Verwaltungsrecht

Kein Abschiebungsverbot wegen Covid-19 Pandemie für junge, gesunde und arbeitsfähige Männer in Sierra Leone dargelegt

Aktenzeichen  9 ZB 21.30109

Datum:
26.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1645
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1

 

Leitsatz

Mit allgemein gehaltenen und nicht explizit auf Sierra Leone bezogenen Einschätzungen sowie dem Hinweis auf statistische Daten betreffend das Infektionsgeschehen in Sierra Leone ist nicht dargetan, dass begründete Zweifel daran bestehen, dass für junge, gesunde und arbeitsfähige Männer weiterhin die Möglichkeit besteht, ihren Lebensunterhalt – zumindest durch Gelegenheitsarbeiten – sicherzustellen und sie sich nicht unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinden würden. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Soweit sich der Kläger auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruft, liegt bereits kein im Asylverfahrensrecht vorgesehener Zulassungsgrund vor (vgl. BayVGH, B.v. 3.4.2020 – 9 ZB 20.30794 – juris Rn. 3). Des Weiteren liegen weder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache vor (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) noch ein Verfahrensmangel (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG).
1. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird (vgl. BayVGH, B.v. 29.7.2020 – 9 ZB 20.31477 – juris Rn. 3 m.w.N.). Dem wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
a) Hinsichtlich der Frage, „ob ein Abschiebeverbot i.S.d. § 60 Abs. 5 dann besteht, wenn jemand im Zusammenhang mit der bestehenden Pandemie Covid-19 im Heimatland in die Risikogruppe ‚ältere Menschen‘ einzuordnen ist und ob die Einstufung in diese Risikogruppe: ‚älteren Personen‘ sich nach der durchschnittlichen Lebenserwartung nach Geschlecht im vollendetem Alter im Heimatstaat und nicht nach der Definition in Deutschland richtet“, sind die Entscheidungserheblichkeit und jedenfalls die grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit nicht ausreichend dargelegt.
Das Verwaltungsgericht hat den 1978 geborenen Kläger als gesund und keiner Risikogruppe, insbesondere auch nicht der der älteren Personen zugehörig angesehen, sodass er über das allgemeine Risiko hinaus in Bezug auf den schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung nicht in besonderer Weise gefährdet sei. Abgesehen davon, dass sich der Kläger hiermit nicht ausreichend auseinandersetzt, weil mit seinem Verweis auf die statistische Lebenserwartung in Sierra Leone (67,2 bis 68,6 Jahre) im Vergleich zu der in Deutschland (79,7 bis 80 Jahre) nicht dargelegt ist, dass bei Personen aus Sierra Leone bereits in jüngeren Jahren in höherem Maße als in Deutschland schwere Krankheitsverläufe bzw. Todesfälle auftreten würden oder im Allgemeinen früher ein alterungsbedingter körperlicher Zustand eintritt, der sie für einen schweren Verlauf von Covid 19 anfälliger macht, hat der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen auch sonst keine überprüfbaren Hinweise auf andere Gerichtsentscheidungen oder auf vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigte sonstige Tatsachen- oder Erkenntnisquellen, etwa entsprechende Auskünfte, Stellungnahmen, Gutachten oder Presseberichte, die den Schluss zulassen, dass die aufgeworfene Frage einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich ist und damit einer Klärung im Berufungsverfahren bedarf, mitgeteilt (vgl. BayVGH, B.v. 17.9.2020 – 9 ZB 20.31773 – juris Rn. 4). Hierfür genügen auch die auf den Internetseiten www.worldlifeexpactancy.com/country-health-profile/sierra-leone und www.worldometers.info/coronavirus/country/sierra-leone abrufbaren Statistiken zu Infektionszahlen und Todesfällen in Sierra Leone sowie entsprechenden Hochrechnungen nicht.
b) In Bezug auf die weiter aufgeworfene Frage, ob die prekäre Lage in Sierra Leone im Zusammenhang mit der Pandemie die humanitäre Lage allgemein dort nicht derart verschlechtert hat, dass leistungsfähigen, erwachsenen Männern eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht, sodass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zuzuerkennen ist, ist ebenfalls jedenfalls die allgemeine, über den Einzelfall des Klägers hinausgehende Klärungsbedürftigkeit einer solchen Fragestellung nicht ausreichend dargelegt.
Der Kläger verweist hierzu auf ein Interview des Bundesentwicklungsministers Müller im Magazin der Bundesregierung „Schwarzrotgold“ (1/21), wonach die Pandemie eine dramatische Wirtschafts- und Hungerkriese ausgelöst habe. 130 Millionen Menschen seien danach 2020 in extreme Armut zurückgeworfen worden, viele davon in Afrika. Experten rechneten dort mit einer Million Toten, weil keine Medikamente, etwa gegen Malaria, Tuberkulose und HIV ins Land kämen sowie Impfkampagnen nicht stattfänden. Weil Lieferketten ausfielen, käme Hunger dazu, wenn Arbeitsplätze über Nacht wegbrächen. Aus den unter a) benannten, im Internet abrufbaren Statistiken ergebe sich nach dem Vorbringen des Klägers zudem, dass auch in Sierra Leone die Infektionen und Todesfälle zunähmen und im Mai ihren Höhepunkt erreichten. Dem seien nach den Aussagen des Bundesentwicklungsministers die Gesundheitssysteme nicht gewachsen. Es stünden zu wenige Intensivbetten zur Verfügung.
Mit diesen eher allgemein gehaltenen und nicht explizit auf Sierra Leone bezogenen Einschätzungen sowie dem Hinweis auf statistische Daten betreffend das Infektionsgeschehen in Sierra Leone ist aber nicht dargetan, dass trotz der vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten äußerst schwierigen Lebens- und Gesundheitsversorgungsbedingungen in Sierra Leone zumindest begründete Zweifel daran bestehen, dass für junge, gesunde und arbeitsfähige Männer dort weiterhin die Möglichkeit besteht, ihren Lebensunterhalt – zumindest durch Gelegenheitsarbeiten – sicherzustellen und sie sich nicht unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinden würden, weshalb eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu besorgen und ein nationales Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen sein könnte (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12). In Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat der Kläger auch nicht dargetan, dass sich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG trotz des Fehlens einer politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG wegen einer vorliegenden Extremgefahr, wegen der er „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde, für ihn nicht auswirkt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 20, 23; OVG NW, U.v. 24.3.2020 – 19 A 4470/19.A – juris Rn. 38, 48; VGH BW, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 – juris Rn. 131 ff. m.w.N.).
Anhand des Zulassungsvorbringens ist außerdem nicht zu ersehen, dass die aufgeworfene Fragestellung überhaupt verallgemeinernd, zumindest im Hinblick auf Umstände bzw. Merkmale, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (vgl. VGH BW, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 – juris Rn. 30) und nicht nur nach Würdigung der konkreten Verhältnisse im Einzelfall beurteilt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 29.7.2020 – 9 ZB 20.31477 – juris Rn. 4). Solches ergibt sich nicht daraus, dass zu klären sei, ob aus den Pandemiefolgen ein Gefährdungsniveau resultiert, welchem mit einem Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG zu begegnen ist. Damit ist nicht dargelegt, dass jeder Rückkehrer aus der mit der Fragestellung angesprochenen Gruppe, ohne dass es auf das Hinzutreten weiterer Umstände ankäme, gefährdet sein könnte, bei seiner Rückkehr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu unterliegen.
Ferner fehlt es an einer Tatsachenfrage von verallgemeinerungsfähiger Tragweite auch deshalb, weil das weltweite Pandemiegeschehen weiterhin von einer großen Dynamik gekennzeichnet ist, die eine verlässliche Einschätzung seiner mittelfristigen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in einzelnen Ländern, wie etwa Sierra Leone, (noch) nicht erlaubt (vgl. BayVGH, B.v. 16.6.2020 – 9 ZB 20.31250 – juris Rn. 4 m.w.N; BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 48; OVG NW, B.v. 21.9.2020 – 2 A 2255/20.A – juris Rn. 7). Möglich wäre allenfalls eine Momentaufnahme, der sich indes keine belastbaren Rückschlüsse für zukünftige Entwicklungen entnehmen ließe, die deshalb nur von sehr begrenzter Aussagekraft wäre und eine verallgemeinerungsfähige grundsätzliche Klärung von Tatsachen gerade nicht ermöglichte (vgl. VGH BW, B.v. 8.5.2020 – A 4 S 1082/20 – juris Rn. 5).
Aktuelle Entwicklungen, die einer Abschiebung entgegenstehen, wären im Übrigen im Rahmen der Abschiebung von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Ggf. wäre ihnen mit einem Folgeantrag zu begegnen (vgl. BayVGH, B.v. 16.6.2020 – 9 ZB 20.31250 – juris Rn. 4; U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 48).
2. Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachten Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen, weil das Verwaltungsgericht hinsichtlich der Einstufung des Klägers als Rebell eine Überraschungsentscheidung getroffen habe.
Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden. Das Gericht hat sich mit den wesentlichen Argumenten des Klagevortrags zu befassen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann jedoch nur dann festgestellt werden, wenn sich aus besonderen Umständen klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (BayVGH, B.v. 19.10.2018 – 9 ZB 16.30023 – juris Rn. 10). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist allerdings nicht schon dann verletzt, wenn der Richter zu einer unrichtigen Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Tätigkeit der Sammlung, Feststellung und Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen gekommen ist. Auch die bloße Behauptung, das Gericht habe einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen oder das Gericht habe es versäumt, Beweis zu erheben, vermag einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu begründen (vgl. BVerfG, B.v. 15.2.2017 – 2 BvR 395/16 – juris Rn. 5 m.w.N.; BayVGH, B.v. 22.10.2019 – 9 ZB 19.31503 – juris Rn. 8).
Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist anzunehmen, wenn das Gericht einen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der der Beteiligte nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen musste (vgl. BVerfG, B.v. 13.2.2019 – 2 BvR 633/16 – juris Rn. 24 m.w.N.; BayVGH, B.v. 12.3.2020 – 9 ZB 20.30506 – juris Rn. 8).
Abgesehen davon, dass der Kläger sich in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht darauf berief, bei einer Rückkehr nach Sierra Leone als Rebell erkannt zu werden, anschließend seine Klage hinsichtlich seiner Anträge auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz, auf die Anerkennung als Asylberechtigter sowie die Zuerkennung von subsidiärem Schutz in der mündlichen Verhandlung aber zurückgenommen und somit sein Schutzbegehren wegen des von ihm vorgetragenen Verfolgungsschicksals nicht weiterverfolgt, sondern nur noch die Feststellung des Bestehens der nachrangigen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG beantragt hat (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 6; Koch in BeckOK AuslR, AufenthG, Stand Juli 2020, § 60 Rn. 39; Göbel-Zimmermann/Masuch/Hruschka in Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 71), würden die Feststellungen des Gerichts dazu, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Sierra Leone nach etwa 17 Jahren nicht als Rebell verfolgt oder überhaupt angesehen werde, erst Recht Geltung beanspruchen, wenn der Kläger, wie er mit dem Zulassungsvorbringen geltend macht, nur ein Helfer von Rebellen gewesen wäre. Für den behaupteten Gehörsverstoß ist nach alledem die Entscheidungserheblichkeit nicht ausreichend dargelegt worden und im Übrigen auch sonst nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Mit der nach § 80 AsylG unanfechtbaren Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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