Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf Abänderung der Entscheidung über das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten

Aktenzeichen  W 1 K 14.30335

Datum:
21.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG §§ 3 I, 34 I, 71 I, IV
AufenthG AufenthG §§ 59, 60 V, VII 5
VwVfG VwVfG § 51

 

Leitsatz

Hat das Bundesamt in der Ablehnung des Wiederaufgreifens des Verfahrens Abschiebungsverbote nur hinsichtlich eines nicht in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Drittstaates, nicht aber hinsichtlich des dort bezeichneten Zielstaates geprüft, so hat das Gericht diesbezüglich die Sache spruchreif zu machen und über das Vorliegen von Abschiebungsverboten zu entscheiden (sog. Pflicht zum Durchentscheiden). (amtlicher Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet.
Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (1.) noch auf Abänderung der Entscheidung bezüglich der Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten hinsichtlich Kosovo im Bescheid vom 22. Januar 2002 (2.). Auch die Androhung der Abschiebung nach Kosovo ist im Ergebnis rechtmäßig, wenngleich das Bundesamt unzutreffender Weise Abschiebungsverbote nur hinsichtlich Serbiens geprüft hat (3.). Der streitgegenständliche Bescheid vom 27. März 2014 ist daher im Ergebnis rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, weil ihr im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nach ihrem eigenen Vorbringen in Kosovo keine Verfolgung i. S. d. § 3a AsylG durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure i. S. d. § 3c AsylG droht. Die für Kosovo als sicheren Herkunftsstaat geltende Vermutung der Verfolgungssicherheit nach § 29a AsylG i. V. m. der Anlage II zu § 29a AsylG konnte die Klägerin daher nicht widerlegen. Das Gericht schließt sich den insoweit zutreffenden Ausführungen des Bundesamtes im streitgegenständlichen Bescheid an und sieht daher insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Abänderung der Entscheidung über das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten hinsichtlich Kosovo, weil diesbezüglich Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG objektiv nicht vorliegen.
2.1 Das Bundesamt hat zwar im streitgegenständlichen Bescheid Abschiebungsverbote nur hinsichtlich Serbiens, nicht aber im Hinblick auf den in der Abschiebungsandrohung als Zielstaat bezeichneten Staat Republik Kosovo geprüft. Abschiebungshindernisse sind jedoch im Hinblick auf jeden in der Abschiebungsandrohung benannten Staat zu prüfen (VGH Baden-Württemberg, B.v. 22.7.2008 – 11 S 1771/08 – juris – Rn. 6). Das Bundesamt hätte daher anhand des neuen Vorbringens der Klägerin (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) Abschiebungsverbote auch im Hinblick auf Kosovo prüfen müssen.
Das Gericht ist jedoch im Falle der vollständigen oder teilweisen Ablehnung eines Asylfolgeantrags nach ständiger Rechtsprechung nicht zu einer Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Bundesamt zur erneuten Verbescheidung nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO befugt. Wenngleich es sich bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG ausweislich des Wortlautes („soll“) jedenfalls in atypischen Fällen um eine Ermessensentscheidung handelt, hat das Gericht vielmehr die Sache gegebenenfalls sogar durch eigene Ermittlungen in den Grenzen der §§ 86 Abs. 1, 88 VwGO „spruchreif“ zu machen, also in der Sache durchzuentscheiden (BVerwG, U.v. 10.2.1998 – 9 C 28/97 – juris; VGH BW, U.v. 19.6.2012 – A 2 S 1355/11 – juris Rn. 30). Dies hat auch im vorliegenden Falle zu gelten, in dem das Bundesamt das Vorliegen von Abschiebungsverboten hinsichtlich eines Drittstaates – hier Serbien -, nicht aber hinsichtlich des in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Zielstaates – hier Kosovo – geprüft hat. Denn eine bloße Aufhebung des angegriffenen Ablehnungsbescheides und Zurückverweisung an das Bundesamt würde dem Rechtsschutzbegehren der Klägerin, das auf eine positive Sachentscheidung und damit auf eine Verpflichtung des Bundesamtes gerichtet ist, nicht in vollem Umfange gerecht (vgl. VG Bayreuth, U.v. 27.11.2008 – B 5 K 08.30028 – juris Rn. 26 hinsichtlich Änderung der Zielstaatsbestimmung).
2.2 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG liegen jedoch in der Person der Klägerin hinsichtlich des Kosovo nicht vor.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. II 1952, S. 685) – Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden. Derartiges droht der Klägerin jedoch in Kosovo auch unter Zugrundelegung ihres eigenen Vortrags und in Ermangelung anderer Anhaltspunkte nicht. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können dem gegenüber nur in begründeten Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 23). Allerdings können Ausländer kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach dieser Rechtsprechung allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (BVerwG a. a. O. unter Verweis auf EGMR, U.v. 27.5.2008 – Nr. 26565/05, N./Vereinigtes Königreich – juris [Leitsatz] = NVwZ 2008, 1334 Rn. 42). Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) lässt sich keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen ableiten (BVerwG a. a. O. Rn. 25). Daher können nur in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind. Maßgeblich ist dabei die Perspektive des abschiebenden Staates, aus dessen Sicht zu prüfen ist, ob der Betroffene durch die Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Bei dieser Prüfung stellt der EGMR grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat ab und prüft zunächst, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (BVerwG a. a. O. unter Verweis auf EGMR, U.v. 28.6.2011 – Nr. 8319/07, Sufi und Elmi – NVwZ 2012, 681, juris [Leitsatz]). Die humanitären Bedingungen in Kosovo sind auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin nicht derart katastrophal, dass ihr im Falle der Rückkehr aus diesen Gründen eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht. Hierzu wird auf die nachfolgende Darstellung zur Frage einer Extremgefahr im Sinne der verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG verwiesen.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Derartige individuelle Gefahren drohen der Klägerin, gerade unter Berücksichtigung ihres eigenen Sachvortrags, nach dem oben zu § 3 Abs. 1 AsylG Dargelegten nicht.
Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren i. S. des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein betreffen, so ist die Gewährung von Abschiebungsschutz einer politischen Leitentscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60a AufenthG vorbehalten. Dies gilt auch im vorliegenden Fall. Die von der Klägerin geschilderten schlechten Lebensbedingungen treffen unstreitig für eine Vielzahl weiterer Personen im Abschiebestaat zu (Lagebericht a. a. O.). Beim Fehlen einer politischen Regelung i. S. des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kommt jedoch die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG nur zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke in Betracht. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist zutreffend anerkannt, dass im Falle einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die den einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, unabhängig vom Vorliegen von Abschiebungsverboten Schutz vor Abschiebung gewährt werden muss (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – BVerwGE 99, 324 ff., juris; U.v. 4.6.1996 – NVwZ-Beilage 11/1996, 89 f., juris). Insoweit lässt sich aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der Grundsatz ableiten, dass ein Staat nicht durch seine Abschiebung dazu beitragen darf, den elementaren Anspruch jedes Menschen auf Menschenwürde und Leben zu beeinträchtigen. Jenseits des Extremfalles der Auslieferung eines Menschen in den sicheren Tod und in die Gefahr schwerster Verletzungen besteht aber keine verfassungsrechtlich begründbare Garantenpflicht für die im Ausland als Folge der dort bestehenden sozialen, politischen oder ökonomischen Verhältnisse drohenden Gefahren für Leib und Leben (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 60 AufenthG Rn. 187).
Eine solche extreme Gefahrenlage besteht für die Klägerin im Kosovo jedoch nicht. Für den Fall, dass sie dort keine Arbeit findet, kann sie Sozialhilfe beziehen. Voraussetzung des Anspruchs auf Sozialleistungen ist die Registrierung als Einwohner von Kosovo. Die Registrierung von bisher nicht erfassten Personen wird auf Antrag in der Herkunftsgemeinde, in der die Klägerin geboren wurde bzw. in der ihre Eltern zuletzt wohnhaft waren, vorgenommen. Inzwischen können auch bei kosovarischen Auslandsvertretungen Anträge auf Erstregistrierung gestellt werden. Die Herkunft aus Kosovo kann durch Personenstandsdokumente oder andere Urkunden belegt werden, alternativ kann eine Registrierung in Ausnahmefällen auch durch Zeugenaussagen herbeigeführt werden. Das Kosovarische Innenministerium prüft vor seiner Zustimmung zu einer Rückführung aus Drittstaaten anhand von Dokumenten, bestehenden Registereinträgen und/oder Zeugenaussagen die genaue Herkunft einer Person aus Kosovo. Daher ist davon auszugehen, dass in Rückführungsfällen die formellen Voraussetzungen für die Registrierung als „Resident of Kosovo“ erfüllt werden (Lagebericht a. a. O., S. 23). Damit steht fest, dass es der Klägerin, gegebenenfalls mit Hilfe von Dritten, möglich sein wird, sich an ihrem bisherigen Wohnort oder einem neuen Wohnort im Kosovo registrieren zu lassen. Damit hat sie auch Zugang zu staatlichen Sozialleistungen und zur Gesundheitsversorgung im öffentlichen Gesundheitssystem Kosovos.
3. Da somit keine Abschiebungsverbote hinsichtlich des Kosovo vorliegen, ist auch die Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG einschließlich der Zielstaatsbezeichnung rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.


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