Verwaltungsrecht

In Afghanistan besteht für Unterstützer der Regierung die Gefahr, durch die Taliban angegriffen und entführt oder getötet zu werden

Aktenzeichen  M 17 K 16.34872

Datum:
24.4.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

In Afghanistan besteht für Personen, die mit der Regierung verbunden sind oder diese unterstützen bzw. verdächtigt werden, mit diesen zusammenzuarbeiten, wie zB Polizisten, Sicherheitskräften uÄ, sowie deren Familienangehörigen die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass diese, auch als Vergeltungsmaßnahmen und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft, von den Taliban angegriffen und entführt oder getötet werden. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. November 2016 wird in den Nrn. 3 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 19. April 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagtenseite nicht erschienen war. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und insoweit begründet, als der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG hat; Nrn. 3 bis 6 des Bescheids vom 18. November 2016 sind insoweit rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).
1. Das Bundesamt hat zu Recht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) abgelehnt.
1.1 Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d) Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VG Ansbach, U.v. 28.4.2015 – AN 1 K 14.30761 – juris Rn. 65ff. m.V. auf: BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
1.2 Der Kläger hat hier geltend gemacht, dass sein Vater wegen seiner Tätigkeit als Security in einem von Soldaten genutzten Hotel Drohbriefe erhalten habe und dass er selbst auf dem Rückweg von der Bank in … von Unbekannten überfallen, entführt sowie für ca. zwei Wochen wohl wegen Lösegelderpressung festgehalten worden sei. Dies begründet aber bereits mangels Anknüpfung an die dort genannten Merkmale keine Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG (vgl. a. VG Würzburg, U.v. 28.10.2016 – W 1 K 16.31835 – juris Rn. 33).
2. Der Kläger kann nach Auffassung des Gerichts jedoch subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG beanspruchen.
2.1 Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:
1.die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohenden Schadens die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit – insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit – abzustellen. Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für eine Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27.85 – juris).
2.2 Dass dem Kläger die Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
2.3 Es ist jedoch davon auszugehen, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter bzw. eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG droht.
a) Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen. Kriterien hierfür sind etwa die Art der Behandlung oder Bestrafung und der Zusammenhang, in dem sie erfolgt, die Art und Weise der Vollstreckung, ihre zeitliche Dauer, ihre physischen und geistigen Wirkungen sowie gegebenenfalls Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Abstrakt formuliert sind darunter Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. VGH BA, U.v. 6.3.2012 – A 11 S 3070/1 – juris Rn. 16; Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylG Rn. 21-27 m.w.N.).
Der Ausländer hat stichhaltige Gründe für die Annahme darzulegen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Der Maßstab der stichhaltigen Gründe entspricht dabei dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, wobei das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet. Bei qualifizierender Betrachtungsweise, d.h. bei einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung, müssen die für die Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht haben und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Die in diesem Sinne erforderliche Abwägung bezieht sich nicht allein auf das Element der Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern auch auf das Element der zeitlichen Nähe der befürchteten Ereignisse und auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs ist in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. VGH BW, U.v. 6.3.2012 – A 11 S 3070/11 – juris Rn. 17 m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylG Rn. 61 ff. m.w.N.).
b) Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes sind hier erfüllt:
aa) Der Kläger hat sowohl beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung am 19. April 2017 sehr ausführlich, detailliert und im Wesentlichen widerspruchsfrei geschildert, dass sein Vater, der bei einer Sicherheitsfirma gearbeitet hat, Drohbriefe erhalten habe und er selbst von maskierten Personen angegriffen, entführt und bis zur Befreiung durch amerikanische Soldaten festgehalten worden sei. Diese Schilderungen sind auch nach dem Gesamteindruck, den das Gericht in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat, glaubwürdig. Zwar hat der Kläger seine Entführer nicht erkennen können, Lösegelderpressung gehört nach den vorliegenden Erkenntnismitteln jedoch zu den typischen Betätigungsfeldern der Taliban, so dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass nicht nur die Drohbriefe, sondern auch die Entführung des Klägers diesen zuzurechnen ist.
bb) Damit ist aber anzunehmen, dass sowohl der Vater als auch der Kläger selbst in das Blickfeld der Taliban geraten sind. Der Vater war in Afghanistan für eine Sicherheitsfirma tätig und auch der Kläger selbst hat eng mit Soldaten, insbesondere den US-Streitkräften, zusammengearbeitet. Wie dieser in der mündlichen Verhandlung glaubhaft erklären konnte, hatte der Kläger trotz seines jungen Alters eine gewisse Vertrauensstellung inne, so dass er z.B. hohe Geldbeträge abheben durfte. Zudem war er für die Soldaten immerhin so wichtig, dass sie nach ihm suchten und ihn aus den Händen seiner Entführer befreiten. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln besteht aber für Personen, die mit der Regierung verbunden sind oder diese unterstützen bzw. verdächtigt werden, mit diesen zusammenzuarbeiten, wie z.B. Polizisten, Sicherheitskräften u.ä., sowie deren Familienangehörigen die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass diese, auch als Vergeltungsmaßnahmen und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft, von der Taliban angegriffen und entführt oder getötet werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan, Die aktuelle Sicherheitslage, Update vom 30.09.2016, S. 20 ff.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarf afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 41, 47 f.; vgl. a. UNAMA, annual report 2016, S. 64ff.; VG München, U.v. 25.11.2016 – M 24 K 16.31412; VG Würzburg, U.v. 28.10.2016 – W 1 K 16.31835 – juris).
Damit ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch die Taliban unterworden wird (vgl. VG Würzburg, U.v. 28.10.2016 – W 1 K 16.31835 – juris; VG Gelsenkirchen, U.v. 14.11.2013 – 5a K 2879/11.A – juris; jeweils zum Sohn eines Geheimdienstmitarbeiters). Dies gilt umso mehr, als die Entführer bei der Rettungsaktion zugunsten des Klägers offenbar getötet wurden, so dass Racheaktionen nicht auszuschließen sind.
cc) Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger erst ca. drei Monate nach der Entführung ausreiste. Zum einen war er zuerst in ärztlicher Behandlung, zum anderen hat der Kläger insoweit in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, dass er sich in dieser Zeit aus Angst primär im Haus aufgehalten hat.
dd) Schließlich kann im vorliegenden Fall auch nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger in Afghanistan z.B. in … aufgrund der Anonymität dieser Großstadt eine inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG zur Verfügung steht, da seine Entführung gerade in … erfolgte (vgl. a. VG Würzburg, U.v. 28.10.2016 – W 1 K 16.31835 – juris Rn. 30 unter Bezugnahme auf das Gutachten von Dr. D. vom 30.4.2013).
Nach alledem war der Klage somit hinsichtlich § 4 AsylG (Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids) stattzugeben. Dementsprechend waren auch die Feststellung zu Abschiebungsverboten, die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 4 bis 6 des Bescheids).
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris); Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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