Verwaltungsrecht

Herkunftsland: Libanon, staatenloser Palästinenser, Anerkennung als Flüchtling nach der GFK bzw. ipso facto (verneint), Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (verneint), Feststellung von Abschiebungsverboten (verneint), Glaubhaftmachung von Erkrankungen

Aktenzeichen  M 22 K 18.32125

Datum:
24.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 16087
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG §§ 3 ff.
AufenthG § 60

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz des Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung zur Sache verhandeln und entscheiden, da diese mit der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass im Falle des Ausbleibens auch ohne sie verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der Bescheid vom … ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht zunächst vollumfänglich auf die Begründung des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG), der das Gericht folgt. Lediglich ergänzend ist noch Folgendes auszuführen:
In dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG (dazu unter 1.), auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG (dazu unter 2.) oder auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (dazu unter 3.). Ebenso wenig kann der Kläger beanspruchen, als ipso facto-Flüchtling anerkannt zu werden (dazu unter 4.). Nicht zu beanstanden sind auch die Abschiebungsandrohung (dazu unter 5.) sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG (dazu unter 6.).
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), wenn sich dieser aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (zu Sonderkonstellationen, bei denen ungeachtet einer etwaigen Verfolgungsgefahr eine Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben ist bzw. kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht, vgl. § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG).
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3 a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
Eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung kann gemäß § 3 c AsylG u.a. vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sowie von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, soweit die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten (vgl. dazu § 3d AsylG).
Zwischen den Verfolgungsgründen (vgl. die Aufzählung in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sowie die näheren Erläuterungen in § 3 b Abs. 1 AsylG) und den Verfolgungshandlungen (§ 3 a Abs. 1 und 2 AsylG) bzw. dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3 a Abs. 3 AsylG). Dafür reicht grundsätzlich ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus (vgl. BVerwG, U.v. 22.5.2019 – 1 C 11.18 – juris Rn. 16). Gerade mit Blick auf komplexe und multikausale Sachverhalte ist nicht zu verlangen, dass ein bestimmter Verfolgungsgrund die zentrale Motivation oder die alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme ist. Indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund den Anforderungen des § 3 a Abs. 3 AsylG nicht (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 13).
Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Betreffende sein Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Im Gegensatz zu Vorfluchtgründen, die lediglich glaubhaft zu machen sind, bedürfen Nachfluchtgründe, die auf Ereignissen innerhalb des Gastlandes beruhen, des vollen Nachweises, wobei insoweit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besonders strenge Anforderungen zu stellen sind. Insofern ist den Versuchen einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylrechtsschutzes im Bereich der Sachverhaltsermittlung zu begegnen (BVerwG, U.v. 21.10.1986 – 9 C 28.85; U.v. 8.11.1983 – 9 C 93.83 – beide juris).
Unerheblich ist dabei, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3 b Abs. 2 AsylG). Bei einer politischen Verfolgung ist für die Bejahung der Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund bereits ausreichend, wenn der Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist, ist dabei irrelevant (BVerfG, B.v. 22.11.1996 – 2 BvR 1753/96 – juris Rn. 5; VGH BW, U.v. 18.8.2021 – A 3 S 271/19 – juris Rn. 22).
Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG (vgl. dazu Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU) besteht, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Bei der Verfolgungsprognose ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen, der sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientiert, der bei der Prüfung von Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK auf eine tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt (vgl. EGMR (GK), U.v. 28.2.2008 – Saadi/Italien, Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.; BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 18 ff.; U.v. 5.7.2019 – 1 C 37/18 – juris Rn. 13).
Demnach bedingt der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Annahme eines reellen Verfolgungsrisikos sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Gemeint ist damit keine quantifizierende, sondern eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und deren Bedeutung. Entscheidend ist, ob bei einer Bewertung des aus den gegebenen Umständen ableitbaren Verfolgungsrisikos bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann und ihm wegen dieses Risikos eine Rückkehr nicht zumutbar erscheint (stRspr, vgl. zu Art. 16 a GG BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17; zu § 3 AsylG vgl. BVerwG, U.v. 22.5.2019 – 1 C 11/18 – juris Rn. 25 sowie BayVGH, U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 34).
Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung im Rechtssinne begründet ist (ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht), ist es Aufgabe des erkennenden Gerichts, die Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Das Gericht muss sowohl von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Schutzsuchenden behaupteten individuellen Schicksals (soweit es nach den Umständen des Falles hierauf ankommt) als auch von der Richtigkeit der Prognose einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr die volle Überzeugung gewinnen. Es darf jedoch insbesondere hinsichtlich relevanter Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (stRspr, BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – BVerwGE 71, 180; U.v. 4.7.2019 – 1 C 33/18 – juris Rn. 20).
Besonderes Gewicht ist den Berichten des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) beizumessen, der gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 die Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention überwacht (vgl. dazu EuGH, U.v. 30.5.2013 – Halaf, C-528/11 – juris Rn. 44). Im Übrigen sind das persönliche Vorbringen des Rechtsuchenden und dessen Würdigung, namentlich wenn eine relevante Vorverfolgung behauptet wird, von zentraler Bedeutung. Für den Fall, dass keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, kann ggf. allein dessen Tatsachenvortrag zum Erfolg der Klage führen, sofern sich das Gericht von der Richtigkeit der entsprechenden Einlassungen überzeugen kann (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27/85 – juris Rn. 15 f. m.w.N.).
In diesem Zusammenhang ist weiter darauf hinzuweisen, dass für die Verfolgungsprognose beim Flüchtlingsschutz ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt, d.h. es ist irrelevant, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt nicht (mehr) durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern durch die Beweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU. Nach dieser Vorschrift wird für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür begründet, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Heimatland erneut von Verfolgung bedroht sind (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris Rn. 21 f.; U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 15).
Der Flüchtlingsschutz ist allerdings nach § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG – welcher Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU) umsetzt – ausgeschlossen, wenn der Ausländer den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) nach Art. 1 Abschnitt D GFK genießt und tatsächlich in Anspruch nimmt.
Die zum jetzigen Zeitpunkt einzige Organisation in diesem Sinne stellt das durch Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Nr. 302/IV vom 8. Dezember 1949 errichtete Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten dar (United Nations Relief and Work Agency for Palestine Refugees – UNRWA). Seine Aufgabe besteht in der Hilfeleistung für palästinensische Flüchtlinge unter anderem im Libanon. Das entsprechende UN-Mandat wurde zuletzt bis zum 30. Juni 2023 verlängert (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 27.4.2021 – 1 C 2/21 – juris Rn. 12). (Registrierte) Palästina-Flüchtlinge, denen das UNRWA Schutz bzw. Beistand gewährt, genießen demnach speziellen, vorrangig zu beanspruchenden Flüchtlingsschutz. Deshalb sind sie von der Anerkennung als Flüchtlinge in der Europäischen Union grundsätzlich ausgeschlossen (BVerwG, U.v. 4.6.1991 – 1 C 42.88 – juris Rn. 16; U.v. 21.1.1992 – 1 C 21.87 – juris Rn. 19 m.w.N.; vgl. zum Ausschluss zuletzt auch EuGH, U.v. 13.1.2021 – XT, C-507/19 – juris Rn. 51).
Die eng auszulegende Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG (bzw. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 RL 2011/95/EU) greift jedoch nur, solange die von ihr erfassten Personen den Schutz bzw. Beistand des UNRWA genießen. Ist dieser Schutz weggefallen, ohne dass die Lage der Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, findet die Genfer Konvention (GFK) – in richtlinienkonformer Auslegung der sog. Einschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG als Rechtsfolgenverweisung – ipso facto Anwendung, ohne dass es einer Einzelfallprüfung der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG bedarf (BayVGH, B.v. 7.11.2017 – 15 ZB 17.31475 – juris Rn. 28; BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 28.18 – juris Rn. 25 unter Verweis auf EuGH, U.v. 19.12.2012 – El Kott, C-364/11 – juris Rn. 67, 70 ff.; BVerwG, B.v. 14.5.2019 – 1 C 5.18 – juris Rn. 26 mit Verweis auf EuGH, U.v. 25.7.2018 – Alheto, C-585/16 – juris Rn. 86; BVerwG, U.v. 27.5.2021 – 1 C 2.21 – juris Rn. 12 mit Verweis auf EuGH, U.v. 13.1.2021 – XT, C-507/19 – juris Rn. 51).
Aus dem Zusammenspiel von § 3 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 AsylG ergibt sich, dass die Anerkennung als ipso facto-Flüchtling die Erfüllung beider Vorschriften voraussetzt, nämlich erstens, dass die/der Betroffene den Schutz oder Beistand des UNRWA genießt (weil sie/er zum durch die UNRWA durch Schutz und Beistand unterstützen Personenkreis gehört) und zweitens, dass dieser Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird (vgl. OVG NRW, U.v. 26.11.2020 – 14 A 2258/18.A – juris Rn. 23 f. unter Verweis auf BVerwG, U.v. 14.5.2019 – 1 C 5.18 – juris Rn. 14 f.).
Gemessen an diesen Grundsätzen kann der Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft weder ipso facto (dazu näher unter 4.) noch nach der GFK beanspruchen. Er ist zwar nicht bereits nach § 3 Abs. 3 AsylG vom Flüchtlingsschutz ausgeschlossen (dazu unter 1.1.), erfüllt aber auch nicht die Voraussetzungen in § 3 Abs. 1 i.V.m. §§ 3a ff. AsylG (dazu unter 1.2.)
1.1. Der Kläger hat nicht glaubhaft gemacht, dass er den Schutz oder Beistand des UNRWA genossen bzw. diesen tatsächlich in Anspruch genommen hat (und damit von der Ausschlussklausel in § 3 Abs. 3 AsylG erfasst ist).
Die konkrete Bedeutung der alternativen Betreuungsformen „Schutz“ und „Beistand“ bestimmt sich dabei nach der im Rahmen seines Auftrags wahrgenommenen Tätigkeit des UNRWA, also der Zurverfügungstellung von Arbeits- und Bildungsprogrammen, Gesundheitsversorgung und humanitärer Hilfe. Maßgebend ist, ob der Betroffene der Personengruppe angehört, deren Betreuung das UNRWA entsprechend seinem sozialen und wirtschaftlichen Mandat übernommen hat. Das ist jedenfalls bei denjenigen Personen der Fall, die als Palästina-Flüchtlinge bei dem UNRWA (weiterhin) registriert sind und die Hilfe des UNRWA tatsächlich in Anspruch nehmen (EuGH, U.v. 13.1.2021 – XT, C-507/19 – juris Rn. 51).
Das Gericht konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Kläger dem vom Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention ausgeschlossenen Personenkreis gehört (auch wenn seine Familie in einem UNRWA-Flüchtlingslager gelebt habe und weiterhin lebe; andererseits hätten der Kläger und seine Geschwister eine private Schule außerhalb des Lagers besucht, wo sie u.a. die englische Sprache gelernt hätten). Der Kläger hat im Asyl- und Klageverfahren weder substantiiert und eindeutig vorgetragen, beim UNRWA selbst registriert zu sein, noch hat er entsprechende Nachweise vorgelegt.
1.2. Eine Flüchtlingsanerkennung folgt aber auch nicht aus § 3 Abs. 1 AsylG.
Das Gericht hat nicht die Überzeugung gewonnen, dass für den Kläger zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr in den Libanon beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen besteht. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lagen beim Kläger weder im Zeitpunkt seiner Ausreise am … … … – im Sinne einer Vorverfolgung – vor (dazu unter a) noch ergeben sie sich aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem er sein Herkunftsland verlassen hat (dazu unter b).
a) Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus dem Libanon ausgereist. Er hat nicht glaubhaft gemacht, den Libanon aus begründeter Furcht vor flüchtlingsrelevanter Verfolgung verlassen zu haben.
Wie bereits die Beklagte im angegriffenen Bescheid zutreffend ausgeführt hat, worauf insoweit nach § 77 Abs. 2 AsylG verwiesen wird, hat der Kläger in seiner Anhörung vor dem Bundesamt sowie im Klageverfahren keine gegen ihn konkret gerichteten Verfolgungshandlungen vorgetragen. Die Ausführungen zu vermeintlichen Rekrutierungsversuchen sind sehr detailarm und insgesamt pauschal; aber selbst bei ihrer Wahrunterstellung ist die für die Annahme einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG erforderliche Intensität der Menschenrechtsverletzung (aufgrund von Art und/oder Wiederholung) nicht gegeben. Die „bärtigen Männer“ hätten nur versucht, den Kläger „durch ihr Wissen“ (verbal) zu überzeugen. Ebenso wenig konnte das Gericht einen zeitlichen Zusammenhang zwischen den pauschal vorgebrachten Rekrutierungsversuchen und der Ausreise feststellen. Vielmehr gab der Kläger selbst an, ihm persönlich sei im Libanon nichts passiert, auch wenn es im Flüchtlingslager aber allgemein keine Sicherheit gegeben habe.
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass im Libanon allgemein die zwangsweise Rekrutierung von Kämpfern für gewaltbereite Gruppierungen verbreitet ist. In Bezug auf die Hisbollah ist bekannt, dass ihre Rekrutierungen grundsätzlich auf Freiwilligkeit beruhen, wenn auch ein gewisser sozialer Druck auf die betreffenden Familien ausgeübt wird und finanzielle Anreize angeboten werden (vgl. Immigration and Refugee Board of Canada, Hisbollah, 6. November 2018, S. 2 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt Libanon, 12.9.2018, S. 21; Danish Immigration Service (DIS), Stateless Palestinian Refugees in Lebanon, Oktober 2014, S. 67 ff.; siehe auch VG Berlin, Gerichtsbescheid v. 9.1.2018 – VG 34 K 994.17 A – juris Rn. 35; VG Köln, U.v. 11.10.2019 – 20 K 11730/17.A – juris Rn. 36; VG Trier, U.v. 28.11.2018 – 1 K 6228/17.TR – juris Rn 35 f.). Gleiches gilt für die Fatah (vgl. EASO, Rekrutierung von Personen durch Fatah bzw. Hisbollah, 24. Februar 2020). Soweit eine einzige Quelle auf gewaltsame Rekrutierungen der Hisbollah verweist (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Libanon, 1.9.2020, S. 22), bleibt schon unklar, was darunter konkret zu verstehen ist. Jedenfalls spricht nichts dafür, dass es sich um ein verbreitetes Phänomen handelt. Dies zumal auch nicht ersichtlich ist, welches Interesse die Hisbollah und andere bewaffnete Gruppierungen daran haben sollten, Personen als Kämpfer oder „Spione“ in ihre Reihen zu zwingen (und zu besolden), die dazu erklärtermaßen nicht bereit sind und von denen daher gerade in kritischen Situationen Einsatzwille und Loyalität nicht zu erwarten sind. Derartige Personen dürften aus Sicht der militanten Organisationen eher ein Sicherheitsrisiko als eine Bereicherung darstellen (vgl. hierzu VG Berlin, U.v. 24.11.2021 – 34 K 326.18 A – juris).
Im Übrigen müsste sich der Kläger für den Fall einer 2018 tatsächlich gegebenen Bedrohungslage durch politische und religiöse Gruppen („bärtige Männer“) auf die Möglichkeit eines Wechsels des Wohnorts verweisen lassen. Das dies nicht möglich wäre, ist den Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Libanon, 12.9.2018, S. 50 unter Verweis auf USDOS 20.4.2018; UNHCR 2/2016). Nichts Anderes kann auch für die Einlassung des Klägers, er sei nicht umgezogen, da er woanders keine Unterkunft und keine Arbeit gehabt hätte, gelten.
Es ist auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse weiter auch nicht ersichtlich, dass der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise am … … … aufgrund seiner Zugehörigkeit zur palästinensischen Volksgruppe begründete Furcht vor Verfolgung durch den libanesischen Staat, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend war, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellte, haben musste, auch wenn die Lage der palästinensischen Flüchtlinge u.a. aufgrund staatlicher Restriktionen prekär war:
Palästina-Flüchtlingen im Libanon waren damals wie heute bestimmte politische und wirtschaftliche Rechte verwehrt; sie haben den Status von Ausländern und es kam und kommt zu gesellschaftlicher Diskriminierung. So haben nur Frauen die Möglichkeit, durch Heirat die libanesische Staatsbürgerschaft zu erlangen, wobei häufig administrative Hürden bestehen (Auswärtiges Amt (AA), Lagebericht Libanon, 1.3.2018, S.12; BFA, Länderinformationsblatt Libanon, 12.9.2018, S. 48). Kinder können die libanesische Staatsangehörigkeit nur vom Vater erwerben (US-Außenministerium, Human Rights Report 2019, S. 25; BFA, Länderinformationsblatt Libanon, 12.9.2018, S. 37). Staatenlose Palästinenser dürfen, anders als andere Ausländer, im Libanon seit 2001 auch keinen Grund und Boden erwerben. Der Besuch libanesischer Schulen steht Palästinensern ebenfalls nicht offen. Sie sind auf die 69 vorhandenen UNRWA-Schulen und die privaten Schulen angewiesen. Universitäre Bildung wird dadurch stark eingeschränkt, dass palästinensische Studenten sich auf die für Ausländer reservierten 10% der Studienplätze bewerben müssen (vgl. AA, Lagebericht Libanon, 1.3.2018, S. 12). Palästinensern ist ferner die Ausübung von über 30 – insbesondere freien – Berufen verboten. Dazu zählen etwa die Bereiche Medizin, Recht, Ingenieurwesen, Fischerei, Krankenpflege, Tourismus und Berufe, die einen Führerschein für die öffentliche Personenbeförderung voraussetzen (vgl. Finnish Immigration Service, Fact-Finding Mission Report „Syrian and Palestinian [in Lebanon and Exiting Syria] Refugees in Lebanon“, 29.9.2016, S. 7). Für die Ausübung der anderen Berufe in einem legalen Beschäftigungsverhältnis bedürfen Palästinenser einer Arbeitserlaubnis, die jährlich erneuert werden muss und in vielen Fällen nicht erteilt wird. Viele palästinische Flüchtlinge sind daher in geringer bezahlten Berufen und häufig im informellen Sektor beschäftigt. Auch für die gesundheitliche Versorgung sind die staatenlosen Palästinenser auf das UNRWA-Hilfswerk und andere NGOs angewiesen.
Repressionen allein aufgrund der palästinensischen Volkszugehörigkeit, die in der Summe das Maß einer schwerwiegenden und systematischen Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, sind nach aktuellen Erkenntnissen allerdings nicht bekannt (BFA, Länderinformationsblatt Libanon, 12.9.2018, S. 47; AA, Lagebericht Libanon, 1.3.2018, S. 12; vgl. auch VG Potsdam, U.v. 18.6.2020 – 8 K 3961/17.A – juris Rn. 45; VG Bremen, B.v. 8.12.2020 – 1 V 1087/20 – juris Rn. 34).
Vor diesem Hintergrund ist zwar zweifelsohne eine Diskriminierung palästinensischer Flüchtlinge festzustellen, diese erreicht aber weder die Intensität eines staatlichen Verfolgungsprogramms noch in der Summe der einzelnen Maßnahmen eine „Verfolgungsdichte“, die einer systematischen Verfolgung gleichzusetzen wäre (zu diesem Maßstab vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 13).
b) Nach der in Auswertung der Erkenntnislage und unter Berücksichtigung der Einlassung des Klägers gewonnenen Überzeugung des Gerichts bestehen zudem auch keine Nachfluchtgründe, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers führen.
Ist ein Schutzsuchender unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr nur vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, weswegen ihm die Rückkehr in den Heimatstaat nicht zumutbar ist (vgl. die Vermutungsregelung in Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU). Vorliegend sind keine Anhaltspunkte für eine entsprechend begründete Furcht des Klägers vor individueller politischer Verfolgung oder Gruppenverfolgung aufgrund von Ereignissen ersichtlich, die nach seiner Ausreise eingetreten sind.
Schließlich besteht für den Kläger – wie bereits ausgeführt – eine interne Fluchtalternative gemäß § 3 e AsylG.
2. Der Kläger ist auch nicht als subsidiär Schutzberechtigter anzuerkennen. Ihm droht im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG.
Ein Drohen von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ist nicht ersichtlich. Denkbare auf einer schlechten allgemeinen humanitären Lage beruhende Beeinträchtigungen des Klägers stellen keinen ernsthaften Schaden dar; davon sind nur Fälle erfasst, in denen eine notwendige humanitäre Versorgung gezielt durch einen Akteur vorenthalten wird (BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 9 ff., 12 mit Verweis auf EuGH, U.v. 18.12.2014 – M´Bodj, C-542/13 – Rn. 35, 41).
Ferner droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Libanon auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. Eine solche Bedrohung ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anzunehmen, wenn der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, U.v. 17.2.2009 – M.E., C-465/07 – juris Rn. 35). Wenn – wie hier – individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, erfordert dies eine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9.08 – juris Rn. 15).
Nach diesen Maßstäben lässt sich eine hinreichende Gefährdung des Klägers infolge willkürlicher Gewalt bei einer Rückkehr in den Libanon nicht feststellen. Ihm steht es frei, sich im Libanon in eines der zwölf UNRWA-Lager zu begeben und dort ohne Gefahr einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt zu leben.
Zwar stehen die UNRWA-Flüchtlingslager weiterhin ganz überwiegend nicht unter der staatlichen Kontrolle des Libanon. Staatliche Institutionen haben dort keinen Zugriff, sondern kontrollieren lediglich die Ein- und Ausgänge zu den Camps. Die Sicherheit innerhalb der UNRWA-Lager wird aufgrund einer Vereinbarung mit der Regierung allerdings durch palästinensische Ordnungskräfte und Volkskomitees gewährleistet, die von der jeweils politisch bestimmenden Fraktion bestellt werden (Auswärtiges Amt (AA), Lagebericht – Libanon, 17.12.2021, S. 13; US-Außenministerium, Country Report on Human Rights Practices 2020 – Lebanon, 30.3.2021, S. 12). Dennoch nutzen Gruppen wie u.a. die Hamas, die Volksfront für die Befreiung Palästinas, das Generalkommando der Volksfront für die Befreiung Palästinas, Asbat al-Ansar, Fatah al-Islam, Fatah al-Intifada, Jund al-Sham, der Palästinensische Islamische Dschihad und die Abdullah-Azzam-Brigaden nach derzeitigen Erkenntnissen weiterhin den Umstand begrenzter Regierungskontrolle in den zwölf palästinensischen Flüchtlingslagern für ihre Operationen (Österreichisches Bundesamt für Fremdwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt – Libanon, 31.10.2021, S. 13). Diese Lager werden nach den vorliegenden Erkenntnissen als sichere Zufluchtsorte genutzt und dienen u.a. auch als Waffenverstecke (s. zu einer Explosion eines Waffendepots am 10.12.2021 im Flüchtlingscamp Burj Shemali bei der libanesischen Stadt Tyre, zeit online v. 11.12.2021: „Mehrere Verletzte bei Explosion im Flüchtlingslager“). Terroristische Gruppen, die die Lager als Rückzugsraum nutzen, stehen allerdings unter hohem Verfolgungsdruck durch die Sicherheitskräfte (Auswärtiges Amt (AA), Lagebericht – Libanon, 17.12.2021, S. 13). Nach den vorliegenden Erkenntnissen kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen extremistischen Gruppierungen in den UNRWA-Lagern, die teilweise als schwer eingeordnet werden müssen (nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts betraf dies in Vergangenheit insbesondere die Lager Mie-Mie und Ain-el-Hilwe) und in die teilweise auch die libanesischen Sicherheitskräfte eingreifen, da die Sicherheitskräfte vor Ort teils überfordert zu sein scheinen (Auswärtiges Amt (AA), Lagebericht – Libanon, 17.12.2021, S. 13). Ebenso kommt es zu sporadischen bewaffneten Zusammenstößen in (anderen) Lagern, die zu einer zeitweisen Unterbrechung von Bildungs- und Gesundheitsdiensten führten (Österreichisches Bundesamt für Fremdwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt – Libanon, 31.10.2021, S. 56).
Grundsätzlich werden die Flüchtlingslager jedoch auch weiterhin durch palästinensische bewaffnete Ordnungskräfte und Volkskomitees gesichert. Insoweit bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen extremistischen Gruppierungen in den Lagern auftreten und bei den geschilderten Auseinandersetzungen in Vergangenheit auch Unbeteiligte getötet wurden, vermag das Gericht derzeit nicht zu erkennen, dass diese Opfer eine so große Zahl erreicht hätten, dass davon auszugehen wäre, dass ein solches Niveau an Gewalt vorliegt dass jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem Lager und der Region konkret mit einer Gefahr für Leib oder Leben bedroht wäre(vgl. VG Dresden, U.v. 21.7.2021 – 11 K 1030/17.A – juris Rn. 61; VG Hamburg, U.v. 9.9.2021 – 14 A 6163/21 – juris Rn. 28 ff.). So wird etwa eine Auseinandersetzung mit Schusswaffen am 14. Oktober 2021, als ein Protest von Schiiten im Zusammenhang mit den Ermittlungen der Hafenexplosion eskalierte und sieben Personen getötet und mehr als 30 Personen verletzt wurden, als der schlimmste Gewaltausbruch zwischen Konfessionsgruppen seit dem Jahr 2008 bezeichnet (vgl. Congressional Research Service, Lebanon: New Mikati Government Faces Challenges, 18.10.2021, S. 3). In den palästinensischen Flüchtlingslagern haben zwischen Oktober 2020 und April 2021 keine gewaltsamen Auseinandersetzungen stattgefunden (vgl. UN Security Council, Implementation of Security Council Resolution 1559, 22. April 2021, S. 7) oder waren jedenfalls so niedrigschwellig, dass darüber nichts bekannt wurde.
An der libanesisch-israelischen Grenze kommt es immer wieder zu Gefechten zwischen israelischen Streitkräften und bewaffneten Gruppierungen (vgl. BAMF, Briefing Notes, Auszug Libanon, 9.8.2021, S. 8). Die allgemeine Zivilbevölkerung, erst recht die, die – wie der Kläger im Falle einer Rückkehr – nicht in … lebt, ist davon aber nicht betroffen. Auch für ein flächendeckendes Übergreifen des Syrienkonflikts auf den Libanon gibt es weiterhin keine Anhaltspunkte (vgl. UN Security Council, Report of the Secretary-General, Zeitraum 19.2.2020 – 16.6.2020).
Gleiches ist im Hinblick auf die innenpolitischen Proteste der vergangenen Jahre anzunehmen. Zwar haben die seit Oktober 2019 immer wieder stattfindenden Massenproteste in letzter Zeit auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften geführt, die teils als schwer zu bezeichnen waren (Auswärtiges Amt (AA), Lagebericht – Libanon, 17.12.2021, S. 13). Unter anderem in Beirut und Tripoli kam es zuletzt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, die zum Teil zahlreiche Verletzte gefordert haben (Österreichisches Bundesamt für Fremdwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt – Libanon, 31.10.2021, S. 56; FAZ online v. 29.1.2021: „Not und Wut treiben die Libanesen auf die Straße“, www.faz.net; Spiegel online vom 27.1.2021: „Libanon – Dutzende Verletzte bei Protesten gegen Armut und Ausgangsbeschränkungen“, www.spiegel.de). Auch diese Auseinandersetzungen erreichen aber nicht die Schwelle einer ernsthaften individuellen Bedrohung der Kläger (so auch VG Potsdam, U.v. 18.6.2020 – 8 K 3961/17.A – juris Rn. 44 ff.). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger den Protesten und den mit ihnen verbundenen Auseinandersetzungen nicht ausweichen könnte.
Schließlich ist auch für ein flächendeckendes Übergreifen des Syrienkonflikts auf den Libanon oder ein Übergreifen der temporären Spannungen im Grenzgebiet zu Israel gibt es weiterhin keine Anhaltspunkte (vgl. UN Security Council, Report of the Secretary-General, Zeitraum 19.2.2020 – 16.6.2020; AA, Lagebericht, 17.12.2021; S. 8).
3. Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen in der Person des Klägers hinsichtlich des Libanon zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor.
3.1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen allerdings ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen; diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11) bzw. sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17 – juris Rn. 90 ff.; siehe auch BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12). Mithin ist von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris). Die Schwelle von Art. 3 EMRK wird auch nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs (EGMR) bei schlechten humanitären Verhältnissen nur in seltenen Fällen erreicht (EGMR, U.v. 28.6.2011 – S. und E., 8319/07 – juris).
In seiner jüngeren Rechtsprechung (EuGH, Urt. v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. – juris Rn. 89 ff.) stellt der Gerichtshof der Europäischen Union darauf ab, ob sich die betroffene Person aufgrund der Gleichgültigkeit der Behörden im Zielstaat „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“. Ob dieser Maßstab auch für die Beurteilung des Vorliegens von menschenwürdigen Lebensbedingungen im UNRWA-Einsatzgebiet, in dem staatliche Behörden keinen bzw. kaum Einfluss ausüben und Hilfsleistungen durch das UNRWA (und andere Nichtregierungsorganisationen) erbracht werden, maßgeblich ist, kann dabei dahingestellt bleiben, denn auch bei Übertragung dieses Maßstabs drohten dem ledigen, jungen und gebildeten Kläger, der sich nach Überzeugung des Gerichts insgesamt in einem guten Gesundheitszustand befindet (dazu näher sogleich), unter Berücksichtigung dieser individuellen Umstände sowie der allgemeinen Lage in dem UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon keine menschenunwürdigen Lebensbedingungen.
Die allgemeinen Lebensbedingungen von Palästinensern im Libanon waren und sind zweifelslos weiterhin prekär (vgl. etwa VG Berlin U.v. 9.2.2018 – 34 K 466. 16 A – juris Rn. 36-43). Das Land befindet sich seit 2019 in einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise. Das libanesische Finanzwesen hatte sich in den vergangenen Jahren durch sog. „financial engineering“ der Zentralbank zu einem letztlich betrügerischen Pyramidensystem entwickelt. Im Ergebnis wurden rund 2,5 Mio. Konten von Sparern und Anlegern ohne gesetzliche Grundlage „eingefroren“. Dieser Zustand hält – mangels gesetzlicher Kapitalverkehrskontrollen – bis heute an. Maßnahmen der Regierung im Zuge der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie sowie die Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 haben die wirtschaftliche Notlage weiter verschärft (BFA, Länderinformationsblatt Libanon, 31.10.2021; S. 57; AA; Lagebericht Libanon, 4.1.2021; S. 5). Die Währung hat mehr als 90% ihres Werts verloren. Die libanesische Bevölkerung ist nun mit einer der weltweit ärgsten Wirtschaftskrisen der letzten 150 Jahre konfrontiert, welche die Weltbank als „absichtliche Depression“, verursacht durch die Regierenden, bezeichnet (AA, Lagebericht Libanon, 4.1.2021, S. 5). Die Hyperinflation liegt im dreistelligen Bereich, und die Lebensmittelpreise stiegen seit 2019 um über 500%. Es bestehen Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten, elektrischem Strom, Treibstoff, Trinkwasser und anderen Gütern. Die Arbeitslosigkeit steigt, zum Teil ist von Arbeitslosenquoten von 50% die Rede. Dies und die steigenden Preise infolge Währungsverlusts verringern den Zugang zu Lebensmitteln, Obdach und Gesundheitsversorgung (BFA, Länderinformationsblatt Libanon, 31.10.2021, S. 58).
Die schwierige sozioökonomische Lage verschärft dabei insbesondere die Situation marginalisierter Randgruppen und damit auch die Situation von Flüchtlingen. Sofern diese ohne Unterstützung von dritter Seite auf sich allein gestellt wären, bestünde die ernsthafte Gefahr, dass sie zur Sicherung ihres Existenzminimums nicht mehr in der Lage wären. Einem sozialen Netzwerk kommt insoweit eine wichtige Funktion zu. Eine wachsende Zahl staatenloser Palästinenser ist nahezu vollständig von UNRWA-Leistungen und familiärer Unterstützung abhängig, um eine Situation extremer materieller Not zu verhindern. Viele Leistungen des Hilfswerks sind auch unabhängig von einer Registrierung zugänglich.
Das UNRWA stellt neben Schulen, medizinischer Versorgung, Infrastruktur- und Gefahrenabwehrleistungen unverändert auch soziale Leistungen zur Verfügung. So werden verarmte palästinensische Haushalte vom UNRWA im Rahmen des Programms Relief and Social Services (RSS) unterstützt und die Entwicklung und Eigenständigkeit benachteiligter Personen gefördert. Ein Härtefallhilfsprogramm („special hardship assistance programme”) stellt vierteljährlich etwa 60.000 von schätzungsweise 200.000 im Land befindlichen palästinensischen Flüchtlingen Sachleistungen in Form von Nahrungsmitteln und Bargeld zur Verfügung, sowie einmalige Bargeldunterstützungen in speziellen Fällen mit akuten Bedürfnissen. Es gibt ferner ein Mikrokredit-Programm, das Kredite zum Start von Unternehmen oder deren Vergrößerung zur Verfügung stellt und Wohnkredite, um die Wohnbedingungen von Flüchtlingen zu verbessern (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung Libanon: sozioökonomische Lage von palästinensischen Flüchtlingen, 29. Juni 2021, S. 8). Andere Hilfsorganisationen, etwa der Palästinensische Rote Halbmond, sind gemeinsam mit dem UNRWA ebenfalls im Libanon für Palästinenser aktiv und leisten – wenn auch nicht konsistent – Hilfe (vgl. ACCORD, Schutz und Leistungen der UNRWA in palästinensischen Flüchtlingslagern, 9.7.2021, S. 3; BFA, Länderinformationsblatt Libanon, 1.9.2020, S. 49). Hinreichende Anhaltspunkte, dass es dem UNRWA derzeit aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich wäre, diese Hilfeleistungen an bedürftige (registrierte und nichtregistrierte) Palästinenser zu erbringen, um eine extreme Gefährdung zu verhindern, bestehen im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (vgl. AA, Auskunft an das VG Würzburg, 2.3.2021, S. 4; ausführlich dazu VG München, 8.3.2022 – M 22 K 17.31420 – noch n.v.).
Aufgrund dieser Erkenntnislage ist das Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht überzeugt, dass Palästinenser im Libanon, die – wie der Kläger – auf ein familiäres oder soziales Netzwerk zurückgreifen können und nicht besonders vulnerabel sind, dort beachtlich wahrscheinlich ihre existentiellen Lebensbedürfnisse nicht befriedigen können und zu verelenden drohen (so zuletzt auch VG Berlin, U.v. 24.11.2021 – 34 K 326.18 A; VG Dresden, U.v. 11.5.2021 – 11 K 1757/18.A – juris S. 16 ff.; VG Hamburg, U.v. 19.4.2021 – 14 A 1145/17 – MILo S. 22 ff.; VG Berlin, U.v. 19.2.2020 – VG 38 K 253.19 A – juris Rn. 37 ff.; VG Potsdam, U.v. 18.6.2020 – 8 K 3961/17.A – juris Rn. 38 ff.). Trotz der mittlerweile unbestritten sehr schwierigen Lebensbedingungen von Palästinensern im Libanon – und des sicherlich weiterhin steigenden Finanzbedarfs des UNRWA – lassen die vorliegenden Erkenntnismittel im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht den Schluss zu, nicht vulnerable Palästinenser im Libanon könnten nicht durch eigene Erwerbstätigkeit, durch Unterstützung durch Familienangehörige, die insbesondere nach einer Rückkehr (vorübergehend) ein Obdach gewähren, bei der Beantragung verschiedener Leistungen des UNRWA helfen und ergänzend zu einer Versorgung mit Lebensmitteln beitragen können, und ggf. mit Hilfeleistungen des UNRWA eine – wenn auch sehr bescheidene – Grundversorgung sicherstellen.
Davon ausgehend ist das Gericht nicht überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Libanon sein Existenzminimum nicht sichern kann. Der Kläger ist ein junger, im Grunde gesunder Mann mit Hochschulabschluss und Sprachkenntnissen, der vor seiner Ausreise aus dem Libanon dort bereits gearbeitet und in einer Unterkunft mit seiner Familie gewohnt hat, die in der Lage war, private Schuldausbildung für die Kinder zu finanzieren und einen nicht unerheblichen Studienkredit zu erhalten. Der Kläger hat auch nach wie vor mehrere Familienangehörige (mit denen er eigenen Angaben zufolge weiterhin in regelmäßigem Kontakt sei) und damit ein beachtliches soziales Netzwerk im Libanon. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Libanon mit Unterstützung seiner Angehörigen (im Libanon und im Ausland), in gemeinschaftlicher Anstrengung (sowie ggf. der Hilfsleistungen von UNRWA) seine elementaren Bedürfnisse und sein Existenzminimum betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung wird sichern können. Dass der Kläger möglicherweise keinen seinem Hochschulabschluss entsprechenden Job findet, ist für die Beurteilung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK unerheblich. Ernsthafte gesundheitliche Einschränkungen – und damit zwingende humanitäre Gründe (näher dazu sogleich) -dem entgegenstehen könnten, wurden nicht glaubhaft gemacht.
3.2 Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Betroffenen individuell eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Grundsätzlich kommt die Annahme eines solchen Abschiebeverbots nur bei Vorlegen individueller Extremgefahren in Betracht. Individuelle Gründe, insbesondere Vorerkrankungen oder andere Leiden, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen könnten, hat der Kläger aber nicht vorgebracht; jedenfalls fehlt die hinreichende Glaubhaftmachung. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der COVID-19-Pandemie (so bereits VG München, U.v. 14.4.2022 – M 22 K 16.36503).
Nach eigenen Angaben befinde sich der Kläger in therapeutischer Behandlung bei einer Ärztin im Libanon, wobei die Behandlung seiner vorgetragenen Depression online erfolge. Fachärztliche Atteste wurden nicht vorgelegt; ein Arzt in der Bundesrepublik wurde nicht aufgesucht (vgl. zu den hohen Anforderungen für die Annahme von menschenunwürdigen Bedingungen aus gesundheitlichen oder humanitären Gründen OVG NW, U.v. 10.12.2020 – 19 A 2379/18 – juris Rn. 87 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 14.12.2018 – 1 ZB 18.33263 – juris Rn. 3; OVG Bremen, B.v. 12.11.2018 – 2 LA 60/18 – juris Rn. 7). Vor diesem Hintergrund sieht das Gericht keine Anhaltspunkte für die Annahme einer individuellen Extremgefahr, die ein Abschiebungsverbot rechtfertigen könnte, zumal die Behandlung bei der libanesischen Ärztin vor Ort vermutlich sogar erfolgreicher wäre.
4. Selbst, wenn man von einer vorhandenen Registrierung des Klägers bei dem UNRWA – und damit von der Einschlägigkeit der Ausschlussklausel in § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG – ausgehen würde, sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ipso facto zur Überzeugung des Gerichts nicht gegeben (vgl. § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG).
Wie bereits ausgeführt, ist vorliegend nicht davon auszugehen, dass sich der Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise in einer von seinem Willen unabhängigen, sehr unsicheren persönlichen Lage aufgrund von Verfolgung, der Gefahr eines ernsthaften Schadens oder menschenunwürdiger Lebensbedingungen befand und den Schutz und Beistand des UNRWA im Sinne der Einschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht mehr in Anspruch nehmen konnte, u.a. weil er sich dort in einer existenzbedrohenden wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Situation befand. Es kann insofern nicht von einem „Wegfall“ des Schutzes durch das Hilfswerk ausgegangen werden; der Kläger hat vielmehr auf diesen Schutz aus freien Stücken verzichtet. Mithin besteht – auch bei Unterstellung einer UNRWA-Registrierung des Klägers – kein Anspruch auf Zuerkennung einer ipso facto Flüchtlingseigenschaft.
5. Die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig, da sie den Anforderungen in §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG entspricht. Dem Erlass der Abschiebungsandrohung steht insbesondere nicht entgegen, dass eine freiwillige Rückkehr bzw. Rückführung möglicherweise auf absehbare Zeit unmöglich ist, weil sich die libanesischen Behörden seit den Wahlen im Mai 2018 zögerlich zeigen, staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus dem Libanon, die sich im Ausland aufhalten und keine Aufenthaltsgenehmigung in Aufenthaltsland haben, die Rückkehr in den Libanon zu gestatten.
6. Rechtliche Bedenken gegen das gemäß § 75 Nr. 12 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot bestehen nicht. Die vom Bundesamt vorgenommene Befristung dieses Verbotes nach § 11 Abs. 2 und 3 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung ist aus den im Bescheid genannten Gründen fehlerfrei. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Bundesamt in Fällen, in denen – wie hier – keine individuellen Gründe ersichtlich sind, aus Gründen der Gleichbehandlung eine Frist von 30 Monaten bestimmt und damit das in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG festgelegte Höchstmaß zur Hälfte ausschöpft (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47.20 – juris Rn. 27 f.).
7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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