Verwaltungsrecht

Generelle Zusicherungen eines EU-Mitgliedstaates bei Überstellung von Flüchtlingen

Aktenzeichen  20 ZB 19.31553

Datum:
25.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 15384
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, 3
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Eine Erklärung eines EU-Mitgliedstaates, die sich auf die Feststellung beschränkt, dass die Richtlinie 2011/95/EU (Anerkennungs-RL) in nationales Recht umgesetzt worden sei und dass eine richtlinienkonforme Behandlung der Rückkehrer zugesichert werde, kann nicht als konkrete Zusicherung verstanden werden, die geeignet wäre, im Einzelfall ein ansonsten bestehendes Abschiebungsverbot zu beseitigen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 11 K 18.30914 2019-03-08 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts ist unbegründet, da die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ebenso wenig wie der behauptete Verfahrensfehler (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) vorliegt.
1.
Das Bundesamt wirft in seinem Zulassungsantrag die Frage auf,
ob es im Rahmen des asylrechtlichen Verfahrens für den Erlass der Überstellungsentscheidung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union bei dort im Sinne der sog. Tarakhel-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als problematisch eingestuften Verhältnissen zumindest dann, wenn der zu überstellende Drittstaatsangehörige der Gruppe der besonders vulnerablen Personen angehört, einer einzelfallbezogen abzugebenden Zusicherung bezüglich adäquater (Wieder) Aufnahmebedingungen bedarf
und
welche Mindestanforderungen eine solche Zusicherung erfüllen muss
sowie die Tatsachenfrage,
ob die durch Griechenland mit Schreiben vom 8. Januar 2018 abgegebene Erklärung diese Mindestanforderungen erfüllt.
Die vom Bundesamt aufgeworfenen Fragen können anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung beantwortet werden und sind folglich nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Was das Bundesamt bei einer Rückführung eines Flüchtlings in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union im Hinblick auf Art. 3 EMRK zu beachten hat, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des EGMR, des EuGH, des BVerfG und des BVerwG geklärt.
In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist anerkannt, dass die Rückführung eines Flüchtlings in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 EMRK auch durch den rückführenden Staat darstellen und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründen kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort gegen Art. 3 EMRK verstoßende Bedingungen herrschen, das heißt, dass der Flüchtling dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist. Solche Bedingungen können dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. hierzu insgesamt EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – M.S.S. gg. Belgien und Griechenland, Rn. 263 f. und 365 ff., vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss v. 31.7.2018 – 2 BvR 714/18 – NVwZ-RR 2019, 209).
Das setzt allerdings voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK erforderliche „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) erreicht wird. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist nach der Rechtsprechung des EGMR, der das Bundesverwaltungsgericht folgt (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – NVwZ 2019, 61 Rn. 9 m.w.N. zur Rechtsprechung von EuGH und EGMR), relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenden körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen.
Ein derartiger Schweregrad kann demnach erreicht sein, wenn die Betroffenen ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61 – juris Rn. 11).
Auch in seiner neuen Entscheidung zum Vorliegen einer Verletzung des Art. 3 EMRK bei Abschiebung von Asylantragstellern aufgrund der Lebensbedingungen für die Betroffenen in EU-Mitgliedstaaten bestätigt der EuGH diese Rechtsprechung („extreme materielle Not“). Demnach führen nach den Grundsätzen der Inländergleichbehandlung auch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse nicht zu einer Gefahr der Verletzung des Art. 3 EMRK infolge der Abschiebung. Auch das Fehlen der Rückgriffsmöglichkeit für den Betroffenen auf familiäre Strukturen und Solidarität (wie sie für Angehörige des Mitgliedstaates regelmäßig bestehen dürften) ist kein Grund für eine derartige Annahme. Nach dieser Rechtsprechung rechtfertigt weder ein fehlender Zugang zu Integrationsprogrammen noch bessere Sozialhilfestandards oder Lebensbedingungen im überstellenden Mitgliedstaat die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK (EuGH Große Kammer, Urteil vom 19.3.2019 – C-163/17 – juris, insbes. Rn. 92-95).
Möglich ist aber der Nachweis durch den Betroffenen, dass in seiner Person außergewöhnliche Umstände vorliegen, so dass er sich nach Gewährung internationalen Schutzes aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Wollen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH a.a.O., Rn. 95).
Für die Prüfung, ob im Einzelfall das dargestellte Mindestmaß an Schwere erreicht ist und daher die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, ist das Bundesamt nach § 24 Abs. 2 und § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG zuständig. Aus dem Untersuchungsgrundsatz des § 24 Abs. 1 AsylG ergibt sich, dass das Bundesamt den Sachverhalt klärt und die erforderlichen Beweise erhebt. Für das hier relevante Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bedeutet dies, dass alle für die Beurteilung des Vorliegens einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung relevanten Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung zu ermitteln und zu würdigen sind (BVerwG, B.v. 21.8.2018 – 1 B 40.18 – juris Rn. 14).
Kommt das Bundesamt zur Feststellung, dass die Voraussetzungen vorliegen, hat es ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. Erst in dieser Situation kann über das Vorliegen einer konkreten Zusicherung des aufnehmenden Mitgliedstaates für den Betroffenen gegenüber dem Bundesamt z.B. durch Bereitstellung einer geeigneten Unterkunft erreicht werden, dass eine Rückführung möglich ist.
Das Verwaltungsgericht war unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe der Ansicht, dass die Rückführung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle, weil sie als besonders vulnerabel einzuschätzen sei und sie aufgrund ihrer Erkrankung selbst unter Zuhilfenahme der vorhandenen Unterstützung nicht in der Lage sein werde, in absehbarer Zeit ihr Existenzminimum zu sichern. Es bestehe die Gefahr von Obdachlosigkeit und einer existentiellen Notlage, zumal ihr in Griechenland kein unterstützendes Netzwerk zur Verfügung stünde.
Ob diese Einschätzung des Verwaltungsgerichts zutreffend ist, kann hier dahingestellt bleiben, weil sie durch die Grundsatzrüge der Beklagten nicht in Frage gestellt wird.
Insoweit ist die vom Bundesamt aufgeworfene Frage zweideutig, denn die Klärung problematisch eingestufter Verhältnisse im Zielstaat der Rückführung ist gerade seine Aufgabe und ggf. die der Gerichte. Entweder liegen die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vor oder nicht. Bei der Klärung dieser Frage mag die vom Bundesamt angeführte allgemeine Zusicherung des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 ein Indiz dafür sein, dass die Anforderungen an die Aufnahmebedingungen nach Art. 3 EMRK weitgehend erfüllt sind. Eine abschließende Beantwortung dieser Frage ist allerdings alleine aufgrund dieser Zusicherung nicht möglich. Für das Verwaltungsgericht war jedenfalls auch ausschlaggebend, dass der Klägerin in Griechenland die Obdachlosigkeit droht.
Im vorliegenden Verfahren geht es aber, auch wenn die aufgeworfenen Fragen diese Thematik betreffen, nicht um die Einholung einer Zusicherung, sondern allgemein um die Lebensbedingungen für die als vulnerabel angesehene Familie der Klägerin. Hierbei handelt es sich um eine zielstaatsbezogene Tatsache, die das Bundesamt aufzuklären hat. In diesem Zusammenhang kann es ggf. auch zu der Feststellung gelangen, dass es zur Beseitigung eines ansonsten bestehenden Abschiebungsverbots einer konkreten Zusicherung bedarf, um den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen. Etwas anderes gilt nur für Umstände, die Gefahren betreffen, die sich im Einzelfall im Zusammenhang mit der Durchführung einer Abschiebung ergeben. Hierzu zählt jedoch die Frage nicht, ob Flüchtlinge im Zielstaat Obdach finden können (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61 = juris Rn 15).
Dass die Erklärung des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 nicht als konkrete Zusicherung i.S.d. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Mai 2017 (2 BvR 157/17 – juris) und vom 31. Juli 2018 (2 BvR 714/18 – juris) verstanden werden kann, ergibt sich bereits aus ihrem Wortlaut und bedarf keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Denn sie beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Anerkennungsrichtlinie) in nationales Recht umgesetzt worden sei und sichert eine richtlinienkonforme Behandlung der Rückkehrer zu. Eine – im Sinn der dargestellten Rechtsprechung bei Bestehen eines Abschiebungsverbotes notwendige -Einzelfallregelung wird darin jedenfalls nicht getroffen.
Soweit das Bundesamt darauf verweist, dass bei von Rechtsstaaten abgegebenen Zusicherungen nach der Rechtsprechung des EGMR abgesenkte Anforderungen gelten und sich dazu auf dessen Entscheidung vom 4. Oktober 2016 (Nr. 30747/16 – Jihana ALI and others against Switzerland and Italy) bezieht, trägt diese Argumentation schon deshalb nicht, weil Italien dort Garantieerklärungen für die Zuweisung einer Unterkunft bei Überstellung von Rückkehrerfamilien abgegeben hatte, Griechenland in der Erklärung vom 8. Januar 2018 hingegen lediglich darauf verweist, EU-Recht in nationales Recht umgesetzt zu haben und zurückkehrende Flüchtlinge entsprechend der Anerkennungsrichtlinie zu behandeln. Beides ist nicht vergleichbar.
2.
Entgegen dem Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags hat das Verwaltungsgericht in dem streitgegenständlichen Urteil nicht gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs in Form des Verbots von Überraschungsentscheidungen verstoßen. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit welcher die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (Kraft in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 138, Rn. 33).
Das Verwaltungsgericht hat zwar auf Seite 9 des Urteils ausgeführt, dass die Klägerin als „Vater zweier Kleinstkinder zu der Gruppe der besonders schutzbedürftigen Personen gehört“. Dabei handelt es sich aber aufgrund des Akteninhalts um einen offensichtlichen Schreibfehler im Sinne von § 118 VwGO. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass das Verwaltungsgericht auf den Seiten 14 und 15 des Urteils ausführlich begründet, warum die Klägerin als besonders schutzbedürftige Person eingestuft wird. Grund dafür seien die von der Klägerin im Verfahren vorgelegten ärztlichen Atteste, da auch Personen mit behandlungsbedürftigen, schweren Krankheiten oder gravierenden psychischen Störungen zu den besonders schutzbedürftigen Personen gehörten. Die Passage über den „Vater zweier Kleinstkinder“ ist daher offensichtlich aus einem anderen Urteil heraus kopiert und schließlich bei der letzten Durchsicht dieses Urteils versehentlich nicht herausgelöscht worden.
Da die ärztlichen Berichte, auf die das Verwaltungsgericht seine Einschätzung letztlich gestützt hat, im Verfahren bereits vor der mündlichen Verhandlung vorgelegt worden waren, handelte es sich vorliegend nicht um eine für die Beklagte überraschende Entscheidung.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG.

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