Verwaltungsrecht

FreizügG/EU, Staatsangehörigkeit: Polen, Verlustfeststellung wegen Straffälligkeit, Drogenabhängigkeit, Aussetzung des Vollzugs der Reststrafe zur Bewährung

Aktenzeichen  M 4 K 19.2323

Datum:
12.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42406
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1
FreizügG/EU § 6 Abs. 2
FreizügG/EU § 6 Abs. 3
FreizügG/EU § 6 Abs. 4
§ 7 Abs. 2 FreizügG/EU

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
I. Die Klage ist unbegründet. Die Verlustfeststellung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die Dauer von sieben Jahren sind rechtmäßig (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Maßgebend für die rechtliche Beurteilung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2013 – 10 ZB 11.607 – juris; BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris).
1. Die Feststellung, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, ist rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU.
1.1. Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt unbeschadet des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden; die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU für sich allein nicht. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU).
Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass in der Regel eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (EuGH, U.v. 22.5.2012 – C – 348/09 – juris Rn. 33 f.; BayVGH, U.v. 25.3.2021 – 19 ZB 19.950 – juris Rn. 11). Dieser Maßstab verweist – anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht – nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 24; BayVGH, U.v. 25.3.2021 – 19 ZB 19.950 – juris Rn. 11).
Nach ständiger Rechtsprechung haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen/Verlustfeststellungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (VGH BW, U.v. 15.1.2013 – 11 S 800/19 – juris Rn. 120 m.w.N.). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (VGH BW, a.a.O). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 25.3.2021 – 19 ZB 19.950 – juris Rn. 11; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18).
1.2. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung des Einzelfalls besteht nach Auffassung des Gerichts unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere von Körperverletzungs- und Eigentumsdelikten, ausgeht. Das Verhalten des Klägers, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hinreichend hohe Rückfallgefahr nahe. Bei den dadurch berührten Rechtsgütern Leben, Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und Eigentum (Art. 14 GG) handelt es sich um bedeutsame Rechtsgüter, deren Schutz ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt.
Für das Fortbestehen der Gefahr durch den Kläger streiten insbesondere seine langjährige Delinquenz (1.2.1.) und Drogenabhängigkeit (1.2.2.). Die Aussetzung des Vollzugs der Unterbringung und der Reststrafe zur Bewährung durch das Strafgericht aufgrund der gutachterlichen Einschätzung führen nicht zu einer abweichenden Beurteilung (1.2.3.).
Der Kläger kann sich nicht auf den erhöhten Schutz des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU berufen, wonach eine Feststellung des Verlusts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden kann, da er sich ab dem 2. Juni 2016, dem Zeitpunkt seiner Anmeldung in München bis zum dafür allein maßgeblichen Erlass des streitgegenständlichen Bescheids (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020 – 11 S 955/19 – juris Ls.) am 11. April 2019 noch keine fünf Jahre ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat. Die Aufenthaltszeiten vom 17. September 2007 bis zum 21. Mai 2008 in … und vom 1. August 2014 bis zum 1. Oktober 2014 im Landkreis … werden dafür nicht angerechnet, da der Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ununterbrochen bestehen muss („seit“) (Bergmann/Dienelt/Dienelt, 13. Aufl. 2020, FreizügG/EU § 4a Rn. 27). Unabhängig davon hat sich der Kläger, selbst wenn man seine Voraufenthaltszeiten addieren würde, nicht fünf Jahre im Bundesgebiet aufgehalten.
1.2.1. Vom persönlichen Verhalten des Klägers geht gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die durch seine Delinquenz indizierte Gefährlichkeit ist zur Überzeugung des Gerichts im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung nicht beseitigt. Der Kläger wurde vor der letzten Verurteilung bereits mehrmals verurteilt, was ihn nicht von erneuter Straffälligkeit abhielt.
1.2.1.1. Seit seiner letzten Einreise ins Bundesgebiet im Jahr 2016 – gemeldet war der Kläger in … ab dem 2. Juni 2016 – ist er bereits zwei Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten und wurde bereits relativ kurz nach seiner Einreise mit Strafbefehl vom 22. August 2018 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung und Beleidigung am 27. Februar 2017 verurteilt. In der Folge hat der Kläger seine Delinquenz erheblich gesteigert. Der Kläger wurde mit strafgerichtlichem Urteil vom 12. Dezember 2018 wegen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.
1.2.1.2. Auch im Rahmen der angeordneten Unterbringung im … zeigte der Kläger, dass er nicht willens oder nicht in der Lage ist, sich an die geltenden Regeln zu halten. Da der Sicherheitsdienst am 17. Juli 2019 entgegen den Vorschriften des Klinikums zwei Handys in seinem Besitz fand, wurde dort ein Disziplinarverfahren gegen den Kläger eingeleitet.
1.2.1.3. Zudem zeigt der Kläger zeigt nach Auffassung des Gerichts keine Tateinsicht. In der mündlichen Verhandlung am 12. Oktober 2021 lehnte der Klägers es ab, sich zur Anlasstat vom 4. November 2017 zu äußern, er bestritt auch, seine Lebensgefährtin geschlagen zu haben. In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht München I gestand der Kläger die Tat „erst spät“. Im Rahmen der Unterbringung im … verneinte er auf Nachfrage „beharrlich“, ein illegales Handy zu besitzen. Gegenüber seiner Bewährungshelferin erwähnte der Kläger die laufenden polizeilichen Ermittlungen ebenfalls nicht. In diesem Lichte wirkt auch die von der Bewährungshelferin dargelegte Veränderungsmotivation des Klägers nicht derart stabil und beständig, zumal sie die ihr nicht mitgeteilten laufenden Strafverfahren als wesentlichen Teil der Resozialisierung des Klägers bezeichnet.
1.2.2. Bei Straftaten, die – wie hier – auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (z.B. BayVGH, U.v. 25.3.2021 – 19 ZB 19.950 – juris Rn. 26; BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – juris Rn. 9; BayVGH B.v. 7.2.2018 – 10 ZB 17.1386 – juris Rn. 10). Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Regelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, U.v. 25.3.2021 – 19 ZB 19.950 – juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 7).
1.2.2.1. Der Kläger hat, vor allem unter Berücksichtigung seiner langen Drogenabhängigkeit und der bereits erfolgten stationären Drogentherapie in Polen, seit Ende der Therapie und seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug am 5. September 2020 bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung am 12. Oktober 2021 noch nicht ausreichend Zeit außerhalb des Strafvollzugs verbracht, um einen dauerhaften Einstellungswandel glaubhaft zu machen. Zudem wird in der Epikrise des …s vom 18. November 2020 dargestellt, dass der Kläger sich während der Unterbringung insgesamt nur wenig motiviert gezeigt habe. Therapeutische Hausaufgaben habe er nur nach mehrmaligem Nachfragen und deutlicher zeitlicher Verzögerung erledigt. Eine Deliktbearbeitung sei daher aufgrund der fehlenden Motivation nur in Ansätzen möglich gewesen (S. 8 Epikrise). Selbst unter Berücksichtigung der seit seiner Entlassung am 5. September 2020 mit negativen Befunden durchgeführten Drogen- und Alkoholtests kommt das Gericht daher angesichts der langjährigen Abhängigkeit und der kurzen Zeit in Freiheit zu keiner anderen Einschätzung.
1.2.2.2. Soweit der Kläger nach der Aussetzungsentscheidung – soweit ersichtlich – nicht strafrechtlich verurteilt wurde und keine Bewährungsverstöße begangen hat, ist dies nur bedingt aussagekräftig, weil es allgemeiner Erfahrung (und der Absicht des Gesetzgebers) entspricht, dass die Möglichkeit, eine zur Bewährung verfügte Strafrestaussetzung zu widerrufen, einen erheblichen Legalbewährungsdruck erzeugt, also zu erheblichen Anstrengungen in Richtung Selbstdisziplin und Lebensordnung führen kann. Dies ergibt sich unter anderem daraus, dass die mit der Strafrestaussetzung zur Bewährung verbundene niedrigschwellige Möglichkeit einer Inhaftierung anerkanntermaßen wesentlich besser als die (nach einer Vollverbüßung meist eintretende) Führungsaufsicht geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls zu mindern. Zusätzlich wirkt auf das Verhalten des Klägers das laufende Verlustfeststellungsverfahren ein. Eine drohende Verlustfeststellung erzeugt häufig einen Legalbewährungsdruck, der über denjenigen einer drohenden Inhaftierung hinausgehen kann; erst recht gilt dies für einen erlassenen, aber noch nicht bestandskräftigen Verlustfeststellungsbescheid. Zu diesem Legalbewährungsdruck trägt wesentlich der Umstand bei, dass im Verlustfeststellungsrechtsstreit aktuelle Entwicklungen zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 25.3.2021 – 19 ZB 19.950 – juris Rn. 25).
1.2.3. Vor dem dargestellten Hintergrund sieht das Gericht – abweichend vom Beschluss des Strafvollstreckungsgerichts Landgericht München I vom 20. August 2020, den Rest des Vollzugs der Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen – weiterhin eine vom Aufenthalt des Klägers ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Insbesondere besteht die Gefahr der Begehung von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum weiter fort.
1.2.3.1. Das Gericht ist bei der Gefahrenprognose nicht an die vom Strafvollstreckungsgericht Landgericht München I bei dessen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung getroffene Einschätzung gebunden. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – juris). Eine Bindungswirkung geht von den strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidungen jedoch nicht aus. Die Prognose, ob der Ausländer eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt, bestimmt sich nämlich nicht nach strafrechtlichen Gesichtspunkten, auch nicht nach dem Gedanken der Resozialisierung. Vielmehr haben die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 34; BeckOK MigrR/Katzer, AufenthG, § 53 Rn. 22). Es bedarf jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer abgewichen wird (BayVGH, B.v. 27.9.2019 – 10 ZB 19.1781 – juris Rn. 11).
Bei Strafrestaussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit ggf. unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es im ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahren um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Betroffenen während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potenzial, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – juris Rn. 19).
1.2.3.2. Nach diesen Grundsätzen ergibt sich ausländerrechtlich unter Berücksichtigung des längeren Prognosezeitraums über die Bewährungszeit hinaus und des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes des § 57 StGB, der beinhaltet, auch ein gewisses Restrisiko zuzulassen, eine Prognose dahingehend, dass die vom Kläger ausgehende Gefahr fortbesteht. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass trotz der die Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe aussetzenden Entscheidung vom 20. August 2020 auch das Strafgericht der Auffassung ist, dass beim Kläger die Gefahr der weiteren Begehung von Straftaten besteht und dieser Gefahr vorgebeugt werden muss. Dies lässt sich dem Umstand entnehmen, dass eine fünfjährige Bewährungsfrist (die gesetzliche Maximaldauer) und strafbewehrte Auflagen festgelegt worden sind.
Die Therapie war aufgrund der geringen Deutschkenntnisse des Klägers nur eingeschränkt möglich. Der Sachverständige … nahm in seinem Gutachten für eine Unterbringung nach § 64 StGB an, dass der Kläger für eine Behandlung mit hinreichenden Erfolgsaussichten seine Deutschkenntnisse deutlich verbessern müsste. Jedoch erwähnen das der Entlassung zugrundeliegende Gutachten vom … und die Epikrise des …s vom 18. November 2020 mehrfach, dass eine therapeutische Auseinandersetzung aufgrund der Sprachschwierigkeiten des Klägers erschwert bzw. kaum möglich war (S. 5 und 7 Gutachten; S. 7 und 8 Epikrise). Bis jetzt hat sich der Kläger nicht nachhaltig um die Verbesserung seiner Deutschkenntnisse bemüht. Entgegen seiner bisherigen mehrfachen Beteuerungen hat der Kläger zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch außerhalb der Unterbringung keinen Deutschkurs zur Verbesserung seiner Sprachkenntnisse absolviert.
Das Gericht hält es für hinreichend wahrscheinlich, dass es beim Kläger in Zukunft aufgrund von Beziehungsproblemen zu hohem emotionalen Stress kommt, was gemäß der Epikrise der forensischen Ambulanz des …s vom 18. November 2020 zu einem Suchtmittelrückfall und in der Folge zu weiterer Delinquenz führen kann. Gemäß der die Gefährlichkeitsprognose des Gutachtens vom … relativierenden Epikrise des …s „ist damit zu rechnen, dass es unter gewissen Bedingungen zu erneuten Straftaten vergleichbar den Indexdelikten kommen kann. Zu diesen Bedingungen gehört primär ein erneuter Suchtmittelrückfall, der vor allem durch hohen emotionalen Stress oder eine fehlende Tagesstruktur bedingt werden kann. Bei … ist hoher emotionaler Stress vor allem bei Beziehungsproblemen oder finanziellen Schwierigkeiten zu erwarten.“ Die Lebensgefährtin des Klägers gab bei ihrer polizeilichen Zeugenaussage vom … 2021 an, der Kläger habe sie nach einem Beziehungsstreit mehrfach mit der Faust gegen den Kopf geschlagen und stellte zunächst einen Strafantrag (S. 16 – 20 der Strafakte zum Verfahren Az.: 257 Js 170583/21). Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren dann mit Verfügung vom 3. September 2021 mangels Strafantrag ein. In der mündlichen Verhandlung am 12. Oktober 2021 gab der Kläger an, er habe mit seiner aktuellen Lebensgefährtin Frau K. einmal Streit gehabt, bestritt aber, sie geschlagen zu haben. Die Freundin von Frau K. habe die Polizei nur gerufen, weil sie eifersüchtig gewesen sei. Angesichts der widersprechenden Aussagen des Klägers und seiner Lebensgefährtin, die nach der polizeilichen Zeugenaussage zunächst auch ein polizeiliches Ermittlungsverfahren gegen den Kläger einleitete, ergeben sich für das Gericht trotz der Einlassung des Klägers damit noch genügend Anhaltspunkte dafür, dass auch in Zukunft Probleme in der Beziehung entstehen, die geeignet sind, beim Kläger hohen emotionalen Stress hervorzurufen, der zum Suchtmittelrückfall führen kann. Unabhängig davon erscheint es auch nicht ausgeschlossen, dass die finanzielle Situation des Klägers, der ausweislich seiner Aussage in der mündlichen Verhandlung Schulden in Höhe von 23.000 Euro hat und einer Beschäftigung im Niedriglohnsektor nachgeht, zu einem solchen emotionalen Stress führen kann.
Darüber hinaus stellen sich die dem zur Entlassung führenden Gutachten vom … zu Grunde gelegten Tatsachen, vor allem zu Partnerschaft und Beruf im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung ebenfalls als anders dar, als im Gutachten angenommen. Der Gutachter legte unter anderem für den Kläger als „prognostisch sicherlich günstig“ zugrunde, dass er in einer stabilen Partnerschaft sei (S. 7 Gutachten). Diese Annahme hat sich aber nicht erfüllt, da der Kläger alleine lebt, sich von seiner langjährigen Lebensgefährtin getrennt hat und entgegen seinen zunächst geäußerten Plänen nicht zu ihr nach Baden-Württemberg gezogen ist. Das Gericht erkennt zum entscheidungsrelevanten Zeitpunkt vor allem vor dem Hintergrund der polizeilichen Ermittlungen aufgrund der Geschehnisse vom … … 2021 nicht, dass der Kläger mit seiner nunmehrigen Lebensgefährtin in einer derart stabilen konfliktfreien Partnerschaft lebt. Ferner stellt sich das vom Kläger nach seiner Entlassung erwartete berufliche Umfeld ebenfalls als anders dar, da er nun – entgegen seines ursprünglich angegebenen Plans – nicht mehr auf der von ihm angegebenen Baustelle in … arbeitet, wo ihm nach seinen Angaben eine Festanstellung in Aussicht gestellt wurde, sondern bei einer Münchner Zeitarbeitsfirma.
1.2.4. Die Beklagte hat die persönlichen Interessen des Klägers bei ihrer Entscheidung über die Verlustfeststellung zutreffend berücksichtigt und gewichtet. Hierbei kann das Gericht wegen § 114 Satz 1 VwGO die Ermessensentscheidung der Beklagten lediglich daraufhin überprüfen, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessen überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesen Vorgaben ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden.
Nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Verlustfeststellung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Daneben spielen die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bedrohten Rechtsguts, sowie die Entwicklung und die Lebensumstände des Klägers eine wichtige Rolle (vgl. BayVGH, B.v. 23.11.2010 – 19 ZB 10.584 – juris). Die Beklagte hat alle für den Kläger maßgeblichen Umstände berücksichtigt. Insbesondere hat sie zutreffend festgestellt, dass der Kläger keine familiären Bindungen unter dem Schutz des Art. 6 GG im Bundesgebiet hat. Ermessensfehler im Hinblick auf die Verlustfeststellung sind für das Gericht nicht ersichtlich.
2. Auch die Befristungsentscheidung gemäß § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Fristlänge von sieben Jahren ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU) nicht unverhältnismäßig bzw. unzumutbar.
Die Befristungsentscheidung ist auf der Grundlage der aktuellen Tatsachengrundlage und unter Würdigung des Verhaltens des Betroffenen nach der Verlustfeststellung zu treffen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 31 m.w.N.). Dabei ist in einem ersten Schritt eine an dem Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung sowie dem mit der Maßnahme verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierte äußerste Frist zu bestimmen. Hierzu bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf die im vorliegenden Fall bedeutsame Gefahrenschwelle des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 35; VGH BW, U.v. 15.2.2017 – 11 S 983/16 – juris Rn. 36). Die im Hinblick auf die zur Gefahrenabwehr als erforderlich angesehene Sperrfrist ist einem zweiten Schritt unter Berücksichtigung schützenswerter Interessen des Klägers zu ermitteln und zu gewichten (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 37). Maßgebend ist die aktuelle Situation des Betroffenen (vgl. BayVGH, B.v. 23.7.2020 – 10 ZB 20.1171 – juris Rn. 19; U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 51; B.v. 21.4.2016 – 10 ZB 14.2448 – juris Rn. 5 m.w.N.).
Gemessen daran erweist sich die Befristung auf sieben Jahre vor dem Hintergrund der vom Kläger ausgehenden Gefahr für die besonders schützenswerten Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit und des Eigentums als angemessen. Der Kläger, der nicht daueraufenthaltsberechtigt war und sich deshalb nicht auf die Schutzvorschriften des § 6 Abs. 4 und Abs. 5 FreizügG/EU berufen kann, hat keine erheblichen Bindungen im Bundesgebiet geltend gemacht. Seine aktuelle Lebensgefährtin Frau K. ist polnische Staatsangehörige, sein volljähriger Sohn lebt in Polen. Lediglich die Schwester des Klägers lebt in Hamburg. Sein bisheriger Aufenthalt im Bundesgebiet war mit mittlerweile über fünf Jahren, davon mehr als zwei Jahre in Haft bzw. im Maßregelvollzug nicht von langer Dauer. Eine nachhaltige wirtschaftliche Integration hat nicht stattgefunden. Der Kläger ist im Bundesgebiet außerhalb des Maßregelvollzugs und der Untersuchungshaft wechselnden ungelernten Tätigkeiten nachgegangen und hat Schulden in Höhe von 23.000 Euro.
3. Die Abschiebungsandrohung begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken.
Die Klage war somit abzuweisen.
II. Der Kläger trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO.
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO


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