Verwaltungsrecht

Gewährung subsidiären Schutzes wegen drohender Todesstrafe in Afghanistan

Aktenzeichen  M 17 K 16.35536

Datum:
15.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3, § 3e, § 4
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1 Hazara unterliegen in Afghanistan zwar einer gewissen Diskriminierung, sie sind derzeit und in überschaubarer Zukunft aber weder einer an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung noch einer erheblichen Gefahrendichte iSv § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt (VGH München BeckRS 2017, 100326). (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Verbrennung des Korans stellt eine schwere Sünde nach dem Islam dar, wofür unter zunehmendem Einfluss der Scharia in Afghanistan die Todesstrafe droht. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. Dezember 2016 wird in den Nrn. 3 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 2/3, die Beklagte 1/3.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 13. März 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen war. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und insoweit begründet, als der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG hat; Nrn. 3 bis 6 des Bescheids vom 7. Dezember 2016 sind insoweit rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).
1. Das Bundesamt hat zu Recht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) abgelehnt.
1.1 Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d) Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VG Ansbach, U.v. 28.4.2015 – AN 1 K 14.30761 – juris Rn. 65ff. m.V. auf: BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
1.2 Der Umstand, dass der Kläger Hazara und Shiit ist, kann nicht zur Bejahung einer Verfolgung wegen seiner Rasse oder Religion im Sinne von § 3 AsylG führen. Zwar ist der überwiegende Anteil der afghanischen Bevölkerung sunnitischer Religionszugehörigkeit, aber Auseinandersetzungen sind selten und seit dem Ende des Taliban-Regimes hat sich die Situation der schiitisch-muslimischen Gemeinde wesentlich verbessert (vgl. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 42 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs unterliegen Hazara zwar einer gewissen Diskriminierung, derzeit und in überschaubarer Zukunft aber weder einer an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung noch einer erheblichen Gefahrendichte (vgl. z.B. B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris Rn. 6).
1.3 Eine begründete Furcht vor Verfolgung gemäß § 3 AsylG kann auch nicht aus dem Umstand abgeleitet werden, dass dem Kläger nach seinen Angaben vorgeworfen worden sei, dass er zum Hinduismus übergetreten sei. Der Kläger hat insoweit in der mündlichen Verhandlung am 13. März 2017 selbst ausgeführt, dass es sich um einen bloßen Vorwurf gehandelt habe und er weiterhin in der Moschee gebetet, gearbeitet und geschlafen habe, ohne dass es zu irgendwelchen Verfolgungsmaßnahmen kam bzw. derartige Maßnahmen konkret drohten.
2. Der Kläger kann nach Auffassung des Gerichts jedoch subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG beanspruchen.
2.1 Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:
1.die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Schadens die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit – insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit – abzustellen. Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für eine Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27.85 – juris).
2.2 Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt:
a) Der Kläger hat sowohl beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung am 13. März 2017 sehr ausführlich und detailliert geschildert, dass ihn der Imam beschuldigt habe, einen Koran in der Moschee verbrannt zu haben.
Es ist auch nicht davon auszugehen, dass der Kläger insoweit bei einer Rückkehr nach Afghanistan seine Unschuld beweisen könnte, da letztendlich Aussage gegen Aussage stünde und anzunehmen ist, dass derjenigen des Imam weitaus größeres Gewicht beigemessen würde, zumal die Flucht den Kläger schuldig erscheinen lässt. Erschwerend käme hinzu, dass der Imam, wie der Kläger glaubhaft schilderte, diesem vorgeworfen hatte, zum Hinduismus konvertiert zu sein. Der Kläger hatte zudem den Islam, so wie er von diesem Imam vertreten wurde, in mehreren Diskussionen hinsichtlich verschiedener Aspekte dieser Religion ernsthaft in Frage gestellt, so dass das Verhältnis zum Imam sehr angespannt war. Es ist auch mehr als wahrscheinlich, dass der Onkel des Klägers, der offenbar gegenwärtig das Land der Familie des Klägers bewirtschaftet und Angst haben muss, dass der Kläger dieses wieder zurückfordert, die Geschichte des Imams z.B. vor Gericht stützen wird. Der Onkel hatte zudem laut Kläger ein Foto gefunden, das diesen mit einem Glas Bier und damit ein Verhalten zeigt, das gegen die Regeln des Islam verstößt. Auch die klägerischen Ausführungen zu den Eigentumsverhältnissen sowie zu dem Foto waren detailliert und glaubwürdig. Im Hinblick auf die Vorgeschichte und die geschilderte Gesamtsituation ist es auch nachvollziehbar, dass der Onkel dieses Foto dem örtlichen Imam zeigte, zumal die beiden offenbar eine gute Beziehung hatten.
Nach alledem ist überwiegend bzw. beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen der Verbrennung des Korans, die nach islamischen Rechtsvorstellungen eine schwere Sünde darstellt, belangt würde. Bei Blasphemie, Apostasie u.ä. Vergehen droht jedoch unter dem zunehmenden Einfluss der Scharia die Todesstrafe (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts v. 19.10.2016, S. 20).
b) Entgegen der Auffassung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid ist das Gericht auch davon überzeugt, dass dem Kläger insoweit keine inländische Fluchtalternative (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG) zur Verfügung steht.
aa) Nach diesen Vorschriften wird dem Ausländer subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Dabei ist ebenfalls der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (vgl. VG Augsburg, U.v. 19.12.2016 – Au 5 K 16.31939 – juris Rn. 36 m.w.N.).
bb) Zwar wäre es dem Kläger möglich und zumutbar, sich in einer Großstadt, wie z.B. Kabul, niederzulassen. Als junger, arbeitsfähiger und gesunder Mann wäre er dort selbst ohne nennenswertes Vermögen und familiäre Unterstützung in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 12a ZB 16.30374 – juris Rn. 12).
Es ist jedoch mehr als wahrscheinlich, dass die Imame des Landes untereinander in gewisser Verbindung stehen und zumindest in Fällen, in denen – wie hier – gravierende Verstöße gegen das islamische Recht bzw. die islamischen Wertevorstellungen im Raum stehen, der Name des Betreffenden ausgetauscht oder sogar publik gemacht wird. Ebenso ist nicht nur nachvollziehbar, sondern beachtlich wahrscheinlich, dass der Imam oder der Onkel des Klägers, mit denen dieser bereits im Vorfeld Schwierigkeiten hatte, die Verbrennung des Korans und den (vermeintlichen) Verursacher an die entsprechenden (religiösen) Instanzen in Kabul, die für ganz Afghanistan zuständig sind, gemeldet hat, so dass für den Kläger auch in Großstädten trotz der dortigen gewissen Anonymität die erhebliche Gefahr der Entdeckung und Anklage einschließlich Verurteilung besteht.
cc) Über den in der mündlichen Verhandlung bedingten, d.h. für den Fall der Klageabweisung, gestellten Antrag, zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger als Ketzer von einer landesweiten Verfolgung bedroht ist, also keine inländische Fluchtalternative besteht, ein Gutachten von amnesty international einzuholen, musste daher nicht mehr entschieden werden.
# Nach alledem war der Klage somit hinsichtlich § 4 AsylG (Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids) stattzugeben. Dementsprechend waren auch die Feststellung zu Abschiebungsverboten, die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 4 bis 6 des Bescheids).
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 155 Abs. 2 VwGO (soweit die Klage teilweise zurückgenommen wurde) und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris); Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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