Verwaltungsrecht

Inländische Fluchtalternative bei Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure in Sierra Leone

Aktenzeichen  RN 14 K 19.32074

Datum:
15.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 42700
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3c Nr. 3, § 3e Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 2c S. 3
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Angesichts der in Sierra Leone bestehenden infrastrukturellen Mängel ist nicht einmal ansatzweise erkennbar, wie etwaige Verfolger einen Asylsuchenden auffinden sollten, wenn er sich in einer größeren Stadt niederließe.  (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dass das behauptete traumatisierende Ereignis einer posttraumatischen Belastungsstörung tatsächlich stattgefunden hat, muss vom Ausländer gegenüber dem Tatrichter und nicht gegenüber einem ärztlichen oder psychologischen Gutachter nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht werden. Der objektive Ereignisaspekt ist nämlich nicht Gegenstand der gutachtlichen ärztlichen Untersuchung zu einer PTBS (BayVGH BeckRS 2017, 111545). (Rn. 64) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige, insbesondere fristgemäß erhobene (vgl. § 74 Abs. 1 Hs. 1 AsylG) Klage ist nicht begründet. Die Entscheidungen des Bundesamts, den Kläger nicht als Asylberechtigten anzuerkennen, ihm die Flüchtlingseigenschaft sowie den subsidiären Schutzstatus nicht zuzuerkennen, das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu verneinen und den Kläger unter Androhung seiner Abschiebung nach Sierra Leone zur Ausreise aufzufordern, sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Entsprechendes gilt für die vorgenommene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Die vom Bundesamt gemäß den §§ 31 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AsylG sowie den §§ 75 Nr. 12, 11 Abs. 2 AufenthG getroffenen Entscheidungen sind im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich ist, nicht zu beanstanden.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet (Nr. 2), dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Buchst. a)) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Buchst. b)). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn der Einzelne in Anknüpfung an die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt ist. Erforderlich ist insoweit, dass der Ausländer gezielte Rechtsverletzungen zu befürchten hat, die ihn wegen ihrer Intensität dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, B. v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris).
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3b AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
Der Kläger hat im Verlauf seines Asylverfahrens nicht vorgetragen, sein Heimatland aus Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG verlassen zu haben. Zwar gab der Kläger an, dass er von seinem Onkel und weiteren Mitgliedern der Society im Rahmen einer Zeremonie misshandelt worden sei und geopfert werden sollte. Allerdings knüpft die vom Kläger behauptete Verfolgung durch die Society nicht an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an. Eine mögliche Verfolgung des Klägers wäre ausschließlich krimineller Natur.
Soweit der Kläger behauptet, die Mitglieder der Society würden ihn auf spirituellem Wege ausfindig machen können, da er schon Teile des Rituals durchlaufen habe und befürchte, dass er im Falle einer Rückkehr das Ritual fortgesetzt werde, so ist darauf hinzuweisen, dass im Bereich des Aberglaubens wurzelnde Bedrohungen ebenfalls keine flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG darstellen (vgl. auch VG München, B.v. 18.10.2017 – M 21 S 17.38772 – juris, Rn. 20) und auch nicht als ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG angesehen werden können.
Im Übrigen wird auf die zutreffenden Darstellungen und die Begründungen im angegriffenen Bescheid gemäß § 77 Abs. 2 AsylG verwiesen.
2. Dem Kläger steht ein Asylrecht im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG nicht zu. Nach Art. 16a Abs. 2 GG kann sich auf das Asylrecht nicht berufen, wer zur Überzeugung des Gerichts über einen sicheren Drittstaat im Sinne des § 26a AsylG eingereist ist. Ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter scheidet hier bereits deshalb aus, weil der Kläger über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Zu den sicheren Drittstaaten gehören nach § 26a Abs. 2 AsylG neben den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die in Anlage I des AsylG bezeichneten Staaten. Wer über einen solchen Staat in die Bundesrepublik Deutschland einreist, ist von der Berufung auf Art. 16a Abs. 1 GG ausgeschlossen. Er wird gemäß Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a Abs. 1 Satz 2 AsylG nicht als Asylberechtigter anerkannt. Der Kläger hat beim Bundesamt bestätigt, dass er jedenfalls über Italien in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, weshalb die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigten nicht vorliegen.
3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
Die Gefahr eines ernsthaften Schadens kann ausgehen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, da § 3c AsylG gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG entsprechend gilt.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Gefahr eines ernsthaften Schadens begründet ist, gilt unabhängig davon, ob ein Antragsteller bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris, Rn. 22 = BVerwGE 140, 22). Eine Privilegierung desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat, erfolgt aber durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie (QualRL – RL 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 ff.). Ein bereits erlittener bzw. vor der Ausreise unmittelbar drohender ernsthafter Schaden, sind danach ernsthafte Hinweise darauf, dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, auch im Falle einer Rückkehr einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies gilt nur dann nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird. In der Vergangenheit liegenden Umständen ist damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beizumessen (vgl. auch OVG NRW, U.v. 21.2.2017 – 14 A 2316/16.A – juris, Rn. 24).
Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Flüchtlings die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris, Rn. 16 = BVerwGE 71, 180 und U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris, Rn. 11). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris, Rn. 16, U.v. 1.10.1985 – 9 C 19.85 – juris, Rn. 16 und B.v. 21.7.1989 – 9 B 239.89 – juris, Rn. 3 = NVwZ 1990, 171).
a) Dass dem Kläger die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch staatliche Stellen droht, ist nicht beachtlich wahrscheinlich. Der Kläger selbst hat nicht vorgetragen, von staatlicher Seite irgendetwas befürchten zu müssen. Die vorgetragene Furcht vor einer Tötung aus Rache, weil er sich dem Ritual der Society entzogen habe, ist ebenfalls nur krimineller Natur und stellt kein staatliches Handeln dar.
In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass die Verfassung von Sierra Leone Folter und andere grausame, inhumane oder entwürdigende Praktiken oder Bestrafungen verbietet. Die Todesstrafe ist für die Kapitalverbrechen Landesverrat und schweren Raub vorgesehen. Bei Mord ist sie zwingend vorgeschrieben. Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung hat in ihrem Abschlussbericht deren Abschaffung empfohlen (vgl. Informationszentrum Asyl und Migration des BAMF, Glossar Islamische Länder – Band 17, Sierra Leone, Mai 2010). Auch wenn die Todesstrafe noch nicht abgeschafft ist, so wird ein Moratorium beachtet. Seit 1998 wurde sie nicht mehr praktiziert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Sierra Leone, Wien am 4.7.2018).
b) Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass für den Kläger die Gefahr besteht, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch nichtstaatliche Akteure nach den §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, 3c Nr. 3 AsylG zu erleiden.
Unter Zugrundelegung der eingangs aufgezeigten Maßstäbe zur Glaubhaftmachung von Geschehnissen im Heimatland ist die zur Entscheidung berufene Einzelrichterin davon überzeugt, dass sich die vom Kläger vorgetragenen Geschehnisse in Wirklichkeit nicht ereignet haben. Die Angaben des Klägers sind arm an Detail, unsubstantiiert und widersprüchlich.
Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt führte der Kläger aus, sein Onkel habe ihn an einen Ort gebracht, an dem Mitglieder der Society ein Ritual durchgeführt hätten. Er sei mehrere Tage dort festgehalten worden und hätte am 5. Tag getötet werden sollen. Es sei ihm jedoch am 4. Tag mithilfe eines anderen Jungen, der in einer ähnlichen Situation gewesen sei wie er, gelungen, zu flüchten. Dabei hätte der Junge seine Fesseln gelöst und sie seien dann zusammen über das Dach geflüchtet. Weiterhin gab er an, er sei anschließend zu seiner Mutter gegangen. Er sei dann mit seiner Mutter zusammen zur Familie des anderen Jungen gegangen, es sei aber schon zu spät gewesen, da die Polizei alles abgeriegelt hätte. Die Mitglieder der Gesellschaft hätten die Polizei informiert, weshalb die Polizei nach ihm gesucht hätte. Auf Nachfrage, wo die Gesellschaft aktiv gewesen sei, antwortet der Kläger, dass dies im östlichen Teil von Freetown in Kissy gewesen sei. Weiterhin erklärte der Kläger auf Nachfrage, dass der Junge, mit dem er geflüchtet sei, bei der Überfahrt nach Italien ertrunken sei.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung gab der Kläger hingegen an, er sei zusammen mit dem Jungen geflüchtet, indem er über Stahlgitter aus dem Zimmer, in dem er gefangen gehalten wurde, geklettert sei. Anschließend seien beide zunächst zur Familie des Jungen und anschließend zu seiner Mutter. Die Ausreise nach Guinea hätte zunächst seine Mutter finanziert, anschließend hätten ihn beide Eltern unterstützt. Der Junge, mit dem er geflüchtet sei, habe die Überfahrt überlebt, er habe aber seitdem nichts mehr von ihm gehört.
Widersprüchlich sind auch die Angaben hinsichtlich der Polizei. In der mündlichen Verhandlung wurde der Kläger gefragt, ob er nach den Geschehnissen hinsichtlich seines Onkels und der Society zur Polizei gegangen sei. Daraufhin antwortete der Kläger, dass er dies nicht getan habe, weil die Männer sehr mächtig seien und in der Regierung seines Landes wichtige Positionen besetzen würden, weshalb die Polizei ihn zur Society zurückgebracht hätte. Im Rahmen der Anhörung des Bundesamtes teilte der Kläger hingegen mit, dass die Polizei nach ihm gesucht hätte und den Stadtteil abgeriegelt hätte. Es erschließt sich der zur Entscheidung berufene Einzelrichterin nicht, weshalb einerseits die Polizei die Stadt abgeriegelt haben solle, um ihn aufzuspüren und andererseits der Kläger auf konkrete Nachfrage lediglich angibt, zur Polizei habe er nicht gehen können, ohne von der angeblichen Suche durch die Polizei zu berichten.
Im Widerspruch stehen auch die Angaben hinsichtlich der Finanzierung seiner Ausreise. Bei der Anhörung des Bundesamts gab der Kläger an, seine Ausreise habe 1.500 USD gekostet, wovon sein Vater 900 USD und seine Mutter 600 USD gezahlt hätten. In der mündlichen Verhandlung wurde der Kläger erneut zu den Kosten seiner Ausreise befragt. Der Kläger konnte sich nicht mehr genau erinnern und meinte, es seien 2.000 USD oder 3.000 USD gewesen. Das Geld hätten ihm seine Eltern über die Bank zukommen lassen.
Im Übrigen sind die Angaben des Klägers oberflächlich und detailarm. Nachfragen hinsichtlich konkreter Details, unter anderem nach der Anzahl der Leute, die an dem Ritual beteiligt gewesen seien, wo sich sein Onkel zum Zeitpunkt des Rituals aufgehalten habe, welche Stellung sein Onkel in der Society gehabt habe, konnte der Kläger nicht beantworten.
Für die Annahme, dass der Kläger nicht von wahren Begebenheiten berichtet hat, spricht auch der Umstand, dass der Kläger angab, zu Fuß mehrere Stunden geflüchtet zu sein. Er gab an, die Society sei im östlichen Teil von Freetown in Kissy tätig und er sei zunächst zum Haus seiner Mutter geflüchtet. Laut Angaben des Klägers habe seine Mutter vor ihrer Ausreise nach Gambia in Freetown in der … Street gewohnt. Nach den Erkenntnissen des Gerichts liegt der Stadtteil Kissy von der Green Street in Freetown lediglich 4 km entfernt (vgl. OpenStreetMaps). Sofern der Kläger angibt, er sei mehrere Stunden zu Fuß unterwegs gewesen, wobei er vom Ort des Rituals wegen Angst um sein Leben geflüchtet sei, widerspricht dies jeglicher Lebenserfahrung.
Aufgrund der widersprüchlichen Angaben und des persönlichen Eindrucks, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat, ist die zur Entscheidung berufene Einzelrichterin davon überzeugt, dass die Angaben des Klägers nicht der Wahrheit entsprechen und das klägerische Vorbringen ausschließlich asyltaktisch motiviert ist.
Selbst wenn man jedoch davon ausgehen wollte, dass der Kläger von nichtstaatlichen Akteuren – seinem Onkel und weiteren Mitgliedern der Society – verfolgt worden ist, so muss er sich auf internen Schutz verweisen lassen.
Nach den §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt, wenn in einem Teil seines Herkunftslandes keine Gefahr besteht, dass er einen ernsthaften Schaden erleidet oder er dort Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden nach den §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3d AsylG hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).
Nach den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen ist dies dann der Fall, wenn sich der Kläger nicht am Ort der geschilderten Verfolgung niederlässt. Insbesondere in größeren Städten – etwa in Waterloo, Makeni, Bo, Kenema oder Port Loko – ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger dort von nichtstaatlichen Akteuren aufgespürt werden könnte. Insbesondere in den größeren Städten Sierra Leones ist es nach der Überzeugung des Gerichts möglich, unbehelligt von nichtstaatlichen Akteuren zu leben. In der Verfassung von Sierra Leone sind uneingeschränkte Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr verankert. Auch wenn es Berichte gibt, wonach Sicherheitskräfte bei Straßensperren außerhalb der Hauptstadt Bestechungsgelder von Fahrzeuglenkern verlangen, ist doch festzustellen, dass die Regierung diese Rechte respektiert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Sierra Leone, Wien am 4.7.2018). Angesichts der in Sierra Leone bestehenden infrastrukturellen Mängel ist nicht einmal ansatzweise erkennbar, wie etwaige Verfolger den Kläger auffinden sollten, wenn er sich in einer größeren Stadt niederließe. In Sierra Leone existiert kein ordnungsgemäßes Zivilregister (AA, Auskunft an das Bundesamt vom 17.10.2017), so dass es selbst für staatliche Stellen schwierig sein dürfte, eine bestimmte Person in einer Großstadt ausfindig zu machen. So führt das Auswärtige Amt in einer Auskunft an das Verwaltungsgericht Regensburg vom 4.11.2019 (Gz.: 508-9-516.80/52992) aus, dass sich selbst Straftäter, die wegen eines Tötungsdelikts gesucht werden, durch einen Aufenthaltswechsel oder Fernhalten von der ermittelnden Polizeibehörde innerhalb Sierra Leones einer Strafverfolgung entziehen können. Sierra Leone verfüge nicht über ein funktionierendes zentrales Fahndungsbuch, weshalb nur die Polizeidienststelle, welche wegen des Delikts ermittele, Informationen über vermeintliche Straftäter habe. Wenn man sich aber staatlichen Ermittlungsbehörden und somit einem Strafverfahren durch einen Aufenthaltswechsel relativ einfach entziehen kann, so dürfte es für nichtstaatliche Akteure nahezu unmöglich sein, eine Person ausfindig zu machen, die sich bereits längere Zeit im Ausland aufgehalten hat und dann nach Sierra Leone zurückkehrt, wenn sie sich nicht erneut an ihrem Herkunftsort niederlässt. Eine konkrete Bedrohung des Klägers durch nichtstaatliche Akteure ist deshalb nicht beachtlich wahrscheinlich. Das Gericht ist vielmehr nach alledem davon überzeugt, dass die Tante des Klägers und weitere Mitglieder der Society eine Rückkehr des Klägers nach Sierra Leone nicht einmal bemerken würden, wenn er sich in einer größeren Stadt in gewisser Entfernung seines Heimatortes niederlassen würde. Dabei ist auch zu bedenken, dass der Kläger eigenen Angaben zufolge sein Heimatland bereits im Jahr 2014 – also vor 6 Jahren – verlassen hat. Nach alledem besteht nach dem eigenen Sachvortrag des Klägers eine inländische Fluchtalternative.
Ferner wäre es dem Kläger auch zuzumuten, in einen anderen Landesteil zu gehen. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage muss davon ausgegangen werden, dass es ihm möglich ist, sich in jedem Teil Sierra Leones seine Existenz durch Gelegenheitsarbeiten sicherzustellen (vgl. dazu unten 4a)).
c) Schließlich ist auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht gegeben. Der in Sierra Leone 11 Jahre andauernde Bürgerkrieg wurde im Jahr 2002 beendet. Die Sicherheitslage im ganzen Land ist stabil. Armee und Polizei sind landesweit stationiert und haben nach dem vollständigen Abzug der UN-Friedenstruppen im Jahr 2005 die Verantwortung für die innere und äußere Sicherheit übernommen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 4.7.2018; Informationszentrum Asyl und Migration des Bundesamts, Glossar Islamische Länder – Band 17: Sierra Leone, Mai 2010).
4. Zuletzt liegen auch Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vor.
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage (vgl. BayVGH, U. v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris), wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verweist, ist eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen möglich (BVerwG, U. v. 31.1.2013 – 10 C.15.12 – juris = BVerwGE 146, 12; U. v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris = BVerwGE 147, 8 = NVwZ 2013, 1489; EGMR, U. v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; U. v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U. v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U. v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681, Rn. 278, 282 f.) verletzen humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Rückführung in den Herkunftsstaat „zwingend“ seien. Solche humanitären Gründe können auch in einer völlig unzureichenden Versorgungslage begründet sein (so auch BayVGH, U. v. 19.7.2018 – 20 B 18.30800- juris, Rn. 54).
Trotz der schwierigen Lebensbedingungen in Sierra Leone kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Rückführung der Klagepartei in ihr Heimatland nicht angenommen werden. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,5 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 700 US-Dollar im Jahr 2015 eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2016 Rang 179 der 188 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Die Wirtschaft wird mit etwa 51,4% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert. Der Dienstleistungssektor trägt mit 26,6% und der Industriesektor mit 22,1% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, wobei bisher keine verlässlichen statistischen Daten erhoben wurden. Die Mehrheit versucht mit Gelegenheitsjobs oder als Händler/in ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 4.7.2018).
Die Lebensumstände in Sierra Leone sind damit zwar äußerst schwierig. Gleichwohl muss davon ausgegangen werden, dass es dem Kläger gelingen wird, seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Der Kläger ist jung, gesund und konnte seinen Lebensunterhalt bereits vor seiner Ausreise mithilfe der Unterstützung seiner Eltern erwirtschaften. Es ist zu erwarten, dass ihn seine Eltern auch im Falle seiner Rückkehr weiterhin finanziell unterstützen werden. Auch während seiner Reise nach Europa hat der Kläger Gelegenheitsjobs – unter anderem als Maurer – ausgeführt, sodass davon auszugehen ist, dass er sein Existenzminimum im Falle seiner Rückkehr, notfalls auch mit Gelegenheitsjobs, sichern kann.
b) Ferner besteht auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine derartige Gefahr besteht weder aufgrund des Gesundheitszustands der Kläger noch aufgrund der humanitären Verhältnisse, die sie im Falle ihrer Rückkehr vorfinden würden.
aa) Die Gewährung von Abschiebeschutz nach dieser Bestimmung setzt grundsätzlich das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 GG gebieten danach die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn einer extremen Lebensgefahr oder einer extremen Gefahr der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit entgegen gewirkt werden muss, was dann der Fall ist, wenn der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert oder erheblichen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt sein würde (BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9.95 – juris, Rn. 14 = BVerwGE 99, 324, U.v. 19.11.1996 – 1 C 6.95 – juris, Rn. 34 = BVerwGE 102, 249 sowie U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris, Rn. 16 = BVerwGE 115, 1). Eine derartige Gefahrensituation kann sich grundsätzlich auch aus den harten Existenzbedingungen und der Versorgungslage im Herkunftsstaat ergeben.
Eine derartige Gefahr besteht jedoch nicht, was bereits oben unter Ziffer 4 a) dargestellt wurde.
bb) Weiterhin ergibt sich eine derartige konkrete Gefahr auch nicht aufgrund der derzeit weltweit und somit auch im Sierra Leone herrschenden Corona-Pandemie; denn es ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass der Kläger, der unter keinen erheblichen Vorerkrankungen leidet, in Sierra Leone gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwerster Gesundheitsschäden ausgeliefert wäre. Die Regierung hat Regeln zur Pandemieprävention bei Ein- und Ausreise erlassen. Vor Antritt der Reise ist eine gebührenpflichtige Genehmigung der Regierung von Sierra Leone einzuholen. Dafür ist unter anderem der Nachweis eines negativen COVID-19-Tests einzureichen, der nicht älter als 72 Stunden sein darf. Die Bevölkerung in Sierra Leone bleibt aufgefordert, die grundlegenden Hygiene- und Abstandsregeln einzuhalten, größere Menschenansammlungen zu vermeiden und in der Öffentlichkeit Mund-Nasen-Schutz zu tragen (vgl. AA, Sierra Leone: Reise und Sicherheitshinweise, Stand: 15.10.2020, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/sierraleone-node/sierraleonesicherheit/203500#content_0). Die Zahl der Infizierten sowie der an COVID-19 Verstorbenen ist darüber hinaus vergleichsweise niedrig. Bei einer Einwohnerzahl von etwa 8 Millionen gab es nach den Auswertungen der WHO am 15.10.2020 2.335 mit SARS-CoV-2 Infizierte und 74 Tote im Zusammenhang mit dem Virus (https://covid19.who.int/region/afro/country/sl). Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass der Anteil der Infizierten in Sierra Leone wesentlich höher ist, als dies die Zahlen der WHO ausweisen, weil weniger getestet wird als in europäischen Ländern, dürfte sich aus den Zahlen ergeben, dass die Ansteckungsgefahr im Heimatland der Klagepartei kaum höher liegt als in Deutschland. Hinzu kommt, dass die Regierung Schutzmaßnahmen angeordnet hat, die sicherstellen sollen, dass eine ungebremste Ausbreitung des Virus unterbunden wird. Ferner hat es jeder Einzelne selbst in der Hand, sich und andere durch die Verwendung von Gesichtsmasken und vor allem durch die Einhaltung der Abstandsregelungen – insbesondere Meidung von Menschenmassen – zu schützen, sodass nicht zwangsläufig davon ausgegangen werden kann, dass sich der Kläger in seiner Heimat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit dem Virus infiziert.
Selbst bei unterstellter Infektion besteht jedenfalls keine hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Erkrankung. Nach den bisherigen Erkenntnissen zu COVID-19 kommt es beim ganz überwiegenden Teil der Erkrankten zu einem milden bis moderaten Verlauf und nur ein geringer Teil entwickelt eine schwere Erkrankung. Das größte Risiko für einen schweren Verlauf besteht bei älteren Personen ab etwa 50 bis 60 Jahren und bei Personen mit Vorerkrankungen. Bei Kindern sind Erkrankungen seltener und verlaufen in aller Regel mild (vgl. Robert Koch Institut [RKI], SARS-CoV-2 Steckbrief zur CoronavirusKrankheit-2019 (COVID-19), https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html). Zu einem besonders gefährdeten Personenkreis gehört der 28-jährige Kläger nicht.
cc) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung des Bestehens eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Nach den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätzen ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel nicht als allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG einzustufen, sondern als individuelle Gefahr, die am Maßstab des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfen ist (BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – juris = BVerwGE 127, 33 sowie U.v. 25.11.1997 – 9 C 58.96 – juris = BVerwGE 105, 383). Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, U.v. 17.10.2006, – 1 C 18.05 – juris = BVerwGE 127, 33). Im Einklang mit dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.3.2016 (BGBl I S. 390 ff. vom 11.3.2016) die Sätze 3 bis 5 des § 60 Abs. 7 AufenthG eingefügt. Danach liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (Satz 3). Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (Satz 4) und schließlich liegt eine ausreichende medizinische Versorgung in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (Satz 5).
Dabei erfasst diese Regelung nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solche ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können (st. Rspr. zu § 53 Absatz 6 Satz 1 AuslG; vgl. BVerwG‚ U.v. 29.10.2002 – 1 C 1.02 – DVBl 2003, 463; U.v. 25.11.1997 – 9 C 58.96 – BVerwGE 105‚ 383 m.w.N.). Eine „erhebliche konkrete Gefahr“ im Falle einer zielstaatsbezogenen Verschlimmerung einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung ist daher gegeben, wenn sich der Gesundheitszustand alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat wegen der dortigen Behandlungsmöglichkeiten wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 – 1 C 3.11 – BVerwGE 142, 179; B.v. 17.8.2011 – 10 B 13.11 – juris; BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris). Gründe hierfür können nicht nur fehlende Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat sein, sondern etwa auch die tatsächliche Nichterlangbarkeit einer an sich vorhandenen medizinischen Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – BVerwGE 127, 33).
Der sich auf eine seiner Abschiebung entgegenstehende Erkrankung berufende Ausländer muss diese durch eine qualifizierte, gewissen Mindestanforderungen genügende ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (BayVGH, B.v. 27.11.2017 – 9 ZB 17.31302 – juris, Rn. 4).
Besondere Anforderungen hierfür gelten nach der ständigen Rechtsprechung im Hinblick auf das Vorbringen einer behandlungsbedürftigen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Angesichts der Unschärfen des Krankheitsbilds und seiner vielfältigen Symptome bedarf es hierfür regelmäßig eines fachärztlichen Attests, das den Mindestanforderungen genügt. So muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 17.07 – juris, zu alledem auch VG Regensburg, B.v. 5.9.2018 – RO 7 K 16.32563 – BeckRS 2018, 21554).
Auch wenn die Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich des Vorliegens einer PTBS (vgl. Urteil vom 11.09.2017, BVerwGE 129, 251/255) auf sonstige psychische Erkrankungen nicht sämtlich anwendbar sind, so sind in jedem Fall auch bei sonstigen Erkrankungen die gesetzlich verankerten Mindestanforderungen des § 60 a Abs. 2 c Satz 3 AufenthG zu erfüllen. Die Vorgaben des § 60a Abs. 2c Sätze 2 und 3 AufenthG sind nicht nur bei der Beurteilung eines inländischen Abschiebungshindernisses, insbesondere einer Reiseunfähigkeit zu beachten, sondern auch im Rahmen der Prüfung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses und zwar für jegliche Form der Erkrankung. Dies regelt § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG mittlerweile ausdrücklich. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine „qualifizierte ärztliche Bescheinigung“ glaubhaft machen. Diese „ärztliche Bescheinigung“ soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die „fachlich-medizinische Beurteilung“ des Krankheitsbildes (Diagnose) sowie die Folgen, die sich nach „ärztlicher Beurteilung“ aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Die Überprüfung, ob die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen diesen Anforderungen entsprechen, ist Aufgabe des erkennenden Gerichts. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens ist insoweit nicht erforderlich (BayVGH, B. v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – beck-online).
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Feststellung eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbotes bei dem Kläger nicht vor. Die im Verlauf des Asylverfahrens vorgelegte ärztliche Stellungnahme des Facharztes für Nervenheilkunde Dr. med. A. aus S. weist nicht nach, dass der Kläger derzeit an einer so schwerwiegenden psychischen Erkrankung leidet, die geeignet wäre, ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 AufenthG zu begründen.
In dem ärztlichen Schreiben vom 29.9.2020 ist lediglich handschriftlich unter der Überschrift Diagnose der dringende Verdacht auf eine PTBS vermerkt. Weitere Angaben, insbesondere die konkrete Bezeichnung eines traumatisierendes Ereignis fehlen vollständig. Ohne das Vorliegen eines Traumas ist die Diagnose einer PTBS aber nicht schlüssig.
Gemäß der international classification of diseases (ICD-10: F43.1) entsteht die PTBS als „Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“. Ein traumatisches Ereignis/Erlebnis ist damit zwingende Voraussetzung für die Entwicklung einer PTBS. Ohne das Vorliegen eines Traumas kann die Diagnose einer PTBS folglich nicht gestellt werden. Dass das behauptete traumatisierende Ereignis tatsächlich stattgefunden hat, muss vom Ausländer gegenüber dem Tatrichter und nicht gegenüber einem ärztlichen oder psychologischen Gutachter nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht werden. Der objektive Ereignisaspekt ist nämlich nicht Gegenstand der gutachtlichen ärztlichen Untersuchung zu einer PTBS (BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris; BayVGH, ‚B.v. 4.11.2016 – 9 ZB 16.30468 – juris; BayVGH, B.v. 15.12.2010 – 9 9 ZB 10.30376 – juris unter Bezugnahme auf VGH BW, B.v. 20.10.2006 – A 9 S 1157/06 – juris).
Außerdem gibt das ärztliche Schreiben keinen Aufschluss über die Schwere der Krankheit, den zukünftig erforderlichen konkreten Behandlungsbedarf und die eintretenden Folgen bei Beendigung einer ggf. medizinisch erforderlichen Therapie.
Aus dem ärztlichen Schreiben geht daher nicht in nachvollziehbarer Weise hervor, dass bei dem Kläger eine psychische Erkrankung mit einem entsprechenden Schweregrad vorliegt, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG im beschriebenen Sinne darstellt.
5. Die in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung ist gleichfalls nicht zu beanstanden. Sie beruht auf den §§ 34 Abs. 1 AsylG, 59 AufenthG. Die dem Kläger gesetzte Ausreisefrist von 30 Tagen beruht auf § 38 Abs. 1 AsylG.
6. Die in Ziffer 6 des angegriffenen Bescheids ausgesprochene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 30 Monate ist ebenfalls rechtmäßig. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG – in der zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§§ 77 Abs. 1 Satz 1, 83c AsylG) geltenden Fassung – ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Ermessen entschieden. Nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG darf sie außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten. Die getroffene Ermessensentscheidung erweist sich als rechtmäßig. Hier wurde die maximale Frist zur Hälfte ausgeschöpft, was nicht zu beanstanden ist. Besondere Umstände, die eine kürzere Frist gebieten würden, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Dem steht auch nicht entgegen, dass das Bundesamt nach dem Wortlaut der Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids das Einreise- und Aufenthaltsverbot nur „befristet“ und nicht auch angeordnet hat. § 11 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 3 AufenthG in der seit 21.8.2019 geltenden Fassung regelt, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht mehr von Gesetzes wegen eintritt, sondern von der zuständige Behörde in Form eines Verwaltungsaktes zu erlassen ist. Bei dem Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots und dessen Befristung handelt es sich um einen einheitlichen Verwaltungsakt, der nicht zwischen der Anordnung des Verbots und dessen Befristung aufgespalten werden kann (BeckOK MigR/Katzer AufenthG § 11 Rn. 1-4). Folglich liegt in der in Ziffer 6 des Bescheids erlassenen Befristung zugleich auch die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots.
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.
Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.


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