Verwaltungsrecht

Gewährung von Leistungen der häuslichen Pflege nach Pflegegrad 2

Aktenzeichen  S 9 P 193/18

Datum:
30.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 21503
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XI § 14 Abs. 1 S. 1, § 15 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 S. 4 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Pflegebedürftig sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb Hilfe durch andere bedürfen, weil sie körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen haben oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Pflegebedürftige erhalten nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten einen Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad), wobei dieser Pflegegrad mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments vermittelt wird. Dieses ist in sechs Module gegliedert, die den Bereichen nach § 14 Abs. 2 SGB IX entsprechen. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Module des Begutachtungsinstruments werden unterschiedlich gewichtet. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
4. Legt der Sachverständige die Schwere der Beeinträchtigung des Klägers fundiert und begründet dar und erläutert, dass der Kläger in der Summe 30 gewichtete Punkte erreicht, kann das Gericht deshalb den Pflegegrad 2 annehmen. Insbesondere gilt das, wenn die Beurteilung im Einklang mit den aktuellen Begutachtungsrichtlinien steht und der Sachverständige den zu begutachtenden Fall anhand dieser bewertet. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 01.02.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.10.2018 verurteilt, dem Kläger ab dem 01.12.2017 Leistungen der häuslichen Pflege nach dem SGB XI unter Zugrundelegung des Pflegegrades 2 in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Die Klage, über die nach § 124 Abs. 2 SGG aufgrund Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat nach Überzeugung der erkennenden Kammer Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung unter Zugrundelegung des Pflegegrades 2 ab dem 01.12.2017. Mit dem angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 01.02.2018 wurden zu Unrecht Leistungen nach dem SGB XI lediglich nach dem Pflegegrad 1 gewährt, so dass dieser Bescheid diesbezüglich abzuändern war.
Grundvoraussetzung für die Gewährung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung ist die Pflegebedürftigkeit. Pflegebedürftig im Sinne des SGB XI sind nach § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB XI Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können (§ 14 Abs. 1 Satz 2 SGB XI). Die Pflegebedürftigkeit muss gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 SGB XI auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit mindestens der in § 15 SGB XI festgelegten Schwere bestehen. Nach § 14 Abs. 2 SGB XI sind maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten die in den folgenden sechs Bereichen genannten pflegefachlich begründeten Kriterien: 1. Mobilität; 2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten; 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen; 4. Selbstversorgung; 5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen; 6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.
Pflegebedürftige erhalten nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten einen Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad), wobei dieser Pflegegrad mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments ermittelt wird (§ 15 Abs. 1 SGB XI). Das Begutachtungsinstrument ist nach § 15 Abs. 2 SGB XI in sechs Module gegliedert, die den sechs Bereichen in § 14 Abs. 2 SGB XI entsprechen. In jedem Modul sind für die in den Bereichen genannten Kriterien die in Anlage 1 zum SGB XI dargestellten Kategorien vorgesehen. Die Kategorien stellen die in ihnen zum Ausdruck kommenden verschiedenen Schweregrade der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten dar. Den Kategorien werden in Bezug auf die einzelnen Kriterien pflegefachlich fundierte Einzelpunkte zugeordnet, die aus Anlage 1 zum SGB XI ersichtlich sind. In jedem Modul werden die jeweils erreichbaren Summen aus Einzelpunkten nach den in Anlage 2 zum SGB XI festgelegten Punktbereichen gegliedert. Die Summen der Punkte werden nach den in ihnen zum Ausdruck kommenden Schweregraden der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten wie folgt bezeichnet:
1.Punktbereich 0: keine Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
2.Punktbereich 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
3.Punktbereich 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
4.Punktbereich 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten und
5.Punktbereich 4: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten.
Jedem Punktbereich in einem Modul werden unter Berücksichtigung der in ihm zum Ausdruck kommenden Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sowie der folgenden Gewichtung der Module die in Anlage 2 zum SGB XI festgelegten, gewichteten Punkte zugeordnet. Die Module des Begutachtungsinstruments werden nach § 15 Abs. 2 Satz 8 SGB XI wie folgt gewichtet:
1.Mobilität mit 10 Prozent,
2.kognitive und kommunikative Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen zusammen mit 15 Prozent,
3.Selbstversorgung mit 40 Prozent,
4.Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen mit 20 Prozent,
5.Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte mit 15 Prozent.
Zur Ermittlung des Pflegegrades sind gemäß § 15 Abs. 3 SGB XI die bei der Begutachtung festgestellten Einzelpunkte in jedem Modul zu addieren und dem in Anlage 1 zum SGB XI festgelegten Punktbereich sowie den sich daraus ergebenden gewichteten Punkten zuzuordnen. Den Modulen 2 und 3 ist ein gemeinsamer gewichteter Punkt zuzuordnen, der aus den höchsten gewichteten Punkten entweder des Moduls 2 oder des Moduls 3 besteht. Aus den gewichteten Punkten aller Module sind durch Addition die Gesamtpunkte zu bilden. Auf der Basis der erreichten Gesamtpunkte sind pflegebedürftige Personen in einen der nachfolgenden Pflegegrade einzuordnen:
1.ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
2.ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
3.ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
4.ab 70 bis unter 90 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 4: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
5.ab 90 bis 100 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 5: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung.
Unter Zugrundelegung dieses gesetzlichen Maßstabs ist die erkennende Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im sozialgerichtlichen Verfahren zu der Überzeugung gelangt, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 SGB XI für die Einstufung in den Pflegegrad 2 (erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten) erfüllt sind. Diese Überzeugung gewinnt die erkennende Kammer aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. F. vom 22.06.2019, in dem der Sachverständige zu dem Ergebnis kommt, dass beim Kläger nach Bewertung der einzelnen Module des Begutachtungsinstruments im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB XI in der Summe 30,00 gewichtete Punkte erreicht werden und dass ab der Antragstellung im Dezember 2017 vom Vorliegen der Voraussetzungen des Pflegegrads 2 auszugehen ist. Die erkennende Kammer folgt der Einschätzung des Sachverständigen Dr. F., der nach Untersuchung des Klägers in seinem Gutachten vom 22.06.2019 die Schwere der beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigungen mit ausführlichen und fundierten Begründungen würdigt und auf dieser Basis mit überzeugender Begründung ohne innere Widersprüche das oben dargestellte Ergebnis herleitet. Wegen der Einzelheiten wird ausdrücklich auf den Inhalt des Gutachtens vom 22.06.2019, das von der erkennenden Kammer bei der Entscheidung zugrunde0020gelegt wurde, Bezug genommen. Die erkennende Kammer folgt auch der vom Sachverständigen vorgenommenen Bewertung des Moduls 4 mit 10,00 gewichteten Punkten. Insbesondere ist die Beurteilung des Punktes 4.4.8 („Essen“) als überwiegend unselbständig (3 Punkte) nach Auffassung der erkennenden Kammer nicht zu beanstanden. Denn entgegen der Auffassung der Beklagten steht diese Beurteilung im Einklang mit den aktuellen Begutachtungs-Richtlinien. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die Begutachtungs-Richtlinien zum Punkt „F 4.4.8 Essen“ ausdrücklich die folgende Formulierung enthalten: „Zu berücksichtigen ist auch, inwieweit die Notwendigkeit der ausreichenden Nahrungsaufnahme (auch ohne Hungergefühl oder Appetit) erkannt und die empfohlene, gewohnte Menge tatsächlich gegessen wird.“ Dieser Gesichtspunkt ist nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. F., die im Einklang mit der Stellungnahme des Universitätsklinikums E-Stadt – Kinderklinik und Poliklinik – vom 29.08.2018 steht, im vorliegenden Fall einschlägig, so dass im Ergebnis die Bewertung (auch) des Moduls 4 durch den Sachverständigen Dr. F. nicht zu beanstanden ist. Die Beklagte war somit antragsgemäß zur Gewährung von Leistungen unter Zugrundelegung des Pflegegrades 2 vom Beginn des Monats der Antragstellung an (§ 33 Abs. 1 Satz 3 SGB XI), also ab dem 01.12.2017, zu verurteilen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und der Erwägung, dass der Kläger mit seinem Klagebegehren erfolgreich war.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben