Verwaltungsrecht

Herausgabe des Führerscheins im Wege des einstweiligen Rechtschutzes, gerichtliche Aufhebung eines Entziehungsbescheids wegen Ermessensausfalls beim Erlass der Beibringungsanordnung, Erlass einer erneuten Beibringungsanordnung keine entgegenstehende Rechtskraft, keine Nichtigkeit des erneuten Entziehungsbescheids

Aktenzeichen  11 CE 21.1881

Datum:
9.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 26081
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 121, § 123 Abs. 1
BayVwVfG Art. 44
FeV § 11 Abs. 8

 

Leitsatz

Verfahrensgang

B 1 E 21.550 2021-06-11 Bes VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 7.500,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Herausgabe seines Führerscheins im Wege des einstweiligen Rechtschutzes.
Im April 2019 wurde der Fahrerlaubnisbehörde des Landratsamts F.aufgrund einer polizeilichen Mitteilung bekannt, dass der Antragsteller am 29. März 2019 eine Nötigung im Straßenverkehr begangen hatte. Mit seit 25. Juli 2019 rechtskräftigem Strafbefehl vom 21. Mai 2019 verurteilte das Amtsgericht Forchheim den Antragsteller wegen Nötigung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen. Einspruch hiergegen wurde lediglich auf die Höhe des Tagessatzes beschränkt erhoben.
Unter Bezugnahme auf diese Verurteilung ordnete das Landratsamt mit Schreiben vom 21. Oktober 2019 gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens an und entzog dem Antragsteller mit Bescheid vom 28. Januar 2020 die Fahrerlaubnis, weil er kein Gutachten vorgelegt hatte. Den Entziehungsbescheid hob das Verwaltungsgericht Bayreuth mit rechtskräftigem Gerichtsbescheid vom 30. April 2020 (B 1 K 20.110) wegen eines Ermessensausfalls bei Erlass der Beibringungsanordnung auf. Die im Fahreignungs-Bewertungssystem nicht mit Punkten bewertete Nötigung könne zwar unter den Umständen des Einzelfalls durchaus als erhebliche Straftat im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV gewertet werden. Es fehlten jedoch einzelfallbezogene Ermessenserwägungen zu der Frage, ob die Straftat derartige charakterliche Eignungsmängel deutlich werden lasse, dass jenseits des Punktesystems ausnahmsweise die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gerechtfertigt sei. Die inhaltlich zutreffenden nachträglichen Erwägungen genügten insofern nicht. Das Landratsamt verzichtete auf Rechtsmittel.
Mit Schreiben vom 2. September 2020 forderte das Landratsamt den Antragsteller erneut auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu der Frage beizubringen, ob es trotz der aktenkundigen Straftat im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr zu erwarten sei, dass er künftig nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde, und begründete dies mit der rechtskräftigen Verurteilung vom 25. Juli 2019 und dem in wiederholten Äußerungen, bei Vorsprachen, in Anzeigen und Beschwerden des Antragstellers offenbarten Verhaltensmuster, aus dem sich Zweifel an der Kraftfahreignung ergäben. Die besonderen Umstände des Falls rechtfertigten die ergriffenen Maßnahmen in Abweichung vom Punkte-System.
Hiergegen wandte sich der Antragsteller mit verschiedenen Schreiben an das Verwaltungsgericht, die Regierung von Oberfranken (als Dienst- und Fachaufsichtsbehörde) und das Innenministerium. Mit Schreiben an den Landrat vom 22. November 2020 legte der Antragsteller Widerspruch ein.
Mit Bescheid vom 4. Dezember 2020 entzog ihm das Landratsamt abermals gestützt auf § 11 Abs. 8 FeV die Fahrerlaubnis der Klassen A, A18, A1, B, BE, C1, C1E, L, M und T und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds auf, seinen Führerschein innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids bei der Führerscheinstelle abzugeben. Ferner ordnete es die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an.
Am 9. Dezember 2020 sprach der Antragsteller im Landratsamt vor. Dabei lehnte er die Abgabe seines Führerscheins ab und erklärte, er verstehe nicht, weshalb ihm erneut die Fahrerlaubnis entzogen werde, nachdem er vor Gericht Recht bekommen habe. Am 10. Dezember 2020 schrieb er an die Bayerischen Ministerien der Justiz und des Innern, “stellte Klage und Aufsichtsbeschwerde” bzw. begehrte “Widerruf wegen nicht nachvollziehbarer grob fahrlässiger Beurteilung eines Sachverhaltes” und beschwerte sich darüber, dass das Landratsamt sich über ein Gerichtsurteil hinwegsetze. Am 28. Januar 2021 erkundigte sich der Antragsteller im Landratsamt telefonisch u.a., weshalb er eine Mahnung für die Kosten des Entziehungsbescheids erhalte, nachdem das Gericht im Mai 2020 zu seinen Gunsten entschieden habe.
Mit gegen Postzustellungsurkunde am 30. Januar 2021 zugestelltem Schreiben vom 29. Januar 2021 teilte das Landratsamt dem Antragsteller unter Beifügung einer Kopie des Entziehungsbescheids samt Kostenrechnung mit, dass er die Verfahrenskosten zu tragen habe.
Mit am 3. Februar 2021 eingegangenem Schreiben vom 1. Februar 2021 an den Landrat “stellte” der Antragsteller unter Verweis darauf, dass er “mit Führerscheinentzug verfolgt” werde, und unter Bezugnahme auf die Beibringungsanordnung vom 2. September 2020 “hiermit aus Zeitgründen kurz Widerruf”.
Mit Bescheid vom 9. Februar 2021 forderte das Landratsamt den Antragsteller unter Androhung unmittelbaren Zwangs nochmals auf, seinen Führerschein bis zum 19. Februar 2021 abzugeben. Mit Schreiben vom 8. März 2021 teilte ihm das Landratsamt mit, es lege das an den Landrat gerichtete Schreiben vom 1. Februar 2021 als Widerspruch aus, der aber nicht fristgerecht eingegangen und daher unzulässig, jedenfalls nicht begründet sei. Die Vorsprache am 9. Dezember 2020 genüge nicht der Schriftform.
Nach einem Aktenvermerk vom 15. März 2021 bat der Antragsteller darum, den als Widerspruch behandelten “Widerruf” nicht sogleich der Regierung vorzulegen, sondern die Frist zur angebotenen Rücknahme bis 2. April 2021 abzuwarten.
Am 18. März 2021 stellte die Polizei den Führerschein sicher.
Am 6. Mai 2021 ließ der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten Klage mit dem Antrag erheben festzustellen, dass der Entziehungsbescheid vom 4. Dezember 2020 nichtig sei, und gleichzeitig im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragen, dem Antragsgegner aufzuerlegen, den Führerschein des Antragstellers an diesen auszuhändigen.
Mit Beschluss vom 11. Juni 2021 legte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach dem erkennbaren Rechtsschutzziel als statthaften Antrag gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO aus. Ein Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO scheitere daran, dass der Antragsteller gegen den mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung:versehenen Entziehungsbescheid nicht fristgemäß (§ 70 Abs. 1 VwGO) einen Rechtsbehelf eingelegt und der Bescheid damit bestandskräftig geworden sei. Die Vorsprache des Antragstellers vom 9. Dezember 2020 habe gezeigt, dass ihm der Bescheid spätestens an diesem Tag bekannt geworden sei. Wenn sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen lasse oder es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen sei, gelte es gemäß Art. 9 VwZVG im Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs als zugestellt. Die Widerspruchsfrist sei am 11. Januar 2021 abgelaufen, ohne dass ein formgerechter Widerspruch eingelegt worden sei. Eine persönliche Vorsprache genüge dem nicht. Verschiedene an die Bayerischen Ministerien der Justiz und des Innern gerichtete Schreiben vom 10. Dezember 2020 seien nicht an die gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO empfangszuständigen Behörden gerichtet. Das Innenministerium habe sich mit E-Mail vom 28. Januar 2021 mit einer Bitte um Sachstandsmitteilung an das Landratsamt gewandt, ohne das Schreiben des Antragstellers vom 10. Dezember 2020 weiterzuleiten, das auch nach Adressierung und Inhalt an das Ministerium gerichtet gewesen sei. Wie aus der Bitte, das Handeln des Landratsamts “einzustellen”, deutlich werde, habe der Antragsteller sich erhofft, dass das Ministerium gegen das Landratsamt “einschreite”. Es liege kein Absendefehler zugrunde, bei dem das Dokument nicht (rechtzeitig) bei der Stelle eingehe, bei der es nach dem im Dokument zum Ausdruck kommenden Willen des Urhebers hätte eingehen sollen. Die jeweils am Folgetag eingegangenen Schreiben vom 22. bzw. 24. November 2020 seien an die Regierung (als zuständige Widerspruchsbehörde) gerichtet gewesen. Es werde auf die beigefügte Kopie eines “Widerrufs” verwiesen, der sich auf die Gutachtensanordnung vom 2. September 2020 beziehe. Ein Widerspruch könne nicht vor Ergehen des Verwaltungsakts eingelegt werden. Ein Widerspruchsschreiben werde hiermit weder wirksam noch wandle es sich nachträglich “von selbst” in einen zulässigen Widerspruch um. Beim Zugang des Schreibens vom 1. Februar 2021 sei die Widerspruchsfrist bereits abgelaufen gewesen. Die Zustellung einer Kopie des Entziehungsbescheids am 30. Januar 2021 löse keine neue Widerspruchsfrist aus. Bei wiederholter Bekanntgabe eines Bescheids sei nur die erstmalige Bekanntgabe für den Lauf der Rechtsbehelfsfrist maßgeblich. Darin sei höchstens eine sog. wiederholende Verfügung ohne neue Sachprüfung zu sehen. Vorliegend sei ohne neue Sachprüfung lediglich eine – auch als solche bezeichnete – Kopie erneut zugestellt worden. Der Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung sei unbegründet, da der Antragsteller nicht habe glaubhaft machen können, dass er mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit in der Hauptsache einen Anspruch auf Herausgabe seines Führerscheins habe. Anspruchsgrundlage sei § 22 Abs. 3 FeV, wonach die Fahrerlaubnisbehörde den Führerschein ausfertigen zu lassen und auszuhändigen habe, wenn alle Erteilungsvoraussetzungen vorlägen. Sei dem Fahrerlaubnisinhaber bereits ein Führerschein ausgehändigt worden, dieser aber in den Besitz der Fahrerlaubnisbehörde zurückgelangt, ohne dass die Fahrerlaubnis erloschen sei, bestehe erst recht ein Herausgabeanspruch. Vorliegend sei die Fahrerlaubnis hingegen erloschen. Der Entziehungsbescheid vom 4. Dezember 2020 sei nicht nichtig. Es lägen weder Nichtigkeitsgründe nach Art. 44 Abs. 2 BayVwVfG vor noch ein besonders schwerwiegender Fehler im Sinne von Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG. Der Bescheid sei nicht unter Verstoß gegen § 121 VwGO erlassen worden. Auf die Frage, ob ein solcher Verstoß überhaupt zur Nichtigkeit des Verwaltungsakts führe, komme es somit nicht an. Nach § 121 VwGO bänden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden sei. Die Rechtskraftwirkung erfasse auch nachfolgende Verwaltungsakte. Das Verwaltungsgericht habe seine Entscheidung darauf gestützt, dass die Behörde ihr Ermessen bei der Anordnung des Gutachtens nicht ordnungsgemäß ausgeübt habe. Die Rechtskraftwirkung einer Anfechtungsklage beschränke sich auf die vom Gericht zu prüfenden und die Entscheidung tragenden Aufhebungsgründe, insbesondere bei ermessensfehlerhafter Begründung bzw. einem Beurteilungsfehler allein auf diese als ermessens- bzw. beurteilungsfehlerhaft beanstandete Begründung. Die Befugnis der Behörde, einen neuen, ggf. inhaltsgleichen Verwaltungsakt bzw. einen Verwaltungsakt in einem fehlerfreien Verfahren bzw. mit ermessens- bzw. beurteilungsfehlerfreier Begründung zu erlassen, werde nicht berührt. Sei der Streitgegenstand der Anfechtungsklage wie hier die Behauptung gewesen, die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens bedürfe einer (unterbliebenen) Auseinandersetzung mit dem Punkte-System und werde der Entziehungsbescheid rechtskräftig aufgehoben, hindere die materielle Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung die Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage, einen Entziehungsbescheid auf eine Gutachtensanordnung zu stützen, die den Betroffenen in gleicher Weise (ohne zureichende Ermessensausübung) in seinen Rechten verletze wie der aufgehobene Entziehungsbescheid. Die Behörde dürfe aber den dem Verwaltungsakt anhaftenden Fehler unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts beseitigen. Dementsprechend gehe auch die einschlägige Rechtsprechung von der Möglichkeit einer neuen Gutachtensanordnung aus. Das Landratsamt habe sich in der Anordnung vom 2. September 2020, auf der der Bescheid vom 4. Dezember 2020 beruhe, mit dem Punkte-System auseinandergesetzt. Ob dies ausreiche, sei wegen der Bestandskraft des Entziehungsbescheids nicht zu prüfen. Andere Nichtigkeitsgründe seien nicht ersichtlich.
Mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, macht der Antragsteller geltend, die Gutachtensanordnung vom 2. September 2020 sei hinsichtlich des zugrundeliegenden Sachverhalts und der Fragestellung mit der Gutachtensanordnung vom Oktober 2019 identisch, die bereits Gegenstand eines verwaltungsgerichtlichen Klageverfahrens gewesen sei. Die Umstände, die der Begründung der erneuten Gutachtensanordnung gedient hätten, seien ebenfalls Gegenstand dieses Verfahrens gewesen. Der Entziehungsbescheid habe die Gründe der Beibringungsanordnung übernommen. Zusätzlich werde nur noch ausgeführt, dass gemäß § 11 Abs. 8 FeV auf die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen sei. Der Antragsteller habe am 9. Dezember 2020 persönlich Widerspruch einlegen wollen. Zunächst habe man ihn nicht die Behörde betreten lassen. Erst als er vorgegeben habe, seinen Führerschein abgeben zu wollen, habe man ihm Zutritt gewährt. Über den Aktenvermerk über die Vorsprache hinaus sei keine schriftliche Niederschrift erfolgt. In seinen Schreiben vom 10. Dezember 2020 an die Bayerischen Ministerien der Justiz und des Innern habe der Antragsteller “Klage”, “Aufsichtsbeschwerde” und “Widerruf” erhoben. Der Antragsgegner habe weder diese Schreiben noch die Vorsprache vom 9. Dezember 2020 als Widerspruch gewertet, jedoch eine Beschwerde an den Landrat vom 1. Februar 2020 (richtig wohl 2021) als solchen eingestuft. Der Antragsteller vermute, dass der Sachbearbeiter bei der Bewertung dieses Schreibens eine mögliche kostenpflichtige Zurückweisung wegen Fristversäumung im Blick gehabt habe. Der Entziehungsbescheid vom 4. Dezember 2020 sei nichtig. Der ihm zugrunde gelegte Sachverhalt sei vollumfänglich Gegenstand des gerichtlichen Klageverfahrens gewesen, so dass eine rechtskräftige Entscheidung zugunsten des Antragstellers vorliege. Mithin stehe die Rechtskraftwirkung gemäß § 121 VwGO einer erneuten Entziehung der Fahrerlaubnis entgegen. Eine behördliche Entscheidung, die ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil unmittelbar missachte, sei schlechterdings nichtig. Sie durchbreche nicht nur den demokratischen Grundsatz der Gewaltenteilung, sondern stehe auch in eklatantem Widerspruch zum Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz. Darüber hinaus gelte auch der sich aus dem Rechtsstaatsgebot ergebende Gedanke der Rechtssicherheit. Der effektive Rechtsschutz werde ausgehebelt, wenn es den Behörden gestattet werde, nach einer für den Betroffenen positiven gerichtlichen Verurteilung einfach den gleichen Bescheid erneut zu erlassen und diesen mit der Anordnung des Sofortvollzugs zu verbinden. Ein derartig wiederholender Bescheid sei per se nichtig. Die Annahme einer bloßen Rechtswidrigkeit gebe der Behörde die Möglichkeit der ständigen Wiederholung. Aufgrund der Missachtung der gerichtlichen Entscheidung sei ein objektiv willkürliches Verhalten der Behörde anzunehmen. Auch deshalb sei der Bescheid nichtig. Hieran ändere eine etwa subjektiv fehlerhafte Auffassung des Behördenmitarbeiters nichts. Grundsätzlich könne eine fehlende oder unzureichende Begründung der Gutachtensanordnung von der Behörde nicht nachgeholt werden. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass Ermessenserwägungen nach Rechtskraft des Verfahrens bei unveränderter Tatsachengrundlage im Rahmen des Erlasses einer erneuten Begutachtungsaufforderung nachgeschoben werden dürften, könne keinen Bestand haben. Dies ergebe sich bereits aus einem Umkehrschluss des § 114 Satz 2 VwGO, der im Hinblick auf die Begutachtungsanordnung nicht greife. Ein einer Anfechtungsklage stattgebendes Urteil erfasse außer der Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts auch die verbindliche Feststellung, dass eine Befugnis der Behörde zum Erlass des aufgehobenen Verwaltungsakts nicht bestehe. Es liege eine erweiterte Rechtskraftwirkung vor. Es handle sich um eine verbindliche Feststellung, dass die entsprechende Befugnis der Behörde, unter den gleichen Umständen und aus den gleichen Gründen einen neuen Verwaltungsakt mit gleichem Inhalt nochmal zu erlassen, nicht bestehe. Praktisch bedeute dies ein Verbot für die Behörde und alle sonst in Betracht kommenden Behörden, bei unveränderter Sach- und Rechtslage erneut einen gleichen Verwaltungsakt zu erlassen. Nach der vorzunehmenden summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren stehe dem Antragsteller der Anspruch auf Aushändigung des Führerscheins auf der Grundlage der § 2 Abs. 1 Satz 3 StVG, § 4 Abs. 2 FeV i.V.m. § 2 Abs. 2, 4, 5 StVG zu. Anhaltspunkte für ein Fehlen der Fahreignung bestünden nicht. Bei Nichtigkeit des Entziehungsbescheids sei der Führerschein selbstverständlich unverzüglich an den Antragsteller herauszugeben. Es liege auch ein Anordnungsgrund vor, da es dem Antragsteller nicht zumutbar sei, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
Dem Beschwerdevorbringen ist nicht zu entnehmen, dass der Antragsteller sich gegen die Auslegung seines Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes als Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO bzw. gegen die Bestandskraft des Entziehungsbescheids vom 4. Dezember 2020 wendet. Im Rahmen der Sachverhaltsdarstellung trägt er zwar vor, er habe bei seiner Vorsprache beim Landratsamt am 9. Dezember 2020 Widerspruch einlegen wollen, sei zunächst nicht vorgelassen worden und habe sich mit der Behauptung, seinen Führerschein abgeben zu wollen, Zutritt verschafft. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass das Landratsamt die fristgemäße Einlegung eines Widerspruchs verhindert hat, indem es etwa dessen Niederschrift verweigert oder den Antragsteller sonst an der schriftlichen Einlegung des Widerspruchs gehindert hätte. Offenbar hat der Antragsteller von seinem ursprünglichen Vorhaben, Widerspruch einzulegen, wieder Abstand genommen, wobei die Gründe hierfür weder vorgetragen noch ersichtlich sind. Soweit er in seiner Beschwerdeschrift unter “Tatbestand B.” anführt, seine an die Ministerien gerichteten Schreiben vom 10. Dezember 2020, mit denen er “Klage”, “Aufsichtsbeschwerde” und “Widerruf” erhoben habe und seine persönliche Vorsprache vom 9. Dezember 2020 seien nicht als Widerspruch gewertet worden, bleibt völlig offen, ob er dies rügen möchte, da er dies in den rechtlichen Ausführungen unter “C.” nicht mehr aufgreift. Da jede Auseinandersetzung mit den rechtlichen Voraussetzungen des § 70 Abs. 1 VwGO und den hierauf eingehenden, ausführlichen Gründen des Gerichtsbeschlusses (Seite 11 f.: Schriftformerfordernis; fehlende Empfangszuständigkeit der Ministerien) fehlt, würde die Beschwerdebegründung insoweit jedenfalls nicht den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügen, die eine Prüfung, Sichtung und rechtliche Durchdringung des Streitstoffs und damit eine sachliche Auseinandersetzung mit den Gründen des angefochtenen Beschlusses voraussetzen (vgl. BayVGH, B.v. 7.11.2018 – 11 CS 18.435 – DAR 2019, 343 = juris Rn. 11; B.v. 9.7.2018 – 9 CE 18.1033 – juris Rn. 13; Guckelberger in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 146 Rn. 76 ff.; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 146 Rn. 22a f.).
Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der bestandskräftige Entziehungsbescheid vom 4. Dezember 2020 nicht deshalb nichtig ist, weil der rechtskräftige Gerichtsbescheid vom 30. April 2020 seinem Erlass entgegenstand. Der erneute Entziehungsbescheid stützt sich auf § 11 Abs. 8 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Dezember 2019 (BGBl I S. 2008), zum Teil in Kraft getreten zum 1. Juni 2020, wonach die Behörde bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen darf, wenn dieser sich weigert, sich untersuchen zu lassen, oder wenn er das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt. Die Voraussetzungen der tatbestandlichen Alternativen sind vorliegend beide erfüllt. Bei dem geforderten Gutachten im Sinne dieser Vorschrift handelt es sich um das mit Schreiben vom 2. September 2020 angeordnete und bis zum 10. November 2020 beizubringende medizinisch-psychologische Gutachten. Der Entziehungsbescheid vom 28. Januar 2020 beruhte hingegen auf der Nichtbeibringung des mit Schreiben vom 21. Oktober 2019 angeordneten und zu einem früheren Zeitpunkt vorzulegenden Gutachtens. Der Lebenssachverhalt, der der erneuten Entziehung der Fahrerlaubnis zugrunde liegt, ist nicht allein auf den Vorfall vom 29. März 2019 beschränkt, sondern umfasst die Nichtmitwirkung des Antragstellers in einem bestimmten (weiteren) Verwaltungsverfahren, in dem hätte aufgeklärt werden sollen, ob seine Fahreignung trotz dieses Vorfalls und des nachfolgend gezeigten Verhaltens gegeben ist. Dieser Sachverhalt ist nicht von der Bindungswirkung der rechtskräftigen Entscheidung umfasst.
Auch wenn man dies anders sähe, stünde bzw. stand der Gerichtsbescheid vom 30. April 2020 weder dem Erlass eines erneuten Entziehungsbescheids noch dem Erlass einer erneuten Beibringungsanordnung wegen des Vorfalls vom 29. März 2019 entgegen, der dem Landratsamt schon als Grundlage für die Beibringungsanordnung vom 21. Oktober 2019 gedient hatte, da die Behörde entsprechend den gerichtlichen Vorgaben nunmehr ihr vormals nicht ausgeübtes Ermessen im Rahmen des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV ausgeübt hat.
Wird einer Anfechtungsklage stattgegeben und der angefochtene Verwaltungsakt gemäß §?113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufgehoben, erwächst die Feststellung in materielle Rechtskraft, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig war und den Kläger in seinen Rechten verletzt hat (BVerwG, B.v. 15.3.1968 – VII C 183.65 – BVerwGE 29, 210 = juris Rn. 16; Lindner in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, § 121 Rn. 39). Die Rechtskraft reicht verschieden weit, wenn das Gericht lediglich einen formellen Fehler rügt, den Tatbestand der Ermächtigungsnorm für nicht gegeben erachtet oder einen Ermessensfehler feststellt (Rennert in Eyermann, VwGO, § 121 Rn. 27; Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 121 Rn. 21). In Rechtsprechung und Literatur ist unbestritten, dass die Behörde durch die Rechtskraft des Urteils (§ 121 VwGO) nicht daran gehindert ist, einen inhaltsgleichen Verwaltungsakt unter Beachtung der Form- bzw. Verfahrensfrage bzw. unter ordnungsgemäßer Ermessensausübung oder Ausfüllung des Beurteilungsspielraums erneut zu erlassen, wenn das Gericht den Verwaltungsakt wegen eines Form- oder Verfahrensverstoßes oder wegen Ermessens- oder Beurteilungsfehlern aufgehoben hat (vgl. Kilian/Hissnauer in Sodan/Ziekow, a.a.O. § 121 Rn. 72; Clausing/Kimmel in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Februar 2021, § 121 Rn. 82; Rennert, a.a.O. § 121 Rn. 22; Lindner, a.a.O. § 121 Rn. 39; Kopp/Schenke, a.a.O. § 121 Rn. 21; Unruh in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 121 Rn. 22; BVerwG, U.v. 25.2.2015 – 6 C 37.13 – NVwZ 2015, 1136 = juris Rn. 28; B.v. 11.4.2003 – 7 B 141.02 – NJW 2003, 2255/2256 = juris Rn. 11). Insoweit gilt für den erneuten Erlass einer verfahrens- oder ermessensfehlerhaften Gutachtensanordnung, die nicht die Qualität eines Verwaltungsakts besitzt, nichts anderes als für den Erlass des Entziehungsbescheids selbst (vgl. auch VGH BW, U.v. 11.8.2015 – 10 S 444/14 – DÖV 2015, 935 = juris Rn. 40; BayVGH, U.v. 13.7.2018 – 11 B 18.644 – juris Rn. 29 f.).
Dieses Ergebnis steht weder in Widerspruch zum Grundsatz der Gewaltenteilung noch zum Recht auf effektiven Rechtsschutz noch zum Gedanken der Rechtssicherheit. Wie der Antragsgegner zutreffend geltend macht, hat das Verwaltungsgericht am 30. April 2020 nicht entschieden, dass der dem Entziehungsbescheid vom 21. Oktober 2019 zugrundeliegende Lebenssachverhalt keine Gutachtensanordnung rechtfertigt, und damit kein Wiederholungsverbot ausgesprochen. Das Landratsamt hat den rechtskräftigen Gerichtsbescheid auch nicht missachtet, sondern sich – im Gegenteil – an dessen Vorgaben gehalten. Da es sich um einen Neuerlass handelt, sind mit dem Erlass der zweiten Beibringungsanordnung auch keine Ermessenserwägungen der ersten Anordnung ergänzt worden, was im Anwendungsbereich des § 114 Satz 2 VwGO im Übrigen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt (vgl. BVerwG, B.v. 30.4.2010 – 9 B 42.10 – NVwZ-RR 2010, 550 = juris Rn. 4 m.w.N.). Das Verwaltungsgericht hat eine nachträgliche Ergänzung der fehlenden Ermessenserwägungen in der Beibringungsanordnung vom 21. Oktober 2019 zu Recht abgelehnt und den auf der ersten Anordnung beruhenden Entziehungsbescheid aufgehoben. Eine Beibringungsaufforderung kann nur ergänzt werden, solange ein Gutachten noch nicht erstellt und die Fahrerlaubnis noch nicht entzogen worden ist (vgl. BayVGH, B.v. 6.12.2019 – 11 CS 19.1174 – juris Rn. 18; B.v. 16.8.2018 – 11 CS 17.1940 – juris Rn. 21 m.w.N.). Das schließt jedoch nicht aus, dass die Fahrerlaubnisbehörde die fehlerhafte Aufforderung durch eine neue mit zutreffender Begründung ersetzt (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – NJW 2002, 78 Rn. 27; BayVGH, B.v. 6.12.2019 a.a.O.). Aufgrund der neuerlichen Aufforderung vom 2. September 2020 konnte der Antragsteller abschätzen, ob er dieser nunmehr nachkommen musste oder die Untersuchung (erneut) verweigern konnte, ohne einen Rechtsnachteil zu erleiden. Nicht anders hätte sich die Lage für ihn dargestellt, wenn die Fahrerlaubnisbehörde bereits im Oktober 2019 eine ordnungsgemäß begründete Anordnung erlassen hätte.
Es kommt somit nicht darauf an, ob einem entgegen der materiellen Rechtskraft (§ 121 VwGO) einer gerichtlichen Entscheidung erlassenen Verwaltungsakt ein besonders schwerwiegender, für die Rechtsordnung schlechthin unerträglicher und (nicht allein wegen der Schwere des Fehlers) offensichtlicher Fehler im Sinne von Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG anhaften würde, etwa weil es sich um eine Willkürmaßnahme handelte (vgl. Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 44 Rn. 103 ff., 124), was durchaus zweifelhaft ist (vgl. Clausing/Kimmel in Schoch/Schneider, VwGO, § 121 Rn. 30: ein Urteil, das die Rechtskraft eines Urteils aus einem vorangegangenen Verfahren übersehen hat, ist nicht nichtig).
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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