Verwaltungsrecht

kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Einzelfall

Aktenzeichen  RO 16 K 17.35228

Datum:
17.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38959
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a, § 3b, § 4 Abs. 1,
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Personen, die von den Taliban zwangsrekrutiert werden sollen, stellen keine bestimmte soziale Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, da diese bereits keine deutlich abgegrenzte Identität in Afghanistan besitzen und auch von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als andersartig betrachtet werden.  (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aus dem europäischen Ausland zurückkehrenden, alleinstehenden, männlichen, arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen ist es auch ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne familiären Rückhalt möglich, sich durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu sichern und sich allmählich (wieder) in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. (Rn. 56) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund mündlicher Verhandlung am 12.11.2020 trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten entschieden werden, denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde jeweils darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige, insbesondere innerhalb der Frist des § 74 Abs. 1 Hs. 1 AsylG erhobene Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 25.10.2017 ist – soweit er angefochten wurde – rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) erfüllt der Kläger nicht die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes oder die Feststellung nationaler Abschiebungshindernisse. Nicht zu beanstanden sind schließlich Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots.
1. Einen Anspruch auf Gewährung von Asyl kann der Kläger schon deshalb nicht haben, weil er nach seinen Angaben auf dem Landweg und damit über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.
Nach Art. 16 a Abs. 1 Grundgesetz genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Darauf kann sich jedoch nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist (Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG). Der Kläger ist nach seinen Angaben auf dem Landweg und damit zwangsläufig über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, vgl. Art. 16 a Abs. 2 GG i.V.m. § 26 a AsylG und der dazu ergangenen Anlage 1. Denn nach den genannten Vorschriften sind alle an die Bundesrepublik Deutschland angrenzenden Staaten sichere Drittstaaten. Dies hat zur Folge, dass der Kläger nach Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG keinen Anspruch auf die Gewährung von Asyl hat.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
a) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet (Nr. 2), dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Buchst. a)) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Buchst. b)). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn der Einzelne in Anknüpfung (vgl. § 3a Abs. 3 AsylG) an die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt ist. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Eine Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die soeben genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten (vgl. dazu § 3d AsylG), und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist. Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG auch unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zu seiner Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt.
Die Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften hat in Übereinstimmung mit den Vorgaben der RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie vom 13.12.2011, ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 ff.) zu erfolgen. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris Rn. 22). Eine Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt aber durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie. Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind danach ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies gilt nur dann nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Ausländer erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. In der Vergangenheit liegenden Umständen ist damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beizumessen (vgl. auch OVG NRW, U.v. 21.2.2017 – 14 A 2316/16.A – juris Rn. 24). Gem. Art. 4 Abs. 1, 2 und 5 der Qualifikationsrichtlinie kann entsprechend der überkommenen Rechtsprechung (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 22.3.1983 – 9 C 68/81 – juris Rn. 5 m.w.N.) von dem schutzsuchenden Ausländer erwartet werden, dass er sich nach Möglichkeit unter Vorlage entsprechender Urkunden bemüht, seine Identität und persönlichen Umstände sowie die geltend gemachte Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr nachzuweisen oder jedenfalls substantiiert glaubhaft zu machen. Die üblichen Beweismittel stehen ihm jedoch häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris Rn. 16 und U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris Rn. 11). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt daher voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris Rn. 16; U.v. 1.10.1985 – 9 C 19.85 – juris Rn. 16 und B.v. 21.7.1989 – 9 B 239.89 – juris Rn. 3).
b) Legt man diese Anforderungen zugrunde, so hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG. Ihm droht in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus einem in § 3b AsylG genannten Grund eine Verfolgung gemäß § 3a AsylG durch einen der in § 3c AsylG genannten Akteure. Der Kläger konnte eine individuelle flüchtlingsrelevante Einzelverfolgung nicht substantiiert und glaubhaft geltend machen.
Eine konkrete individuelle fluchtauslösende Verfolgung hat der Kläger selbst nicht vorgetragen. Er hat insoweit lediglich berichtet, dass die Taliban allgemein sich Jugendlichen genähert hätten und versucht hätten diese anzuwerben. Das Gericht kann hieraus jedoch nicht erkennen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus einem flüchtlingsrechtlich relevanten Grund heraus verfolgt werden würde.
Zum einen ist bereits fraglich, ob dies eine aus einem Verfolgungsgrund des § 3 b AsylG vorgenommene Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 a AsylG darstellt. Insoweit ist nicht erkennbar, dass der Kläger durch eine Zwangsrekrutierung in einem flüchtlingsrelevanten Merkmal betroffen würde. Dies gilt auch unter Berücksichtigung von § 3 b Abs. 2 AsylG, wonach eine vom Verfolger unterstellte politische Überzeugung ausreichend ist. Die alleinige Nichtbeteiligung an einer Organisation, ohne dass hierfür die Beweggründe näher zutage getreten wären, kann noch nicht zu der Annahme einer dem Kläger von Seiten der Taliban zugeschriebenen politischen Überzeugung gegen diese Organisation führen. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die geltend gemachte Verfolgung gerade aus Gründen einer dem Kläger unterstellten politischen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung gegen die Taliban erfolgt, was Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wäre. Auch stellen Personen, die zwangsrekrutiert werden sollen, keine bestimmte soziale Gruppe nach § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, da diese bereits keine deutlich abgegrenzte Identität in Afghanistan besitzen und auch von der sie umgebenen Gesellschaft nicht als andersartig betrachtet werden.
Zum anderen ist schon nach dem Vortrag des Klägers keine ihm individuell drohende Verfolgung erkennbar. Der Kläger berichtet insoweit, dass sich die Taliban den Jugendlichen genähert hätten, ihnen Waffen gezeigt und sie darin unterwiesen hätten und sie aufgefordert hätten mitzumachen. Der Kläger beschreibt aber keine ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Zwangsrekrutierung. Dies stimmt auch mit der Auskunftslage überein. Danach kommen Zwangsrekrutierungen zwar in Einzelfällen durchaus vor, jedoch rekrutieren die Taliban hauptsächlich freiwillige Kämpfer und Unterstützer, die durch eine Vielzahl an Faktoren, angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage insbesondere durch finanzielle Anreize motiviert sein können. Das VG Würzburg (VG Würzburg, U.v. 4.9.2019 – W 1 K 19.30257 -, juris Rn. 22ff.) führt hierzu aus:
Der UNHCR erläutert im fraglichen Zusammenhang, dass in Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen die Kontrolle über die Bevölkerung ausübten, eine Vielzahl von Mechanismen bestehe, um Kämpfer zu rekrutieren, einschließlich durch Zwangsmaßnahmen. Personen, die sich einer Rekrutierung widersetzten und deren Familienmitglieder, seien Berichten zufolge dem Risiko der Bestrafung bzw. Tötung ausgesetzt. Es existierten zudem Berichte, dass regierungsfeindliche Gruppen weiterhin auch Kinder für ihre Zwecke rekrutierten. Daher könnten Männer im kampffähigen Alter oder Kinder, die sich einer zwangsweisen Rekrutierung widersetzt hätten, abhängig von den Umständen des Einzelfalles des internationalen Flüchtlingsschutzes bedürfen (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 52 ff.).
Auch im EASO-Bericht vom September 2016 (vgl. EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan: Recruitment by armed groups, September 2016, S. 22) sowie vom Juni 2018 (vgl. EASO, Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis, S. 46) wird bestätigt, dass Fälle von Zwangsrekrutierungen in Afghanistan als außergewöhnlich zu bezeichnen sind, da die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Kämpfern hätten. Rekrutierungen könnten etwa bei Personen mit einem militärischen Hintergrund und in Situationen vorkommen, in denen die Taliban akut unter Druck stünden. Es lägen Informationen vor, dass auch Kinder rekrutiert würden. Der Zwang, sich den Taliban anzuschließen, sei nicht immer gewalttätiger Natur und würde je nach den örtlichen Gegebenheiten, auch durch die Familie, den Clan oder religiöse Netzwerke ausgeübt. Die Ablehnung einer Rekrutierung könne schwerwiegende Folgen haben bis hin zu schweren Körperverletzungen und Tötungen.
Das Bundesasylamt der Republik Österreich hat in seiner Staatendokumentation vom 2. April 2012 zu Afghanistan betreffend die Rekrutierung durch die Taliban ausgeführt, es gebe eine Vielzahl von Gründen, warum sich in Afghanistan Menschen den Taliban anschließen. Ein wesentlicher Faktor seien Armut, Arbeitslosigkeit und schlechte Ausbildung. So werde die Beteiligung am Aufstand als Möglichkeit gesehen, sich und die eigene Familie zu versorgen. Bis zu 70% der Taliban sollen aus jungen arbeitslosen Männern bestehen, die versuchten, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Vor allem Flüchtlingslager in Afghanistan und Pakistan und die dortigen schlechten Lebensumstände schienen die Rekrutierung zu begünstigen. Ein weiterer Grund, sich den Taliban anzuschließen, könne auch in der persönlichen Rache für die Tötung von Angehörigen liegen. Außerdem gelinge es den Taliban immer wieder geschickt, lokale Konflikte auszunutzen, um neue Verbündete zu finden. Vor diesem Hintergrund einer Vielzahl ökonomischer, machtpolitischer und ideologischer Beweggründe, sich den Taliban anzuschließen, basiere die tatsächliche Rekrutierung jedoch im Wesentlichen auf den persönlichen Kontakten zu lokalen Kommandanten und Mullahs bzw. es würden Personen in Koran-Schulen angeworben und indoktriniert. Eine Facette der Politik der Taliban gegenüber der Bevölkerung liege in der Vermeidung lokaler Konflikte. So suchten die Taliban die Unterstützung der Dorfältesten, bevor sie in ein Gebiet eindringen würden. Seit ihrem Sturz versuchten die Taliban, alle zu rekrutieren, die ihre Herrschaft in den 1990er Jahren unterstützt und mit der Vertreibung der Taliban im Jahr 2001 an Einfluss verloren hätten. In einigen Fällen seien das auch Nicht-Paschtunen. Grundsätzlich scheine die Zwangsrekrutierung im Sinne einer Rekrutierung durch Waffengewalt eher ein Randphänomen zu sein. Es müsse jedoch festgehalten werden, dass die allgemeine Quellenlage über Rekrutierung durch die Taliban rar sei. Auffällig sei, dass die Fälle von Zwangsrekrutierung mit Waffengewalt sich nach den vorliegenden Quellen ausschließlich in Pakistan zugetragen hätten. Es gebe keine Berichte über konkrete Fälle aus jüngerer Zeit. Die Mehrheit der Kämpfer scheine sich freiwillig den aufständischen Gruppen anzuschließen. Gehe man davon aus, dass die Taliban in einem nicht geringen Ausmaß auf die Unterstützung der lokalen Bevölkerung beim Kampf gegen die Regierung und die internationalen Gruppen angewiesen seien und die Zuverlässigkeit von zwangsrekrutierten Kämpfern sehr zweifelhaft sei, sei eine Politik der Zwangsrekrutierung auch kontraproduktiv. Dies würde die eigene Schlagkraft schwächen und den Widerstand der Bevölkerung provozieren. Dieser Befund decke sich auch mit der Feststellung, dass die Taliban bemüht seien, Konflikte mit der lokalen Bevölkerung weitestgehend zu vermeiden, indem sie die lokalen Würdenträger vor dem Beginn ihrer Aktivitäten in einem bestimmten Gebiet in Kenntnis setzten und ihre Zustimmung einholten. Wenn überhaupt, gehe man davon aus, dass es nur in von Taliban kontrollierten Gemeinschaften zu Zwangsrekrutierungen gekommen sein könne.
ACCORD führt in der Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Rekrutierungsmaßnahmen der Taliban, vom 13. August 2018 darüber hinaus zusammenfassend aus, dass Fälle von Zwangsrekrutierung dokumentiert seien, diese aber Ausnahmen darstellten (unter Bezugnahme auf: Landinfo, Norwegian Country of Origin Information Center: Afghanistan: Rekruttering til Taliban, 29.6.2017). Grundsätzlich beruhe die Mobilisierung lokaler Unterstützung auf einer Kombination aus Drohung und Einbindung. Mit zunehmender militärischer Stärke seien die Taliban weniger auf gute Beziehungen zur lokalen Bevölkerung angewiesen. Weitere Gründe für Gemeinschaften, lokale Machthaber oder Familienoberhäupter zu kooperieren und zum Beispiel ihre Söhne als Kämpfer zur Verfügung zu stellen, seien ökonomische Not, aber auch ideologische Überzeugung. Die Taliban seien im Vergleich zu ihrer ersten Herrschaftszeit bemühter, soziale Verankerung innerhalb der lokalen Gemeinschaften zu erreichen. Mitunter gebe es auch Spielraum für Verhandlungen, wenn sich Forderungen glaubwürdig als nicht erfüllbar oder existenzbedrohlich herausstellten. Besondere Zielgruppe in der Rekrutierung von Informanten seien Angehörige der Sicherheitskräfte, der Polizei, Regierungsmitarbeiter und des NDS. Offiziell müssten zwei Warnungen ergehen, bevor ein Betroffener zur Tötung freigegeben werde. Meistens seien die Drohungen bei Nichterfüllung offen benannt, manchmal jedoch auch implizit, was sie nicht weniger bedrohlich mache. Die praktischen Konsequenzen einer Verweigerung reichten von Entführungen über Verstümmelungen bis hin zum Mord an dem Betroffenen oder Verwandten (unter Bezugnahme auf: Friederike Stahlmann: Gutachten Afghanistan vom 28.3.2018 – diese u.a. unter Bezugnahme auf Giustozzi, Antonio: Afghanistan: Taliban´s organization und structure, 23.8.2017 und IRB – Immigration and Refugee Board of Canada: Afghanistan: Night letters, 10.2.2015). Die traditionelle Methode der Taliban-Rekrutierung funktioniere über religiöse Netzwerke von Familien, Stämmen und ethnischen Gruppen vor Ort und lokale spezialisierte Zellen in Afghanistan und bedeutende Rekrutierungspools in Pakistan. Die Rekrutierung erfolge in der Regel, weil jemand Mitglied einer Stammes- oder Verwandtschaftsgruppe sei und von Ältesten angewiesen werde sich anzuschließen. Die Rekrutierung erfolge nicht notwendigerweise auf ideologischer Basis, sondern könne durch Anreize für Einzelpersonen sowie durch Zwang oder direkte Drohungen erfolgen. Personen würden am ehesten durch Stammes-, Clan- oder Familienbande rekrutiert. Es gebe nur begrenzte Beweise dafür, dass bewaffnete Gruppen Drohungen und Zwang anwenden würden, um Einzelpersonen zu zwingen, sich ihnen anzuschließen. Es gebe generell eine Reihe von Faktoren, sich den Taliban anzuschließen, darunter soziale und wirtschaftliche Faktoren, wirtschaftliche Anreize, persönlicher Status und die Gelegenheit, Ruhm zu erlangen (Giustozzi, a.a.O.).
Dr. M … führt in seinem Gutachten vom 30. April 2013 an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zu der Frage, ob in den letzten Jahren in Afghanistan Fälle von Rückkehrern aus dem Ausland oder von Binnenflüchtlingen bekannt geworden seien, die in der Stadt Kabul von den Taliban aufgespürt und getötet oder bestraft worden seien, weil sie sich durch Flucht einer Zwangsrekrutierung entzogen hätten, und wenn ja, wie häufig dies vorkomme, aus, ihm seien drei Personen bekannt geworden, die hätten zwangsrekrutiert werden sollen und nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan erneut von den Taliban behelligt worden und daraufhin ein weiteres Mal geflohen seien. Des Weiteren berichtet er über zwei weitere Fälle von Binnenflüchtlingen, die aus ihrer Heimatregion geflohen und in der Hauptstadt Kabul von den Taliban wiederum bedroht worden seien. Es gebe keine Statistik über solche Fälle, aber Informanten berichteten, dass es häufig zu Fällen komme, in denen junge Männer getötet würden und Gerüchte wollten wissen, dass es sich um Racheakte der Taliban handele. Konkret könne er die Frage nach der Häufigkeit solcher Racheaktionen nicht beantworten. Zur weiteren Frage, ob die Taliban in Kabul über Netzwerke verfügten, mittels derer sie gezielt Nachforschungen anstellten, ob sich unter Rückkehrern und Binnenflüchtlingen Personen befinden, die sich in ihrer Heimatregion einer Zwangsrekrutierung entzogen hätten, erklärt Herr Dr. …, konkret könne er diese Frage nicht beantworten, seine Informanten hätten bei ihren Recherchen nicht feststellen können, ob innerhalb der Informationszentren der Taliban Strukturen existierten, die dazu dienten, nach solchen Personen zu suchen. Seine Kollegen seien jedoch der Überzeugung, dass die Taliban selbst in der Hauptstadt zwangsrekrutierten. Ob die Taliban in den genannten Fällen, in denen sie abgeschobene Personen ein zweites Mal zu rekrutieren versuchten, gezielt nach ihnen gesucht hätten, könne er nicht beantworten. Er müsse davon ausgehen, dass die Taliban mindestens in der Lage seien, viele der Personen, die eine Zwangsrekrutierung abgelehnt hätten, zu finden. Auf die weitere Frage, ob Rückkehrer und Binnenflüchtlinge, die sich einer Zwangsrekrutierung entzogen hätten, einer erhöhten Gefahr ausgesetzt seien, in Kabul von den Taliban entdeckt zu werden, wenn sie aus einer Region im näheren Umkreis von Kabul stammten, führt Dr. … aus, dass es vor allem darauf ankomme, ob sie einem paschtunischen Stamm angehörten, aus dem viele Taliban kämen. Dann sei eine solche Person in Kabul leichter zu identifizieren als jemand, der aus einem nicht-paschtunischen Volk stamme.
Insgesamt geht das Gericht davon aus, dass dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine individuelle Verfolgung in Form der Zwangsrekrutierung durch die Taliban droht. Ohne dass es rechtlich noch darauf ankäme, könnte er sich einer Zwangsrekrutierung auch durch eine inländische Fluchtalternative entziehen.
3. Dem Kläger steht auch nicht der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG zu.
Für § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG (Todesstrafe), § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 AsylG (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) sind keine Anhaltspunkte ersichtlich (vgl. dazu unter 2.), so dass vorliegend allein die Schutzregelung des § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG der Erörterung bedarf.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG steht einem Ausländer subsidiärer Schutz zu, wenn er in seinem Herkunftsland als Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre. Die geforderte „individuelle“ Bedrohung muss dabei nicht notwendig auf die spezifische persönliche Situation des schutzsuchenden Ausländers zurückzuführen sein. Der betreffende subsidiäre Schutzanspruch besteht vielmehr auch dann, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, U.v. 17.2.2009 – C-465/07). Die Bestimmung der Gefahrendichte erfordert eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris; BVerwG, U.v. 23.7.2014 – 10 C 6.13 – juris).
Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist nicht davon auszugehen, dass die Gefahrendichte in Afghanistan ein so hohes Niveau erreicht hat, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes vorliegen. Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 12, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist zunächst die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Nachdem aber auch der subsidiäre Schutzstatus nur zuerkannt wird, wenn die Gefahr landesweit besteht und keine interne Schutzmöglichkeit besteht (§§ 4 Abs. 3 i.V.m. 3 e AsylG), sind auch die landesweiten Opferzahlen in den Blick zu nehmen.
Zwar besteht nach wie vor in Afghanistan landesweit ein bewaffneter Konflikt zwischen den von den internationalen Kräften unterstützten Regierungseinheiten und den pauschal als Taliban bezeichneten Oppositionskräften. Insgesamt waren in Afghanistan im Jahr 2016 3.527 zivile Todesopfer und 7.925 verletzte Zivilpersonen zu beklagen (vgl. UNAMA, Afghanistan Annual Report on Protection of Civilians in Armed Conflict 2016, February 2017, S. 10). Im Jahr 2017 sind die Opferzahlen mit 3.440 Toten und 7.019 Verletzten leicht gesunken (vgl. UNAMA, Annual Report 2017, Februar 2018, S. 1). Auch im Jahr 2018 bewegen sich die Opferzahlen auf dem Vorjahresniveau, es wurden 3.804 Todesopfer gezählt und 7.189 Verletzte (UNAMA, Annual Report 2018, Februar 2019, S. 1). Im Jahr 2019 waren die Zahlen mit 3.403 Todesopfern und 6.989 Verletzten insgesamt leicht (um 5%) rückläufig, wobei sich jedoch deutliche Unterschiede innerhalb des Jahresverlaufs ergeben (UNAMA, Annual Report 2019, Februar 2020, S. 5). Der aktuelle Vierteljahresbericht für die ersten 9 Monate des Jahres von UNAMA weist 2.117 Todesopfer und 3.822 Verletzte für die ersten neun Monate des Jahres 2020 aus und damit einen Rückgang von 30% gegenüber dem ersten Dreivierteljahr des letzten Jahres und die niedrigste Gesamtzahl für ein erstes Dreivierteljahr seit 2012 (UNAMA, Quarterly Report: 1 January – 30 September 2020, S. 1).
Aus diesen Zahlen allein kann jedoch weder für das ganze Land noch für einzelne Gebiete auf eine Extremgefahr im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 Buchst. c QRL geschlossen werden. Dass nicht gleichsam jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist, folgt aber im Übrigen bereits aus einem Vergleich der genannten Opferzahlen mit der geschätzten Einwohnerzahl für ganz Afghanistan von knapp 30 Millionen Personen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres ein Risiko von 1:800 (0,125%) bzw. 1:1000 (0,1%) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris). Allein die abstrakte Gefahr, angesichts der fragilen Sicherheitslage in Afghanistan Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen zu werden, reicht für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus jedenfalls nicht aus.
Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG hat auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof für keine der Regionen Afghanistans angenommen und die Lage in Afghanistan nicht derart eingeschätzt, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG anzunehmen wäre (BayVGH, B.v. 23.10.2019 – 13a ZB 19.32670 – juris; BayVGH, B.v. 5.8.2019 – 13a ZB 19.32217 – juris; BayVGH, B.v. 28.3.2019 – 13a ZB 18.33210 -, juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 25.2.2019 – 13a ZB 18.32487 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 30.1.2019 – 13a ZB 17.31111 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 8.2.2018 – 13a ZB 17.30801 – juris). Denn das Risiko für Verletzung oder Tötung liegt weit unterhalb der Schwellen von 1:800 bzw. 0,1% (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 -10 C 13.10 – juris; BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – juris – Rn. 24).
Dies gilt auch in der Einzelbetrachtung für die Herkunftsregion des Klägers Nangarhar und für Kabul als zu erwartende Zielregion. Auch für die Provinzen Nangarhar und Kabul, welche im Jahr 2019 mit 1.070 (Nangarhar) bzw. 1.563 (Kabul) Toten und Verletzten einen deutlichen Rückgang von 41% (Nangarhar) bzw. einen Rückgang von 16% (Kabul) erfahren haben (vgl. UNAMA, Annual Report 2019, Seite 94, Februar 2020), liegt das Risiko für Verletzung oder Tötung weit unterhalb der Schwellen von 1:800 bzw. 0,1% (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 -10 C 13.10 – juris; BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – juris – Rn. 24). Selbst wenn man annehmen würde, dass die von UNAMA ermittelten Zahlen aufgrund der angewandte Methode als zu niedrig zu betrachten sind (vgl. VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – Rn. 222), bleibt das Risiko weit unterhalb der genannten Schwellen.
Besondere in der Person des Klägers liegende erschwerende Umstände wurden weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich.
Damit ist nicht von einer erheblichen Gefahrendichte im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG auszugehen.
Dem Kläger steht demzufolge auch nicht der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG zu.
4. Zuletzt liegen auch Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vor.
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris), wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verweist, ist eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen möglich (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C.15.12 – juris = BVerwGE 146, 12; U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris = BVerwGE 147, 8 = NVwZ 2013, 1489; EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681, Rn. 278, 282 f.) verletzen humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ seien. Dieses Kriterium sei angemessen, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf die Armut zurückzuführen seien oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen könne – wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führten – eine Verletzung darin zu sehen sein, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelinge, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Zu berücksichtigen seien dabei auch seine Verletzbarkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung seiner Lage in angemessener Zeit. Im Anschluss hieran stellt das Bundesverwaltungsgericht darauf ab, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen sei, verletze die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergebe, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK annehmen zu können. Denn die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Anderes gilt nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris, Rn. 6 m.w.N. und Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR). Da eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen nur in außergewöhnlichen Fällen angenommen werden kann, ist nach dem Bundesverwaltungsgericht ein sehr hohes Gefährdungsniveau zu fordern. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechenden humanitären Gründe zwingend sind (so BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris, Rn. 10).
Die humanitäre Lage und die Lebensbedingungen, die der Kläger in Afghanistan zu erwarten hat, sind nicht derart schlecht, dass davon ausgegangen werden müsste, der Kläger habe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung zu befürchten. Trotz der sich aus den verwerteten Erkenntnisquellen (vgl. unter anderem Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 16.7.2020, Seite 22 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation eingefügt am 21.7.2020, Seite 333 ff.; EASO, Country of Origin Information Report, Key socio-economic indicators, August 2017, Seite 19 ff.; EASO, Afghanistan Security Situation, Country of Origin Information Report, September 2020, Seite 43 ff; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update, 30.9.2020, Seite 15 ff.; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, Seite 21ff.) ergebenden desolaten Sicherheits- und Versorgungslage kann nämlich nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer in Afghanistan alsbald in existenzielle Gefahr gerät. Zwar weist der UNHCR darauf hin, dass die traditionell erweiterten Familien- und Gemeinschaftsstrukturen der afghanischen Gesellschaft – insbesondere in ländlichen Gebieten, in denen die Infrastruktur nicht so entwickelt ist – weiterhin den vorwiegenden Schutzmechanismus bieten und insbesondere rückkehrende Familien ohne männlichen Familienvorstand auf diese familiären Strukturen und Verbindungen zum Zweck der Sicherheit, des Zugangs zur Unterkunft und eines angemessenen Niveaus des Lebensunterhalts angewiesen seien. Alleinstehende Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter haben aber nach Einschätzung des UNHCR auch ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft insbesondere in städtischen Gebieten mit entwickelter Infrastruktur und unter effektiver Kontrolle der Regierung die Chance ihr Auskommen zu finden (vgl. zum Ganzen: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016, S. 99). Daran hat sich auch durch die Neufassung der UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018 nichts geändert. Zwar mag sich die Situation in Kabul sowie in anderen Provinzen der Nord- und Ostregion auch im Hinblick auf die große Zahl von Binnenflüchtlingen und Rückkehrern insbesondere aus Pakistan oder dem Iran in letzter Zeit zugespitzt haben; dem stehen aber auch Gebiete gegenüber, die vom jüngsten Anstieg der Rückkehrbewegung wenig bis kaum betroffen waren (vgl. UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des Deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016).
Es ist auch nicht zu erwarten, dass dem Kläger allein aufgrund seiner Rückkehr aus dem westlichen Ausland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht, weil ihm durch seine Rückkehr aus Europa spezifische Sicherheitsrisiken drohen oder es dem Kläger allein aufgrund seiner Rückkehr aus Europa und der damit verbundenen Besonderheiten nicht möglich ist, seine Existenz zu sichern.
Auch wenn die humanitäre Lage in Afghanistan insbesondere auch für Rückkehrer prekär ist, so lässt sich dennoch nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit prognostizieren, dass ein Rückkehrer, wie der Kläger, in absehbarer Zeit in existenzielle Gefahr gerät (ausführlich und m.w.N. zu den spezifischen Schwierigkeiten, aber auch der Unterstützung von Rückkehrern VGH BaWü, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 -, juris Rn. 62 ff., Rn. 89ff; VGH BaWü, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 1729/17 -, juris Rn. 149 ff., 331 ff.). An dieser Einschätzung ändert auch die aktuelle Studie von S. (Asylmagazin 2019, S. 276 ff.) nichts. Die Studie stützt sich auf eine Befragung von weniger als 50 Personen und damit auf eine geringe Anzahl von dokumentierten Einzelfällen angesichts der hohen Zahl der Rückkehrer aus dem Westen. Daraus kann nicht der Schluss gezogen werden, dass typischerweise Rückkehrer aus Europa von existenzieller Not betroffen wären, weil sie etwa stets von sozialen Netzwerken und damit Zugang zu Unterkunft und Arbeit ausgeschlossen wären.
Ebenso wenig kann anhand der geschilderten Einzelbeispiele in relativ geringer Anzahl darauf geschlossen werden, dass Rückkehrer aus Europa typischerweise einem höheren Sicherheitsrisiko ausgesetzt sind. Das Auswärtige Amt weist in seinem Lagebericht vom Juni 2020 (S. 24 f.) zwar daraufhin, dass Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen werden, jedoch keine Fälle bekannt seien, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten gewesen seien. Der UNHCR berichtet zwar von einzelnen Fällen, in denen Rückkehrer gewaltsamen Angriffen ausgesetzt waren (UNHCR – Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 52). Auch EASO berichtet von einzelnen, kaum dokumentierten Vorfällen, stellt aber fest, dass diese jedenfalls nicht von staatlichen Akteuren ausgehen, schwer zu verifizieren und zu quantifizieren sind und häufig unklar ist, ob Grund hierfür wirklich allein ein Aufenthalt im Ausland war (EASO Informationsbericht über das Herkunftsland. Afghanistan. Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 103 ff.). Nichts substanziell anderes ist auch dem Stahlmann-Gutachten vom 28.3.2018 (S. 312 ff.) oder der Studie von S. (Asylmagazin 2019, S. 276 ff.) zu entnehmen. Diese allenfalls wenigen dokumentierten Fälle von Rechtsgutsbeeinträchtigungen weisen jedoch – auch unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer – keine solche Häufigkeit auf, dass jeder einzelne Asylrückkehrer daraus die begründete Furcht herleiten kann, selbst alsbald ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden, sich somit jeder von ihnen ständig der Gefährdung an Leib, Leben oder persönlicher Freiheit ausgesetzt sehen kann.
Dies gilt auch unter Berücksichtigung der aktuellen Covid-19 Pandemie (vgl. hierzu auch BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004, juris, Rn. 43 ff; VG München, B.v. 7.8.2020 – M 26a S 20.30506 – juris; VG Würzburg, U.v. 2.9.2020 – W 1 K 20.30872 – juris). Dadurch haben sich die Lebensverhältnisse insbesondere in Kabul als Zielort der Abschiebung aktuell nochmals verschlechtert.
Infolge von Behinderungen im inländischen Handelsverkehr und von Panikkäufen in den großen urbanen Zentren kam es zu Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel. So ist der Weizenpreis zwischen 14.3.2020 und 21.10.2020 um 10% gestiegen, der Preis für Hülsenfrüchte um 24%, für Zucker um 20%, für Speiseöl um 27% und für Reis um 21% (OCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19, No. 81, 22.10.2020). Derzeit bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Preiserhöhungen auf diesem Niveau dauerhaft stabilisieren. So können Nahrungsmittel und Versorgungsgüter nach Erweiterung der Grenzöffnungen zu Pakistan wieder verstärkt nach Afghanistan geliefert werden (OCHA, Afghanistan Brief COVID-19, Nr. 46, 21.5.2020, S. 3; so auch OCHA, Afghanistan Brief COVID-19, Nr. 52, 11.6.2020, S. 3). Auch die Grenzen nach Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan sind für den Güterverkehr geöffnet (OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 31.8.2020, S. 2 f; OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19, Nr. 65, 26.7.2020, S. 2). Außerdem trägt Obst und Gemüse der Saison aus lokaler Ernte zur Versorgung der Bevölkerung bei. Hierfür sollen die Preise zum Teil auch gefallen sein (OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 10.6.2020, S. 6). Zusätzlich gibt es zur Linderung der akuten Not Zuteilung von Nahrungsmitteln etwa durch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, durch das zwischen dem 1.3.2020 und dem 11.10.2020 mehr als 5 Millionen Menschen versorgt wurden (OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 15.10.2020, S. 7). Für die knapp 10 Millionen Afghanen, die von Armut und Nahrungsmittelknappheit betroffen sind, sieht das UN-Programm zur Koordinierung humanitärer Hilfe mehr als 730 Millionen Dollar vor (www.tagesschau.de; Coronavirus in Afghanistan, Mit dem Virus droht der Hunger, Stand 3.5.2020). Die afghanische Regierung hat am 18.7.2020 das Programm Dastarkhan-e-Milli angekündigt, im Rahmen dessen sie in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen will, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.7.2020, S. 8 f).
Es gilt nach wie vor offiziell ein landesweiter „lockdown“. Insgesamt und angesichts der wirtschaftlichen Gegebenheiten in Afghanistan ist aber nicht davon auszugehen, dass Ausgangssperren und ähnliche Beschränkungen dauerhaft aufrecht erhalten bleiben. Ein großer Teil der Bevölkerung ist darauf angewiesen, als Tagelöhner seinen Lebensunterhalt zu verdienen, was durch die Maßnahme erheblich erschwert oder unmöglich gemacht wird. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.7.2020, S. 14 f.). Tatsächlich werden die Auflagen und Empfehlungen zur Eindämmung des Virus oft nicht befolgt und ihre Einhaltung nicht mehr kontrolliert (OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19, Nr. 71, 31.8.2020, S. 3). In den meisten Städten haben Läden und Restaurants geöffnet (OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19, Nr. 65, 26.7.2020, S. 1; BAMF, Briefing Notes, 27.7.2020, S. 2)
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.7.2020, S. 15). Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Der Verkehr in den Städten hat sich wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.7.2020, S. 11). Nach einer dreimonatigen Pause wurden die Inlandsflüge wieder aufgenommen. Auch internationale Flugverbindungen werden bedient (OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19, Nr. 65, 26.7.2020, S. 3; OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19, Nr. 71, 31.8.2020, S. 3; BAMF, Briefing Notes, 27.7.2020, S. 2).
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei einer möglichen Ansteckung in Afghanistan mit dem Corona-Virus mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine gesundheitsbedingte existentielle Notlage geraten würde, auch wenn sich die Covid-19 Pandemie in Afghanistan zusehends ausbreitet. Zum 8.11.2020 waren in Afghanistan bereits 42.033 Personen bestätigt infiziert und sind 1.556 Personen an Covid-19 verstorben (WHO, Corona Virus Disease (COVID-19) Weekly Epidemiological Update, 10.11.2020, abgerufen am 14.11.2020 unter https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports). Von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen. Der Kläger gehört aber weder den besonders von einem schweren Verlauf betroffenen Alterskohorten an, noch leidet er unter relevanten Vorerkrankungen. Auch für Afghanistan ergibt die Erkenntnislage, dass die Kriterien fortgeschrittenes Alter und Vorerkrankungen entscheidend für das individuelle Risiko eines schweren bzw. tödlichen Verlaufs einer Covid-19 Erkrankung sind. Von den bis zum 04.05.2020 dokumentierten 104 an Covid-19 Verstorbenen in Afghanistan litten 74 an mindestens einer Vorerkrankung (OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 6.5.2020, S. 1). Weiter ereignete sich bisher der Großteil der Todesfälle in der Altersgruppe 50-79 Jahre (OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 15.10.2020, S. 1), der der Kläger nicht angehört.
Etwas anderes ergibt sich für die Situation des hiesigen Klägers auch nicht aus der Stellungnahme von Frau S. mit dem Titel „Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener vom 27.3.2020. Insoweit schließt sich das Gericht den überzeugenden Ausführungen des VG München (U.v. 21.4.2020 – M 16 K 17.41340) an: Soweit es in der Stellungnahme Stahlmanns heißt, Rückkehrer aus Europa gälten aus Sicht lokaler Ärzte als besonders vulnerabel, wird dies fachlich nicht unterlegt. Abgesehen davon erscheint diese Einschätzung auch deswegen nicht belastbar, weil Frau S. selbst offen in Zweifel zieht, ob ihre Gesprächspartner ausreichendes medizinisches Wissen über die Krankheit haben. Soweit Frau S. die Gefahr der Stigmatisierung von Rückkehrern sieht, baut dies auf einer Annahme auf, die so jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht tragfähig ist (vgl. EASO, Afghanistan. Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 103ff.). Abgesehen davon kann das Gericht auch im Allgemeinen nicht erkennen, dass die von Frau S. widergegebenen Eindrücke repräsentativ und belastbar sind (vgl. dazu auch BayVGH, B.v. 6.12.2019 – 13a ZB 19.34056 – juris, Rn. 15). Schließlich ist aber auch nicht ersichtlich, dass die von Frau S. abstrakt beschriebenen Gefahren auf die individuelle Situation des Klägers übertragen werden können. Dies gilt nach Ansicht des Gerichts auch für die Darstellung von Frau S., dass die Teehäuser, in denen auch einzelne rückkehrende Afghanen unterkommen können, sukzessive schließen würden.
Dabei kann der Kläger auch auf Rückkehrhilfen zurückgreifen. Mit Stand 13.5.2020 sind IOM-Rückkehrprojekte auch weiterhin in Afghanistan operativ (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 18.05.2020, S. 10).
Insgesamt kann das Gericht nicht erkennen, dass für den Kläger ganz außergewöhnliche Umstände vorliegen, die seiner Rückkehr entgegenstehen. Auch unter Betrachtung seiner individuellen Lebensumstände liegt kein außergewöhnlicher Fall vor, in dem allein aufgrund der humanitären Umstände eine Verletzung des Art. 3 EMRK droht und ein Abschiebungsverbot damit zwingend anzuordnen wäre.
Der Kläger ist ein junger, arbeitsfähiger Mann, der in Afghanistan 6 Jahre zur Schule gegangen ist. Auch hat er nach eigenen Angaben in Afghanistan bereits praktische berufliche Erfahrungen gesammelt, indem er seinen Brüdern beim Autowaschen geholfen hat. In Deutschland hat der Kläger deutsch gelernt, die Berufsfachschule besucht und arbeitet zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung seit einem Jahr als Lagerhelfer im Versand.
Ohne dass es rechtlich noch darauf ankäme, ist zu erwähnen, dass der Kläger auch noch über einen Onkel in Afghanistan verfügt, der ihm auch seine Ausreise finanziert hat. Weiter lebt noch seine Mutter dort, die ihm zwar seinen Lebensunterhalt nicht finanzieren können wird, ihm jedoch zunächst Obdach wird bieten können. Üblicherweise halten afghanische Familienmitglieder auch aus dem Ausland heraus guten Kontakt untereinander (EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan Networks, Januar 2018, S. 23). Es ist daher davon auszugehen, dass der Kontakt zu den Familienmitgliedern in Afghanistan entweder noch besteht oder wieder aufgenommen werden kann. Nach afghanischer Tradition ist es nicht vorstellbar, einem nahen Verwandten nicht zu helfen, wenn die Alternative ein Leben auf der Straße ist (EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan Networks, Januar 2018, S. 13). Daher ist davon auszugehen, dass der Kläger im Bedarfsfall von seinem familiären Netzwerk unterstützt wird.
Bei dieser Ausgangslage ist davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr ausreichende Möglichkeiten hat, sein Existenzminimum zumindest so weit zu sichern, dass eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht zu erwarten ist. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung (sogar) davon aus, dass es aus dem europäischen Ausland zurückkehrenden, alleinstehenden, männlichen, arbeitsfähigen, afghanischen Staatsangehörigen auch ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne familiären Rückhalt möglich ist, sich durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu sichern und sich allmählich (wieder) in die afghanische Gesellschaft zu integrieren (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004, juris; BayVGH, U.v. 6.7.2020 – 13a B 18.32817 – juris; BayVGH, U.v. 14.11.2019 – Az. 13a B 19.33359 – juris; BayVGH, B.v. 23.10.2019 – 13a ZB 19.32670 – juris; BayVGH, B.v. 5.8.2019 – 13a ZB 19.32217 – juris; BayVGH, B.v. 28.3.2019 – 13a ZB 18.33210 -, juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 25.2.2019 – 13a ZB 18.32487 – juris Rn. 5 m.w.N; B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris; B.v. 8.11.2017 – 13a ZB 17.30615 – juris; B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309; so auch VGH BaWü, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 -, juris; VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris; U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 470 – juris).
b) Ferner besteht auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Die Gewährung von Abschiebeschutz nach dieser Bestimmung setzt grundsätzlich das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Auch die Gefahren, die durch die Corona-Pandemie verursacht werden, erfüllen nicht die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Sie sind, da sie unterschiedslos alle Bewohner Afghanistans betreffen, gemäß § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 GG gebieten danach die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn einer extremen Lebensgefahr oder einer extremen Gefahr der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit entgegen gewirkt werden muss, was dann der Fall ist, wenn der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert oder erheblichen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt sein würde (BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9.95 – juris, Rn. 14 = BVerwGE 99, 324, U.v. 19.11.1996 – 1 C 6.95 – juris, Rn. 34 = BVerwGE 102, 249 sowie U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris, Rn. 16 = BVerwGE 115, 1). Eine derartige Gefahrensituation kann sich grundsätzlich auch aus den harten Existenzbedingungen und der Versorgungslage im Herkunftsstaat ergeben.
Eine derartige Gefahr besteht jedoch nicht, was bereits oben unter 4a) dargestellt wurde.
5. Die in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung ist gleichfalls nicht zu beanstanden. Sie beruht auf den §§ 34 Abs. 1 AsylG, 59 AufenthG. Die dem Kläger gesetzte Ausreisefrist von 30 Tagen beruht auf § 38 Abs. 1 AsylG.
6. Die in Ziffer 6 des angegriffenen Bescheids ausgesprochene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 30 Monate ist gleichfalls rechtmäßig. Die Beklagte musste nach den §§ 11 Abs. 2 Sätze 1 und 4, 75 Nr. 12 AufenthG eine Entscheidung über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1
AufenthG treffen. Über die Länge der Frist wird gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Ermessensfehler sind hier nicht ersichtlich. Grundsätzlich darf die Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nicht überschreiten. Hier hat das Bundesamt diese maximale Frist zur Hälfte ausgeschöpft, was nicht zu beanstanden ist. Besonderer Umstände, die eine kürzere Frist gebieten würden, sind vom Kläger weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.
Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.


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