Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Familienstreit

Aktenzeichen  W 4 K 18.30595

Datum:
23.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 44146
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4

 

Leitsatz

1. Ein Konflikt innerhalb des Familienverbundes, der sich aus einer Eheschließung von Angehörigen verschiedener Familienclans ergibt, knüpft nicht an asylrelevante Tatbestände an, die eine Flüchtlingseigenschaft begründen. (Rn. 6 – 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. März 2018 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Das Gericht konnte im vorliegenden Fall über die Klage entscheiden, ohne dass das Bundesamt an der mündlichen Verhandlung am 23. November 2018 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurde bei der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage hat nur teilweise Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Anerkennung als Asylberechtigte. Hingegen besteht ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, so dass der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. März 2018, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht, aufzuheben war (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Im Einzelnen:
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und der Anerkennung als Asylberechtigte (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Voraussetzungen der Zuerkennung liegen bei der Klägerin nicht vor.
In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559 – Genfer Flüchtlingskonvention – GFK) darf ein Ausländer gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich
1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,
2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 und 3 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG).
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, des Art. 1 A GFK und der Qualifikationsrichtlinie (QRL) gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG; Art. 9 Abs. 1 lit. a QRL), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG; Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL).
Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG; Art. 9 Abs. 3 QRL).
Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG; Art. 10 Abs. 2 QRL).
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“). Dieser gilt für Anerkennung und Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gleichermaßen und entspricht demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris Rn. 20/23).
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 QRL zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93).
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG i.V.m. Art. 8 QRL nicht zuerkannt, wenn er (Nr. 1) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und (Nr. 2) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind im Falle der Klägerin die Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nicht gegeben. Die Klägerin hat im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt wie auch in der mündlichen Verhandlung als Fluchtgrund die von ihr beabsichtigte Eheschließung mit einem Mann vorgetragen, der einem Minderheitenclan angehört, wohingegen sie einem Mehrheitsclan zugehörig ist. Aufgrund dieser beabsichtigten Eheschließung sei es dann zu Auseinandersetzungen, nicht nur zwischen ihren Familien, sondern auch zwischen ihr und ihrer Familie gekommen. Sie sei einen Monat gefangen gehalten worden und ihre Mutter habe nach der Hochzeit in Äthiopien jeglichen Kontakt mit ihr abgebrochen. Damit ist die Klägerin aber nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe geflüchtet, so dass weder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG, noch die Anerkennung als Asylberechtigte in Betracht kommen kann. Die Klage war dem gemäß insoweit abzuweisen.
Allerdings droht der Klägerin in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 2 AufenthG. Nach diesen Vorschriften ist ein Ausländer subsidiäre Schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Für die Feststellung des drohenden ernsthaften Schadens gilt der bereits genannte Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVH, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat. Ein solcher Umstand stellt aber einen ernsthaften Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Die Zuerkennung subsidiären Schutzes darf nicht aus schwerwiegenden Gründen im Sinne von § 4 Abs. 2 AsylG ausgeschlossen sein. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die §§ 3c – 3e AsylG entsprechend. Nach § 3e Abs. 1 AsylG – in entsprechender Anwendung – wird dem Ausländer daher kein subsidiärer Schutz gewährt, wenn ihm in einem Teil seines Herkunftslandes keine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens droht und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Unter Berücksichtigung dessen ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass der Klägerin in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden durch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) droht. Diese Erkenntnis entnimmt das Gericht zunächst dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 12.1.2018. Danach besteht gerade bei Mischehen in Somalia eine gesellschaftliche Diskriminierung, da Mehrheitsclans Mischehen mit Angehörigen berufsständiger Gruppen meist nicht akzeptieren würden. Als besonders problematisch wird es angesehen, wenn – wie vorliegend – eine Mehrheits-Frau einen Minderheiten-Mann heiratet. Nichts anderes besagt der Fokus Somalia des Schweizerischen Justiz – und Polizeidepartements EJPD, Staatssekretariat für Migration SEM, Sektion Analysen, vom 31. Mai 2017. Danach würden Mehrheitsclans Mischehen mit Angehörigen berufsständiger Gruppen meist nicht akzeptieren. Als besonders problematisch werde es angesehen, wenn eine Mehrheits-Frau einen Minderheiten-Mann heirate, da dann ihre Kinder der Minderheit angehören würden. Der Druck auf Mischehen sei im Land Somalia sehr ausgeprägt. Den Mehrheitsclans sei die „Reinheit“ wichtig. Komme eine Mischehe zustande, wie dies vorliegend der Fall gewesen ist, komme es häufig vor, dass die Familienangehörigen auf der Seite des Mehrheitsclans die betroffene Person verstoßen. Sie besuchten sie nicht mehr, kümmerten sich nicht um ihre Kinder oder würden den Kontakt ganz abbrechen.
Unter Berücksichtigung dessen ist im Falle der Rückkehr der Klägerin nach Somalia eine ernsthafte individuelle Bedrohung wahrscheinlich.
Eine inländische Fluchtalternative gemäß § 3e AsylG ist aufgrund der obigen in das Verfahren eingeführten Auskünfte nicht erkennbar.
Demgemäß war die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. März 2018 war, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht, aufzuheben.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtkostenfrei. Die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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