, 560-Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung kann dabei gemäß § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen, § 3e AsylG. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013, a.a.O. und 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie). Diese Vermutung kann aber wiederlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris).
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf ein Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Dabei greift für derartige Nachfluchttatbestände in einem Erstverfahren die Einschränkung des § 28 Abs. 2 AsylG nicht, wonach bei einem Folgeantrag Nachfluchtgründe in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht begründen können.
Das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals und hinsichtlich der zu treffenden Prognose, dass dieses die Gefahr politischer Verfolgung begründet, erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, U.v. 16.04.1985, Buchholz 402.25 § 1 AsylG Nr. 32). Demgemäß setzt ein Asylanspruch bzw. die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumung von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbegehren lückenlos zu tragen (BVerwG, U.v. 8.5.1984, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 147).
An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerfG, B.v. 29.11.1990, die InfAuslR 1991, 94, 95; BVerwG, U.v. 30.10.1990, Buchholz 402.25 § 1 AsylG Nr. 134; B.v. 21.7.1989, Buchholz a.a.O., Nr. 113).
In Anwendung dieser Grundsätze droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
Zwar ist der Kläger nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben könnten, hat der Kläger nicht substantiiert geltend gemacht.
Eine begründete Flucht vor Verfolgung ergibt sich aber aus den Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat. Mithin liegen Nachfluchtgründe im Sinne des § 28 Abs. 1a AsylG vor.
Es ergeben sich derartige Nachfluchtgründe nicht aus dem Umstand, dass der aus Syrien ausgereiste Kläger in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten hat. Diese Umstände allein rechtfertigen nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen den Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen. Das erkennende Gericht schließt sich in diesem Zusammenhang den Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2016 (Az. 21 B 16.30338, 21 B 16. 30364 und 21 B 16.30371 – juris) an, der nach Auswertung der maßgeblichen und auch in das vorliegende Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen zu diesem Ergebnis kommt.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht aber deshalb, weil sich der Kläger durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat. Als 46-Jähriger ist der Kläger zwar grundsätzlich nicht mehr in Syrien wehrpflichtig, da dort eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis 42 Jahren besteht (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada – Antwort auf Informationsanfragen v. 13. August 2014, SYR104921.E, S. 5). Das wehrdienstpflichtige Alter wurde jedoch seit dem Ausbruch des Krieges erhöht, wobei nicht klar ist, ob es dazu eine offizielle Weisung gab, ob sich nur die Praxis geändert hat, oder ob das höchst Alterslimit prinzipiell aufgehoben wurde (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion – Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 23. März 2017). Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass vor allem technische Experten, die älter als 42 Jahre sind eingezogen werden und dass Reservisten im Alter von 52 oder sogar 54 Jahren rekrutiert werden. Je nach Region und Umständen seien sogar Männer im Alter zwischen 50 und 60 Jahren zum Militärdienst herangezogen worden, sodass die Altersgrenze von 42 Jahren nicht mehr als starre Grenze dafür herangezogen werden kann, dass Männer im Alter von über 42 Jahren bei ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr als Reservisten für den Wehrdienst herangezogen werden.
Die Wehrpflicht des Klägers entfällt auch nicht vor dem Hintergrund der sogenannten „EinSohn-Regelung“, wonach der einzige Söhne einer Familie nicht wehrpflichtig ist (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2016, Az. 21 B 16.30371 – juris), da der Kläger vor dem Bundesamt im Zuge seiner Anhörung glaubwürdig angegeben hat, noch einen Bruder zu haben. Vor diesem Hintergrund ist es nach Auffassung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines notstandsfesten grundlegenden Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 15 Abs. 2 EMRK, Art. 3 EMRK). Aufgrund des Umstands, dass die syrischen Machthaber um des Erhalts ihrer infolge des syrischen Bürgerkriegs bedrohten Herrschaft willen mit äußerster Härte gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitsbehörden den Kläger, der sich durch seinen Auslandsaufenthalt dem Wehrdienst entzogen hat, bei Rückkehr in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale, nämlich eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung als Oppositionellen behandeln (vgl. zu alldem BayVGH, U.v. 12.12.2016, Az. 21 B 16.30372 – juris – und den darin ausgewerteten und zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen).
Der Kläger gehört auch zu der Personengruppe der militärdienstpflichtigen Personen (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich im Bürgerkrieg nicht den Regierungstruppen des Präsidenten Assad zur Verfügung gestellt haben. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Syrien hat und palästinensischer Volkszugehörigkeit ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, U.v. 2.5.2017 – A 11 S 562/17 – juris; U.v. 28.6.2017 – A 11 S 664/17 – juris). Staatenlosen Palästinensern, die Syrien verlassen haben, droht ebenfalls im Falle der Rückkehr nach Syrien der Wehrpflicht zu unterliegen und sind konkret von der Strafverfolgung oder Bestrafung bedroht. Zumindest müssen auch staatenlose Palästinenser mit menschenwidriger Behandlung oder Folter bei Verhören bzw. Befragungen durch den syrischen Staat rechnen, wenn sie sich durch Flucht aus Syrien dem Militärdienst entzogen haben. In Syrien besteht Militärdienstpflicht, die grundsätzlich für alle syrischen Männer unabhängig von ethnischen oder religiösem Hintergrund wie auch für Palästinenser, die in Syrien leben, gilt (VGH BadenWürttemberg, U.v. 2.5.2017, a.a.O., Rn. 43).
Nach alledem ist der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO, § 711 ZPO.


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