Verwaltungsrecht

Inländische Fluchtalternative in Afghanistan

Aktenzeichen  AN 11 K 16.30149

Datum:
27.5.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, § 3b Abs. 1, § 4 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, § 60 Abs. 7 S. 2, § 60a Abs. 1
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Herat zählt zu den relativ sicheren und wirtschaftlich moderat prosperierenden Provinzen in Afghanistan. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden, ist im Vergleich zu Kabul-Stadt 1 zu 5842. Das BVerwG hat bereits eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 800 nicht mehr als beachtlich angesehen. (redaktioneller Leitsatz)
2 Größere Städte bieten aufgrund ihrer Anonymität mehr Schutz als kleine Städte und Dorfgemeinschaften vor Bedrohungen durch Private und sog. Dorfgerichte. In der Provinzhauptstadt Herat sind die Voraussetzungen gegeben, um wenigstens das wirtschaftliche Existenzminimum zu erreichen. (redaktioneller Leitsatz)
3 Viele Afghanen leiden unter psychischen Symptomen der Depression, der Angststörung oder der posttraumatischen Belastungsstörung; diese stellen ein Massenphänomen dar. Die mangelnden Behandlungsmöglichkeiten und die daraus folgende Gefahr für Leib und Leben sind eine allgemeine Gefahr iSv § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG. Nur wenn im Einzelfall eine Extremgefahr vorliegt, kann die Sperrwirkung durchbrochen werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die vorliegende Klage ist als Verpflichtungsklage zwar zulässig aber unbegründet, da ein Anspruch auf Erlass der geltend gemachten Feststellungen nicht besteht (§ 113 Abs. 5 VwGO). Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe nach § 77 Abs. 2 AsylG ab und bezieht sich im Wesentlichen auf die ausführliche und nach Gerichtsauffassung richtige Begründung des Bescheids vom 1. Februar 2016. Nur ergänzend sind daher die folgenden Ausführungen angezeigt.
1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG. Hierzu sei nur ausgeführt, dass dem Gericht kein Verfolgungsmerkmal oder Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 AsylG bzw. § 3b Abs. 1 AsylG aufgrund dessen den Klägern bei Rückkehr in die Heimat eine Verfolgung drohen würde.
2. Ebenso bleibt der hilfsweise geltend gemachte Antrag auf Feststellung des subsidiären Schutzes erfolglos. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist subsidiär schutzberechtigt, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht.
a) Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG unter anderem die ernsthafte und individuelle Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit im Rahmen eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts. Dabei muss hier nicht entschieden werden, ob in Teilen von Afghanistan ein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt vorliegt, denn die Kläger konnten schon keine ernsthafte und individuelle Bedrohung darlegen.
Hierbei muss der Zielstaat nicht als Ganzes in Betracht gezogen werden. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist im Rahmen dieser Prüfung der Landesteil zugrunde zu legen, in den der Ausländer typischerweise zurückkehren wird (BVerwG v. 31.01.2013 – 10 C 15/12 – Rn 13 = BVerwGE 146, 12; BVerwG v. 14.11.2012 – 10 B 22/12 – Rn 7 = NVwZ 2013, 282). Die Prüfung ist danach vorzunehmen, ob die durch den Konflikt gegebene allgemeine Gefahr sich derart verdichtet, dass von einer ernsthaften individuellen Bedrohung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auszugehen ist (BVerwG v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – Rn 17 ff. = NVwZ 2012, 454). Dafür ist ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches durch gefahrerhöhende Umstände in der Person des Ausländers – sei es durch seine berufliche Nähe zu Gefahrenquellen oder durch höchstpersönliche Merkmale, soweit diese nicht schon eine Anerkennung als Flüchtling rechtfertigen – individualisiert wird (BVerwG a.a.O.). Liegen keine gefahrerhöhenden Umstände vor, so ist die Annahme einer individuellen Gefahr nur noch möglich, wenn der Grad der Gefahr für alle Zivilpersonen eine so außergewöhnliche Höhe erreicht, dass praktisch jeder Zivilist einer individuellen Gefahr ausgesetzt ist. Dabei ist neben der statistischen Auswertung des Gefährdungsrisikos grundsätzlich auch noch eine wertende Betrachtung des ermittelten Risikos vorzunehmen (BVerwG a.a.O.).
Davon kann hinsichtlich der Provinz Herat nicht ausgegangen werden. Insofern ist allerdings zu berücksichtigen, dass in Afghanistan im Jahr 2014 eine Verdoppelung der Zahl ziviler Opfer von sicherheitsrelevanten Vorfällen im Vergleich zum Jahr 2009 festzustellen war (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in Afghanistan vom 2. März 2015 [im weiteren AAB] Ziffer II.2). Allerdings bietet dabei die Bewertung unterschiedlicher Provinzen trotz der allgemeinen Zunahme der Opferzahlen ein sehr inhomogenes Bild. So entfielen zwei Drittel aller sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2014 auf die Provinzen im Süden, Südosten und Osten von Afghanistan (EASO COI Afghanistan Ziffer 1.6 S. 30). Herat zählt hierbei zu den Westprovinzen. Herat gehört zu den relativ sichereren und wirtschaftlich moderat prosperierenden Provinzen (AAB v. 6. November 2015 S. 4). Herat hat dabei eine unterdurchschnittliche Gefährdungsquote mit weniger als 0,6 sicherheitsrelevanten Vorfällen auf 1000 Einwohner (EASO COI Ziffer 1.6.1 S. 33). Im Zeitraum zwischen Januar 2014 und September 2014 gab es in Herat insgesamt 756 sicherheitsrelevante Vorfälle. Zum Vergleich gab es in einer der am wenigsten gefährdeten Provinzen (Kabul Stadt) im gleichen Zeitraum 246 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Zeitraum von September 2013 bis August 2014 kamen aufgrund solcher Vorfälle in Kabul Stadt 108 Menschen ums Leben und weitere 275 Menschen wurden verletzt (EASO COI Ziffer 2.1.1 S. 37). Für die Provinz Herat ist keine konkrete Gesamtopferzahl bekannt, jedoch sind die nach der Auskunftslage zuordnungsbaren Opfer solcher Vorfälle zumeist Armeeangehörige oder Aufständische. Dabei hat die Provinz Herat ca. 1.890.000 und die Stadt Kabul ca. 4.475.000 Einwohner (vgl. Einträge der englischsprachigen Wikipedia Seite zu beiden Provinzen m.w.N.). Die Wahrscheinlichkeit Opfer eines Anschlags zu werden – also das Verhältnis getöteter und verletzter Personen zur Gesamtbevölkerung der Provinz – liegt somit in Kabul Stadt bei 1 zu 11.684. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlages zu werden, lässt sich für Herat nur im Verhältnis der Anschläge zur Gesamtbevölkerung ausdrücken und läge bei 0,4 Vorfällen pro tausend Einwohner (756 : 1.890). Überträgt man das Verhältnis der sicherheitsrelevanten Vorfälle pro tausend Einwohner im Vergleich der beiden Provinzen (0,2 zu 0,4 = Faktor 2) auf das Verhältnis des Opferrisikos, so würde sich das Risiko, Opfer eines Anschlags zu werden, in Herat im Vergleich zu Kabul-Stadt in etwa mit 1 zu 5842 (11.684 : Faktor 2) darstellen. Dabei hat das BVerwG bereits eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 800 nicht mehr als „beachtliche Wahrscheinlichkeit“ im Sinne des obigen Maßstabs angesehen (BVerwG v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – Rn 22 f. = NVwZ 2012, 454).
Im Rahmen einer weiter wertenden Betrachtung dieser statistischen Zahlen ist zu beachten, dass sich die Gewalt in erster Linie gegen Vertreter von staatlichen Behörden richtet und zivile Opfer häufig als „Kollateralschäden“ eingestuft werden müssen (EASO COI S. 37 und S. 85).
Von einer individuellen Bedrohung kann daher nach bisheriger Lage nicht ausgegangen werden. Die Kläger konnten auch keine sonstigen individuell gefahrerhöhenden Umstände anführen. Im Hinblick auf den mittlerweile beendeten ISAF-Einsatz bleibt anzumerken, dass die afghanischen Sicherheitskräfte im Allgemeinen zumindest ein Patt mit den Aufständischen aufrechterhalten konnten (AAB vom 3. März 2015 S. 4) und insofern keine wesentliche Verschlimmerung zu der oben geschilderten Lage wahrscheinlich erscheint.
b) Als ernsthafter Schaden gilt daneben nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Diese unionsrechtlich geprägte Vorschrift orientiert sich am Wortlaut des Art. 3 EMRK und auf die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR wurde bei der Formulierung der zugrundeliegenden EU-Richtlinie (Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU – Qualifikationsrichtlinie) explizit Bezug genommen (BVerwG v. 31.01.2013 – 10 C 15/12 – Rn 22 = BVerwGE 146, 12). Die entsprechende Rechtsprechung des EGMR ist damit zur Auslegung der Vorschrift heranzuziehen.
Das BVerwG geht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR davon aus, dass nur in sehr ungewöhnlichen Fällen die allgemeine humanitäre Situation im Zielland derart gravierend ist, dass mit einer Abschiebung zugleich eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ im Sinne von Art. 3 EMRK einhergeht, denn die EMRK zielt primär auf den Schutz der bürgerlichen und politischen Rechte ab (BVerwG v. 31.01.2013 – 10 C 15/12 – Rn 25 = BVerwGE 146, 12). Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht hiernach nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen (BVerwG v. 31.01.2013 – 10 C 15/12 – Rn 23 = BVerwGE 146, 12).
Humanitäre Gründe, die ausnahmsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus rechtfertigen sind nicht ersichtlich (siehe dazu unten).
Im Hinblick auf die erstmals in der mündlichen Verhandlung angeführte Bedrohung der Klägerin zu 2 durch ein eventuelles Dorfgericht ist anzuführen, dass dieses Vorbringen zum einen rein spekulativer Art ist, da der Kläger zu 1 zwar befürchtet haben will, dass seine Frau hierdurch wegen unterstellter Vergewaltigung zum Tode hätte verurteilt werden können. Es wurden jedoch keinerlei Anhaltspunkte für die Einleitung oder auch nur Androhung eines solchen Verfahrens vorgebracht. Vor dem Bundesamt im Rahmen der Anhörung hat der Kläger zu 1 vielmehr angegeben, dass er bei einer Rückkehr befürchte, dass „…“ die Familie umbringen würde (Bl. 70 d.A.). Dies führte der Kläger zu 1 auch ein 2. Mal so aus, weshalb nicht von einem Übersetzungsfehler ausgegangen werden kann (Bl. 69 d.A.). Ein entsprechender „Prozess“ vor einem Dorfgericht wurde nicht erwähnt. Auch auf Vorhalt in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zu 1 diesen Widerspruch nicht auflösen können, sondern sich lediglich darauf versteift, dass ein solcher Prozess hätte drohen können. Gleichzeitig ist zu betonen, dass der Kläger zu 1 im Rahmen eines solchen Prozesses jedenfalls anscheinend auf einen unvoreingenommenen Dorfvorstand und einen unvoreingenommenen örtlichen Mullah hätte zurückgreifen können. Der Kläger hat vor dem Bundesamt angegeben, dass sich sein Schwiegervater, der örtliche Mullah und der Dorfvorstand seinem Anliegen angenommen hätten und den „…“ zur Rede gestellt hätten. Wäre dieser „…“ tatsächlich ein so bedeutsamer Mafiaboss, dass er das örtliche Dorfgericht vollständig unter Kontrolle hätte, so wäre davon auszugehen, dass sowohl der örtliche Mullah als auch der Dorfvorstand „…“ nicht mit einem solchen Vorwurf konfrontiert hätten. Weiterhin ist auszuführen, dass zwar die Vergewaltigung nicht objektiv wird bewiesen werden können, jedoch nach dem Vorbringen des Klägers zu 1 vor dem Bundesamt zumindest ein Zeuge (Nachbar) auffindbar wäre, der bezeugen könnte, dass er die Klägerin zu 2 zur fraglichen Zeit bewusstlos auf der Straße im Heimatdorf gefunden hat und sie nach Hause gefahren hat. Insofern müsste zumindest klar sein, dass der Klägerin zu 2 zur fraglichen Zeit etwas zugestoßen sein muss, wenn auch deswegen keine Vergewaltigung bewiesen werden kann.
Zusätzlich wird die Bedrohungslage der Kläger auch deswegen vom Gericht angezweifelt, weil der Kläger zu 1 vor dem Bundesamt angegeben hatte, dass eine Art „Sprengstoffanschlag“ auf das Haus seiner Schwiegereltern ausgeübt worden sei. Zwar hat der Kläger zu 1 diesbezüglich stets nur die Vermutung geäußert, dass hinter diesem Anschlag „…“ habe stecken können, jedoch hat der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung trotz Nachfrage (im Hinblick auf Vorkommnisse vor seiner Flucht) seitens des Gerichts und nochmaliger Nachfrage seines Klägerbevollmächtigten keinerlei Angaben mehr dazu gemacht, dass ein solcher Anschlag stattgefunden hat.
Schließlich wären auch inländische Fluchtalternativen nach § 4 Abs. 3 AsylG gegeben. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Dies gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 3 AsylG entsprechend.
Für die Kläger bestünde jedenfalls die Möglichkeit, sich in der Provinzhauptstadt von Herat niederzulassen. Das Gericht sieht es aufgrund der Größe der Stadt als drittgrößter Stadt Afghanistans mit fast 500.000 Einwohnern als zumutbar an, dessen Anonymität zum Schutz der Familie des Klägers zu nutzen. Die Auskunftslage bestätigt jedenfalls, dass die größeren Städte aufgrund ihrer Anonymität mehr Schutz bieten als kleine Städte und Dorfgemeinschaften (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in Afghanistan vom 6. November 2015 Ziffer II.3; im weiteren AAB). Auch sind dort im Gegensatz zur Meinung der Klägerseite die Voraussetzungen gegeben, um wenigstens das wirtschaftliche Existenzminimum zu erreichen. Hinsichtlich dieser Aspekte wird auf die Ausführungen zu den Abschiebeverboten verwiesen.
4. Anhaltspunkte für das Vorliegen von Gründen, die ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. EMRK rechtfertigen, sind nicht einschlägig.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dabei ist zu beachten, dass sich der hier wohl allein denkbare Verstoß gegen Art. 3 EMRK letztlich inhaltlich mit dem subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG deckt und insoweit kaum Fälle denkbar seien dürften, in denen bei gleicher tatsächlicher wie rechtlicher Basis unionsrechtlicher Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und nationales Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auseinanderfallen (BVerwG v. 31.01.2013 – 10 C 15/12 – Rn 36 = BVerwGE 146, 12).
Das Gericht geht vorliegend und in Kenntnis der Rechtsprechung des BayVGH (BayVGH v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 = InfAuslR 2015, 212) davon aus, dass eine Abschiebung nicht aufgrund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan gegen Art. 3 EMRK verstößt. Dies gilt im hiesigen Fall auch, obwohl die Klägerin zu 3 im jetzigen Zeitpunkt minderjährig und nur 8 Jahre alt ist. Der BayVGH geht in der soeben zitierten Rechtsprechung davon aus, dass eine Abschiebung im Regelfall gegen Art. 3 EMRK verstößt, wenn die Familie minderjährige Kinder hat. Zum einen unterscheidet sich der vorliegende Fall vom Fall des VGH dadurch, dass die Kläger schon nur ein Kind zu versorgen haben. Zusätzlich war der Kläger im zugrunde liegenden Fall des VGH zumindest in tatsächlicher Hinsicht alleinstehend und konnte somit nicht auf die Unterstützung seiner Ehefrau zurückgreifen. Dennoch ist sich das Gericht bewusst, dass auch die Versorgung schon nur eines minderjährigen Kindes eine erhebliche Herausforderung in Afghanistan sein kann. Das Gericht weist allerdings zum einen darauf hin, dass in Afghanistan sowohl der Kläger zu 1 als auch die Klägerin zu 2 einer geregelten Arbeit – nämlich als Metzger (sogar mit eigenem Geschäft) und als Friseurin – nachgegangen sind. Der Kläger zu 1 hat ausgeführt, dass er in Afghanistan „gut verdient habe“, was er auch noch mal in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat. Dies zeigt, dass der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 in Afghanistan bis zu ihrer Ausreise keine echten wirtschaftlichen Probleme hatten. Zum anderen ist auch zu berücksichtigen, dass die Kläger bei einer Rückkehr in ihr Heimatdorf mit der Unterstützung der Familie der Klägerin zu 2 rechnen können, denn insofern hatten die Kläger sowieso bei der Familie der Klägerin zu 2 gewohnt und auch – wie in der mündlichen Verhandlung angegeben – die Klägerin zu 3 während ihrer Arbeit dort in Obhut gegeben. Es ist nicht ersichtlich, wieso aufgrund dieser Ausgangslage – selbst wenn man unterstellen will, dass die Kläger ihre gesamten Ersparnisse für die Flucht aufgewendet haben – das Erreichen des wirtschaftlichen Existenzminimums im Heimatdorf nicht gelingen sollte.
Hilfsweise für den Fall, dass aufgrund der – vom Gericht nicht angenommenen – Bedrohungslage eine Rückkehr in das Heimatdorf nicht möglich wäre, könnten die Kläger problemlos auch in der Provinzhauptstadt Herat wirtschaftlich Fuß fassen. Dies ist aufgrund des vom Kläger zu 1 selbst geschilderten Verhaltens im Rahmen der Anhörung jedenfalls anzunehmen. Der Kläger hat angegeben, unmittelbar vor seiner Ausreise in der dem Gericht nicht bekannten, in der Nähe des Heimatdorfes liegenden Nachbarstadt … eine Wohnung für sich und seine Familie gesucht und gefunden zu haben. Das bedeutet, dass der Kläger jedenfalls selbst nicht davon ausgegangen ist, dass er dort nicht wirtschaftlich hätte Fuß fassen können, denn andernfalls würde man sich dort auch keine Wohnung suchen. Anlass für seine Ausreise scheint vielmehr seine Furcht vor Verfolgung durch „…“ gewesen zu sein, denn der Kläger gab selbst an, mehrmals (4-5 mal) eine Anzeige beim Polizeikommandanten von Herat gemacht zu haben. Erst als er die „Sinnlosigkeit“ hierin erkannt hatte, will er ausgereist sein.
In Herat hält sich zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch noch die Schwester der Klägerin zu 2 auf, weshalb davon auszugehen ist, dass die Kläger auch mit Rückhalt von ihr rechnen können. Insofern kommt es auf die von der Klägerin zu 2 in der mündlichen Verhandlung genannte Absicht der Schwester, sich scheiden zu lassen und zur Familie in das Heimatdorf zurückzukehren, aus Rechtsgründen nicht an. Selbst wenn dies allerdings als Fakt feststehen sollte, käme das Gericht zu keiner anderen Überzeugung. Die Stadt Herat muss sich in nicht allzu weiter Entfernung vom Heimatdorf der Kläger befinden. Dies deckt sich jedenfalls mit den Angaben der Kläger vor dem Bundesamt, da ihr Dorf im Landkreis … liegen soll, welcher die Provinzhauptstadt umschließt. Dieses Ergebnis deckt sich auch mit dem Vorgehen des Klägers, da er seine Anzeige beim Polizeikommandanten von Herat gemacht haben will. Insofern geht das Gericht davon aus, dass die Kläger, selbst wenn sie nicht in die Dorfgemeinschaft zurückkehren könnten, Hilfe und Unterstützung beim Aufbau einer neuen wirtschaftlichen Existenz in Herat durch die Familie der Klägerin zu 2 erhalten werden. Dies erscheint auch faktisch möglich aufgrund der geringen räumlichen Distanz zwischen der Provinzhauptstadt Herat und dem Heimatdorf der Kläger.
5. Anhaltspunkte für das Vorliegen von Gründen, die die Feststellung eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigen, sind nicht ersichtlich.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung abgesehen werden, wenn dem Ausländer im Zielstaat eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dabei ist das Bundesamt – und damit auch das erkennende Gericht – auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse, also solcher Umstände, die dem betroffenen Ausländer bei einer Abschiebung in das Zielland drohen, beschränkt (BVerwG v. 10.10.2012 – 10 B 39/12 – Rn 4 m.w.N. = InfAuslR 2013, 42). Nicht feststellbar sind im hiesigen Verfahren somit Abschiebungshindernisse, die unabhängig vom Zielort der Abschiebung bestehen (sog. inlandsbezogene Abschiebungshindernisse). Dabei ist nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch zu berücksichtigen, dass Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt sind, grundsätzlich nur im Rahmen von Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Berücksichtigung finden können und insoweit einer Sperrwirkung unterliegen (BVerwG v. 08.09.2011 – 10 C 14/10 – Rn 20 = BVerwGE 140, 319).
a) Soweit in diesem Verfahren – in dem außer der Vorlage des Attestes von der Klägerseite keinerlei Ausführungen dazu gemacht wurden, auf welchen Umstand genau sich ein Abschiebungsverbot stützen soll – zu unterstellen ist, dass die Klägerin zu 2 in Afghanistan keine adäquate medizinische Behandlung einer schweren Depression oder eventuellen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu erwarten hätte, rechtfertigt dies nicht die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses. Dabei kann an dieser Stelle auch ausdrücklich offen bleiben, ob die Klägerin zu 2 wirklich an einer dieser Krankheiten leidet.
aa) Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – findet in Afghanistan, abgesehen von einzelnen Pilotprojekten, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt (AAB Ziffer IV.1.2). Es existieren lediglich vereinzelte Einrichtungen, die psychische Erkrankungen behandeln können (so etwa in Kabul, Jalalabad, Herat und Mazar-E Sharif). Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen „behandelt“, oder es wird Ihnen in einer „Therapie“ mit Brot, Wasser und Pfeffer der „böse Geist ausgetrieben“. Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken (AAB a.a.O.).
bb) Die mangelnden Behandlungsmöglichkeiten und die daraus etwaig zu folgernde Gefahr für Leib oder Leben des abzuschiebenden Ausländers stellen jedoch eine allgemeine Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dar, der eine ganze Bevölkerungsgruppe in Afghanistan ausgesetzt ist und die nur im Rahmen von Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen ist. Dabei ist die prinzipielle Möglichkeit der Anerkennung eines Personenkreises, welcher nur die gleiche Art der Erkrankung als gemeinsames Merkmal teilt, als eine „Bevölkerungsgruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG höchstrichterlich anerkannt (BVerwG v. 27.04.1998 – 9 C 13/97 – Rn 8 = NVwZ 1998, 973 – hinsichtlich AIDS-Kranker in Ostafrika).
cc) Viele Afghanen leiden unter psychischen Symptomen der Depression, der Angststörung oder der posttraumatischen Belastungsstörung (AAB Ziffer IV.1.2.). Afghanistan wurde in den Medien als traumatisierte Nation bezeichnet (Ziff. 1 der Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 11. März 2009 [im Weiteren: SFH]). In den letzten 30 Jahren kamen Tausende Afghanen ums Leben, die meisten Menschen haben im Laufe ihres Lebens Gewalt erlebt. Die meisten psychischen Erkrankungen sind auf diese Erlebnisse zurückzuführen (SFH a.a.O.). Das afghanische Gesundheitsministerium schätzte im Januar 2009, dass 2/3 der Afghanen psychische Probleme hätte (SFH a.a.O.). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass über 2 Millionen Afghanen an psychischen Problemen wie Depressionen, Schizophrenien oder manisch-depressiven Erkrankungen leiden (Ziff. 2.6.1.4 Country Cooperation Strategy for WHO and Afghanistan, 2010 [im Weiteren: WHO]). Eine landesweite, von amerikanischen Wissenschaftlern im Jahr 2004 durchgeführte Studie stellte einen hohen Verbreitungsgrad von Symptomen verschiedener psychischer Erkrankungen wie Depressionen (Verbreitungsgrad zwischen 59 und 74%), Angststörungen (Verbreitungsgrad zwischen 59 und 84%) und posttraumatischen Belastungsstörungen (Verbreitungsgrad zwischen 32 und 48%) fest (WHO a.a.O.). Die WHO konnte auch keine nachprüfbare Verbesserung der psychischen Gesundheitslage der afghanischen Bevölkerung in den Jahren nach dem Sturz der Taliban feststellen (WHO a.a.O.). Damit ist zur Überzeugung des Gerichts klargestellt, dass die meisten psychischen Erkrankungen in Afghanistan ein Massenphänomen darstellen.
b) Eine von der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG v. 29.09.2011 – 10 C 23/10 – Rn 21 f. = NVwZ 2012, 244) anerkannte Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG wegen einer Extremgefahr, der der Betroffene quasi „sehenden Auges“ – und in Abweichung vom sonst geltenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit – ausgesetzt wird, ist vorliegend nicht geboten.
aa) Angewendet auf die hier in Frage stehende schwere Depression/PTBS ist für das Gericht nicht entscheidend, dass eine solche Krankheit bei der Klägerin zu 2 vorliegt, denn insofern würde sich bei einer Abschiebung nach Afghanistan lediglich die bereits angesprochene (allgemeine) Gefahr der mangelnden psychischen Behandlung realisieren können. Eine Extremgefahr, die einem Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr hinsichtlich seines Lebens oder seiner Gesundheit droht, kann nach Meinung des Gerichts vielmehr nur dann angenommen werden, wenn die Klägerin zu 2 Gefahr läuft, bei Rückkehr in den Zielstaat retraumatisiert zu werden. Bei einer Retraumatisierung könnte die Klägerin tatsächlich Gefahr laufen, alsbald nach Rückkehr eine schwere gesundheitliche Schädigung oder den Tod zu erleiden. Damit kommt der Frage, nach dem der Krankheit zugrunde liegenden traumatischen Ereignis die entscheidende Bedeutung zu. Beruht die Krankheit nicht auf einem im Zielstaat durchlebten Trauma oder droht keine Verschlimmerung der Krankheit wegen eines dort unmittelbar zu erwartenden (neuerlichen) Traumas, dann liegt nach Meinung des Gerichts jedenfalls kein zielstaatsbezogenes, sondern allenfalls ein hier nicht relevantes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis vor.
bb) Dem vorgelegten ärztlichen Attest des Dr. med. … vom 13. Mai 2016 lässt sich jedenfalls nicht mehr als eine Behandlungsbedürftigkeit entnehmen, wie auch die Klägerseite im Schriftsatz vom 23. Mai 2016 darlegt. Die Gefahr einer Retraumatisierung wird in dem Attest nicht behandelt. Darin ist vielmehr aufgeführt, dass die Klägerin zu 2 keine Suizidgedanken habe. Insofern ist eine unmittelbare Lebensgefahr oder Gefahr einer schwerwiegenden Gesundheitsschädigung durch die Abschiebung nach Afghanistan nicht anzunehmen. Das einzig traumatisierende Erlebnis der Klägerin zu 2 ist ihre durchlebte Vergewaltigung in Afghanistan. Eine Retraumatisierung erscheint für das Gericht hier jedoch, mit Ausnahme eventuell der direkten Konfrontation mit ihrem Peiniger „…“, ausgeschlossen. Wie bereits angeführt, ist es den Klägern jedoch zuzumuten in der Anonymität der Provinzhauptstadt Herat neu Fuß zu fassen. Insofern erscheint dem Gericht jedoch die Annahme einer so schwerwiegenden Retraumatisierung, die die Schwelle eines nahezu sicheren Todes oder einer schwerwiegenden Gesundheitsverletzung überschreiten könnte, nicht möglich. Deswegen ist hier auch nicht von einer „Extremgefahr“ auszugehen, welche die oben angeführte Sperrwirkung durchbrechen könnte.
Nach alledem ist die Klage abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Auf den Gegenstandswert nach § 30 RVG wird hingewiesen.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben