Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge ohne vorherige Ausreise

Aktenzeichen  Au 1 K 20.1968

Datum:
20.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 20844
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 10 Abs. 3 S. 1, § 25 Abs. 5, § 36 Abs. 2 S. 1
GG Art. 6
ERMK Art. 8

 

Leitsatz

1. Ein strikter Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ist nur dann gegeben, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels vorliegen, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (Anschluss an BVerwG NVwZ 2019, 486). Dies ist bei § 36 Abs. 2 AufenthG nicht der Fall. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Soweit die Nachholung des Visumverfahrens im Ausland erforderlich ist, ist dessen Durchführung nicht von vornherein unzumutbar, auch wenn es mit einer vorübergehenden Trennung der Familie verbunden ist (Anschluss an BVerfG BeckRS 2018, 3992). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die deutschen Auslandsvertretungen bei der Bearbeitung des Visumantrags die Vorgaben des Art. 6 GG achten und gegebenenfalls effektiver verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung steht. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.
Gegenstand der Klage ist der Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge für seine in Deutschland aufenthaltsberechtigten Kinder ohne vorherige Ausreise.
II.
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid des Landratsamts … vom 14. September 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da er ohne Durchführung eines Visumverfahrens keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Anspruchsgrundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge für die in Deutschland lebenden Kinder ist § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Hiernach kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.
Der Anwendung dieser Norm steht die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen. Hiernach darf einem Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist, vor der Ausreise ein Aufenthaltstitel nur nach Maßgabe des Abschnitts 5 erteilt werden. Dazu zählt die Vorschrift des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht. Nach § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG findet diese Sperre nur dann keine Anwendung, wenn ein strikter Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht. Ein solcher ist nur dann gegeben, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels vorliegen, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 27). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Zum einen setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens voraus. Zum anderen ist der Kläger ohne das erforderliche Visum eingereist und auf diese allgemeine Erteilungsvoraussetzung kann ebenfalls nur im Rahmen einer Ermessensentscheidung verzichtet werden (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AufenthG).
2. Angesichts des Bestehens der Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 AufenthG kommt allein die Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, die im Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes geregelt ist, in Betracht. Hiernach kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Es ist schon fraglich, ob § 25 Abs. 5 AufenthG als Auffangvorschrift für ein sich aus Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK ergebendes Ausreisehindernis herangezogen werden kann, wenn die Erteilungsvoraussetzungen der für die genannten Aufenthaltszwecke bestehenden Normen nicht erfüllt sind (vgl. BayVGH, B.v. 3.9.2019 – 10 C 19.1700 – juris Rn. 4; U.v. 30.10.2018 – 10 ZB 18.1780 – juris Rn. 7). Jedenfalls aber ist die Ausreise des Klägers nicht aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich. Es liegt ein gültiger Nationalpass vor, so dass der Kläger nach Nigeria reisen kann. Auch die Ausübung der elterlichen Sorge für seine sich berechtigterweise in Deutschland aufhaltenden Kinder führt im vorliegenden Fall nach derzeitigem Stand nicht zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise.
a) Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen unter Betrachtung des Einzelfalles und Gewichtung der familiären Bindungen einerseits und der sonstigen Umstände des Einzelfalles andererseits berücksichtigen (BayVGH, B.v. 2.3.2016 – 10 CS 16.408 – juris Rn. 5 m.w.N.).
b) Die Feststellung allein, der Kläger habe einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet zur Ausübung der Personensorge für seine Kinder, führt noch nicht zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise. Vielmehr kommt es darauf an, ob die Ausreise zu einer dauernden oder unzumutbar langen Trennung der Familie führt. Für den Kläger besteht im Falle der Ausreise die Möglichkeit der Rückkehr. Der Gesetzgeber sieht für den dauerhaften Aufenthalt zur Ausübung der Personensorge die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nach dem 6. Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes vor. Eine Wiedereinreise in das Bundesgebiet zu diesem Zweck ist dem Kläger mit dem dafür erforderlichen nationalen Visum möglich und ist auch gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung der entsprechenden Aufenthaltserlaubnis. Soweit die Nachholung des Visumverfahrens im Ausland erforderlich ist, ist dessen Durchführung nicht von vorneherein unzumutbar, auch wenn es mit einer vorübergehenden Trennung der Familie verbunden ist (BVerfG, B.v. 15.3.2018 – 2 BvQ 24/18 – juris Rn. 6).
c) Die Durchführung des Visumverfahrens beim zuständigen deutschen Generalkon sulat in Lagos ist dem Kläger nach gegenwärtigem Stand zumutbar. Nachdem der ablehnende asylrechtliche Bescheid des … vom 18. Oktober 2017 am 25. Juni 2020 bestandkräftig wurde, steht fest, dass einer Rückkehr des Klägers in sein Heimatland zum Zwecke der Durchführung des Visumverfahrens keine zielstaatsbezogenen Gründe entgegenstehen. Daneben führt auch der verfassungsrechtliche Schutz der familiären Lebensgemeinschaft nicht zur Unzumutbarkeit der Ausreise.
aa) Aus einer vom Beklagten in dem vorliegenden Verfahren eingeholten Stellungnahme des deutschen Generalkonsulats in Lagos vom 17. Februar 2021 ergibt sich, dass aufgrund gravierender Mängel im nigerianischen Urkundswesen in fast allen Familienzusammenführungsfällen die Identität der Antragsteller geprüft werde. Ein derartiges Urkundenüberprüfungsverfahren dauere derzeit mindestens fünf Monate und könne im Rahmen der Amtshilfe von Deutschland aus innerhalb der Wartezeit auf den Termin zur Beantragung des Visums durchgeführt werden. Die entsprechenden Unterlagen befänden sich als pdf-Dokumente auf der Internetseite des Generalkonsulats. Eine Terminbuchung sei im Rahmen des Online-Terminvergabesystems des Auswärtigen Amtes möglich. Die Wartezeit auf den Termin betrage derzeit circa ein Jahr. Eine Terminbuchung sei von Deutschland aus möglich, so dass die Rückreise in das Heimatland direkt zum gebuchten Termin erfolgen könne. Die voraussichtliche Wartezeit auf den Termin werde im Rahmen der Registrierung mitgeteilt. Die Dauer des Visumverfahrens betrage ab der Einreichung des vollständigen Visumantrags am vorab gebuchten Termin bei gleichzeitiger Vorlage der Vorabzustimmung der Ausländerbehörde und einer bereits durchgeführten Urkundenüberprüfung, bei der die Identität des Antragstellers geklärt wurde, derzeit mindestens fünf Wochen. Eine Beschleunigung des Verfahrens sei nicht möglich.
Angesichts dieser Auskunft des deutschen Generalkonsulats in Lagos steht fest, dass das Visumverfahren bei gewissenhafter Vorbereitung und selbst bei Notwendigkeit einer 14-tägigen pandemiebedingten Selbstisolierung auf die Dauer von maximal 2 bis 3 Monaten begrenzt werden kann. Zudem kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die deutschen Auslandsvertretungen bei der Bearbeitung des Visumantrags die Vorgaben des Art. 6 GG achten und gegebenenfalls effektiver verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung steht. Soweit die Bevollmächtigte des Klägers die Zeitangaben des Generalkonsulats infrage stellt und eine unangemessen lange Verfahrensdauer wegen im Verantwortungsbereich der Behörde liegender Umstände befürchtet, ist sie auf die entsprechenden Rechtsschutzmöglichkeiten zu verweisen.
bb) Aufgrund der Bedeutung des Visumverfahrens für die nach Auskunft des deut schen Generalkonsulats auch bei Vorliegen eines nigerianischen Nationalpasses notwendige Identitätsklärung, die nur vor Ort möglich ist und an der ein besonderes öffentliches Interesse besteht, ist eine Trennung der Familie für einen überschaubaren Zeitraum zumutbar. Der Kläger und seine Kinder befinden sich hier in keiner anderen Situation als andere Familienangehörige, die ordnungsgemäß das Visumverfahren vom Ausland aus durchführen und ebenfalls vorübergehend noch nicht im Bundesgebiet zusammenleben können. Eine Abhängigkeit der Familie von der dauernden Anwesenheit des Klägers wurde nicht substantiiert vorgetragen. Allein der Hinweis auf die Geburten der Kinder per Kaiserschnitt und die damit einhergehende Schwächung der Kindsmutter reicht nicht aus, da es sich hierbei um eine nur vorübergehende gesundheitliche Beeinträchtigung handelt.
cc) Die Ausländerbehörde hat den Kläger in einem persönlichen Gespräch am 14. August 2020 auf die Notwendigkeit der Ausreise und Einholung des erforderlichen Visums hingewiesen. Sie hat zugesagt, die Frist zur freiwilligen Ausreise bis zu einem Botschaftstermin zu verlängern, soweit entsprechende ernsthafte Bemühungen nachgewiesen werden. Ihre grundsätzliche Bereitschaft zu dieser Verfahrensweise wiederholte sie in der mündlichen Verhandlung. Zudem wurde der Bevollmächtigten des Klägers im Rahmen des vorliegenden Klageverfahrens die Stellungnahme des deutschen Generalkonsulats in Lagos vom 17. Februar 2021 zugesandt, aus der sich die Notwendigkeit der Registrierung im Online-Terminvergabesystem des Auswärtigen Amtes und der Link zu den Dokumenten für das Urkundenüberprüfungsverfahren ergeben. Der Kläger hat sich allerdings zu keinerlei Kooperation bereit erklärt und bisher keine Bemühungen zur Vorbereitung des Visumverfahrens an den Tag gelegt. Vor diesem Hintergrund kann gegenwärtig mangels anderweitiger Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, dass einer zügigen Abwicklung des Visumverfahrens bei entsprechender Vorbereitung nichts im Wege steht und die allgemeine Auskunft des Generalkonsulats auch auf den Fall des Klägers zutrifft. Die Ausreise des Klägers ist damit zumindest derzeit nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich, so dass kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG besteht.
III.
Die Kostenentscheidung basiert auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als unterliegender Teil hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit basiert auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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