Verwaltungsrecht

Kein Abschiebungsverbot für jungen, männlichen Afghanen, der seit seinem 11. Lebensjahr im Iran gelebt hat

Aktenzeichen  13a ZB 17.30625

Datum:
3.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 133242
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1 Die Lage in Afghanistan stellt sich weiterhin so dar, dass eine Abschiebung nicht ohne Weiteres zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (wie BayVGH BeckRS 2017, 121557). (Rn. 5) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Im Hinblick auf § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen weiterhin nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die die Annahme eines Abschiebungsverbots rechtfertigt (wie BayVGH BeckRS 2017, 114817). (Rn. 5) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Für Afghanen, die sich vor ihrer Ausreise nicht in Afghanistan aufgehalten haben, besteht jedenfalls dann, wenn sie eine der Landessprachen – zB Dari – beherrschen, die Chance, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen (wie BayVGH BeckRS 2017, 100326). Eine Rückkehr nach Afghanistan scheitert grundsätzlich nicht am fehlenden vorherigen Aufenthalt im Heimatland. (Rn. 5) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

B 1 K 16.31827 2017-03-15 Urt VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 15. März 2017 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.
Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).
Der Kläger hält für klärungsbedürftig, „ob ein alleinstehender junger gesunder afghanischer Mann aus der Herkunftsregion Parwan, der sich ab dem 11. Lebensjahr im Iran, zusammen mit seiner älteren Schwester und Blick auf die aktuelle Lage und vor dem Hintergrund, dass seine Schwester und einzige Bezugsperson, die im bisherigen Leben … die Elternrolle übernahm, in Deutschland als Flüchtling anerkannt wurde und andere familiäre Beziehungen in Afghanistan nicht bestehen, ein Existenzminimum sichern kann.“ Aufgrund der in Afghanistan herrschenden prekären Verhältnisse und seinem persönlichen Hintergrund könne er seine Existenz nicht sichern. Das Gericht übertrage die Verhältnisse der Lebensunterhaltssicherung im Iran auf Afghanistan, ohne seine besondere Vulnerabilität aufgrund seines Aufenthalts im Iran seit seinem 11. Lebensjahr zu berücksichtigen. Im Vergleich zu Antragstellern, die ihr gesamtes Leben in Afghanistan verbracht hätten, sei er besonders schutzwürdig, weil er in einem fremden Land besonderen Orientierungsproblemen aufgrund seiner geringen Erfahrung mit den Lebensweisen vor Ort ausgesetzt sein werde und weder auf ein familiäres Netzwerk noch andere soziale Bindungen zurückgreifen könne. Da er mit der dortigen Kultur und den Lebensumständen in keiner Weise vertraut sei und ihm die Sitten, Regeln und Gepflogenheiten unbekannt seien, sei ihm die Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar und werde für ihn ein Überleben unter den schwierigen Bedingungen nicht möglich sein. Die Beklagte gehe in ihrer Entscheidungspraxis ebenfalls davon aus, dass es sich in Afghanistan um eine Kollektiv-Gesellschaft handle, in der das Individuum von einem funktionierenden Familiensystem abhängig sei, ohne das der Einzelne kaum überleben könne. Eine Existenz als Single sei in der afghanischen Gesellschaft absolut untypisch. Er habe keine Schulbildung und im Iran seinen Lebensunterhalt dadurch bestritten, dass er durch seine Arbeit zum Lebensunterhalt der gesamten Familie beigetragen habe. Dabei habe seine ältere Schwester eine Ersatzrolle für die verstorbene Mutter und den drogenabhängigen Vater übernommen. Schließlich dürfe das Verwaltungsgericht bei der Prüfung der Lebensunterhaltssicherung nicht Geldtransfers von in Europa lebenden Verwandten sowie Geldmittel von Unterstützungsprogrammen, die nicht der Lebenssicherung dienten, berücksichtigen. Die Annahme von Geldzahlungen durch die Schwester sei eine bloße Mutmaßung und führe zu einer Abhängigkeit der betroffenen nationalen Ökonomie. Die Beantwortung der Frage dahingehend, dass vorliegend eine Verletzung von Art. 3 EMRK drohe und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen seien, sei entscheidungserheblich und habe über den Einzelfall hinaus Bedeutung.
Das Verwaltungsgericht hat die Voraussetzungen für das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG verneint (UA S. 9). Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 6.3.2017 – 13a ZB 17.30081 – juris) hat es angenommen, dass die Lage in Afghanistan nicht derart sei, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre. Weiter hat es unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris) ausgeführt, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Vorliegen von Abschiebungsverboten zu Recht verneint habe.
Das entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs. Dieser geht weiterhin davon aus, dass die Lage in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, B.v. 4.8.2017 – 13a ZB 17.30791 – juris zur Zentralregion mit der Heimatprovinz des Klägers, Parwan, auch unter Bezugnahme auf U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris und Verweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167; vgl. auch B.v. 19.06.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris). In Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ebenfalls geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit weiterhin nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris; U.v. 12.2.2015 a.a.O.; U.v. 30.1.2014 – 13a B 13.30279 – juris). Schließlich ergibt sich ein Klärungsbedarf auch nicht deshalb, weil sich der Kläger seit seinem 11. Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan aufgehalten hat. Nach der auch vom Verwaltungsgericht zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs besteht für Afghanen, die sich nicht in Afghanistan aufgehalten haben, jedenfalls dann, wenn sie – wie der Kläger – eine der Landessprachen (hier: Dari) beherrschen, die Chance, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen (BayVGH, B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris; vgl. auch U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris; U.v. 24.10.2013 – 13a B 13.30031 – juris = KommunalPraxisBY 2014, 62 -LSRn. 22). Eine Rückkehr nach Afghanistan scheitert grundsätzlich nicht am fehlenden vorherigen Aufenthalt im Heimatland. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Betroffene eine der beiden Landessprachen spricht.
Soweit der Kläger auf seine persönlichen Verhältnisse und die Zumutbarkeit einer Abschiebung Bezug nimmt, entzieht sich die aufgeworfene Frage einer grundsätzlichen Klärung. Wie der Kläger selbst ausführt, sei aufgrund seiner individuellen Umstände von der Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK auszugehen. Aus individuellen Besonderheiten lassen sich aber keine verallgemeinerungsfähigen Rückschlüsse gewinnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.


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