Verwaltungsrecht

Irak, geschlechtsspezifische Verfolgung, Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche, Familienangehörige, Umstände des Einzelfalls

Aktenzeichen  5 ZB 21.30929

Datum:
18.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 33615
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1
AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

Verfahrensgang

B 3 K 20.30075 2021-05-18 Urt VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Der Antrag der Klägerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Bevollmächtigten im Antragsverfahren wird abgelehnt.
II. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1. Dem Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Bevollmächtigten für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof war abzulehnen, weil die Klägerin keine Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse mit entsprechenden Belegen vorgelegt hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 S. 1 ZPO).
2. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ist nicht ausreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
a) Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt. Hierfür ist eine Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts erforderlich (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72). Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (BayVGH, B.v. 21.9.2017 – 4 ZB 17.31091 – juris Rn. 8 f. m.w.N.).
b) Die Beklagte macht im Wesentlichen geltend, das Verwaltungsgericht habe im angefochtenen Urteil die Frage aufgeworfen, ob die Gruppe der Frauen im Irak, welche alleinstehend und ohne männlichen Schutz seien, von der sie umgebenden Gesellschaft als „andersartig“ betrachtet werde. Die Lage unverheirateter bzw. alleinstehender Frauen im Irak sei unabhängig von ihrem Alter, ihren Vermögensverhältnissen oder ihrer sozialen Stellung als prekär einzustufen. Daraus könne jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vorliege, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werde. Alleinstehende Frauen im Irak unterlägen den gleichen Diskriminierungen wie alle Frauen. Wenn dort bei alleinstehenden Frauen die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen höher sei als bei anderen Frauen, liege das nicht daran, dass sie als „andersartig“ wahrgenommen würden, sondern daran, dass ihnen männlicher Schutz fehle.
Das Verwaltungsgericht (UA S. 7) hat aufgrund der von ihm herangezogenen Erkenntnismittel angenommen, dass die irakische Gesellschaft von einer Diskriminierung der Frauen geprägt sei. Es hat in diesem Zusammenhang u.a. darauf hingewiesen, dass es Frauen sehr erschwert werde, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten. Ihnen würden Ehrenmorde, Zwangsverheiratung und Misshandlung drohen, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit unterordnen würden. Das Verwaltungsgericht nimmt hierzu auch auf den EASO-Informationsbericht über das Herkunftsland Irak zum Thema „gezielte Gewalt gegen Individuen“ vom März 2019 Bezug, wo es u.a. heißt (S. 185 unter 3.5.5): „Die auf Gemeinschaften basierende Kultur im Irak hat einen großen Einfluss auf die Situation der Frauen. Da die Männer die Hauptverantwortung für ihre Familien und die Ehre der Familie tragen, sind die meisten Frauen aus kulturellen Gründen von den Männern abhängig. Trotz eines gewissen Mentalitätswandels wird das Leben der Frauen von diesen kulturellen Normen eingeschränkt. Frauen, die sich diesen Normen widersetzen, können Opfer von Gewalt im Namen der Ehre werden. Als Frau alleinstehend zu leben, wird im Irak in der Regel nicht akzeptiert, weil es als unangemessenes Verhalten betrachtet wird.“
Mit den Ausführungen in der Antragsbegründung vom 25. Juni 2021 wird eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht im Sinne von § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG dargelegt. Der Beklagte behauptet lediglich, alleinstehende Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige würden – entgegen der Bewertung des Verwaltungsgerichts – von der sie umgebenden Gesellschaft nicht im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG als „andersartig“ betrachtet (Antragsbegründung vom 25.6.2021, S. 5 oben); Erkenntnisquellen, aus denen sich konkrete Anhaltspunkte für diese These ergeben würden, werden entgegen den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht benannt. Nur zum Beleg dafür, dass die Lage unverheirateter und alleinstehender Frauen im Irak als prekär einzustufen sei, werden Erkenntnismittel angeführt (Antragsbegründung vom 25.6.2021, S. 3 bis S. 4 oben). Gerade im Hinblick darauf, dass die Beklagte selbst für alleinstehende Frauen im Irak eine besondere Gefährdungslage annimmt, ist nicht ohne weiteres – insbesondere nicht ohne Begründung anhand einschlägiger Erkenntnismittel – plausibel, dass diese gegenüber im Familienverband lebenden Frauen keinen besonderen Diskriminierungen ausgesetzt sein und in diesem Zusammenhang auch nicht als „andersartig“ wahrgenommen werden könnten. Auch das von der Beklagten in diesem Zusammenhang allein genannte Urteil des Verwaltungsgerichts Weimar vom 17. April 2019 (6 K 20181/17 We – juris) enthält im Übrigen die Bewertung, dass es sich bei alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak um eine soziale Gruppe im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG handelt.
Inwieweit im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu einer – etwaigen – sozialen Gruppe alleinstehender Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bestehen würde, wie es im vorliegenden Fall das Verwaltungsgericht angenommen hat, wird in der Antragsbegründung vom 25. Juni 2021 nicht erörtert. Im Übrigen könnte auch fraglich sein, inwieweit diese von der Gruppenzugehörigkeit zu trennende Bewertung (vgl. dazu Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.5.2021, § 3b AsylG Rn. 21) einer grundsätzlichen Klärung zugänglich wäre. Das Verwaltungsgericht hat die angefochtene Entscheidung u.a. auf einzelfallbezogene Erwägungen zu den familiären Verhältnissen der Klägerin und die Annahme einer drohenden, vom Onkel der Klägerin veranlasste Verheiratung gegen deren Willen gestützt. Möglicherweise könnte eine Gefährdungsprognose auch von weiteren Umständen des Einzelfalls abhängen (z.B. Familienstand, wirtschaftliche Stellung und Volks- bzw. Stammeszugehörigkeit der betreffenden Asylantragstellerin, Vorhandensein sonstiger schutzbereiter Personen).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
4. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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