Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf Zuweisung eines real verfügbaren Betreuungsplatzes im einstweiligen Rechtsschutzverfahren

Aktenzeichen  Au 3 E 19.2161

Datum:
19.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 3478
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
SGB VIII § 24 Abs. 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung den Nachweis eines bedarfsentsprechenden Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung.
Der Antragsteller, geboren am … 2015, zog mit seinen Eltern zum 1. Oktober 2019 nach … und wurde seitdem in der städtischen Kindertagesstätte … betreut. Mit Schreiben vom 2. Dezember 2019 wurde der Betreuungsvertrag durch die Stadt … zum 31. Dezember 2019 gekündigt. Begründet wurde dies damit, dass der Antragsteller wiederholt, massiv und tätlich den täglichen Ablauf im Kindergarten gestört habe, sodass die anderen Kinder und das pädagogische Personal sich gefährdet gefühlt hätten.
In einem Telefonat vom 9. Januar 2020 teilte der Antragsgegner mit, dass man dem Antragsteller einen Platz in einem Waldkindergarten angeboten habe. Allerdings wäre insoweit ein Individualbegleiter nötig. In der Stadt * sei kein freier Kindergartenplatz vorhanden.
In einem Telefonat vom 9. Januar 2020 erklärte der Bezirk, dass die Verbescheidung eines Antrags auf einen Individualbegleiter etwa drei bis vier Wochen dauere. Der Antragsteller müsse sich daraufhin selbst einen Individualbegleiter suchen. Dies würde weitere Zeit in Anspruch nehmen. Aus diesem Grund habe es der Antragsteller abgelehnt, einen Antrag zu stellen.
Mit Schreiben vom 13. Januar 2020 teilte der Antragsgegner mit, dass dem Antragsteller am 10. Januar 2020 angeboten worden sei, mit der Leitung des Kindergartens … in … Kontakt aufzunehmen. Außer an der Außenstelle des Kindergartens … gebe es derzeit keinen freien Kindergartenplatz in der Nähe des Wohnortes des Antragstellers. Allerdings gebe es weitere Betreuungsmöglichkeiten im Rahmen der Großtagespflege und der Tagespflege. Für Notfälle würden hier auch kurzfristige Plätze bereitgehalten, welche jedoch nicht dauerhaft belegt werden könnten.
Mit Schreiben vom 22. Januar 2020 erklärte der Antragsteller, dass der Platz in der Einrichtung … in … erst ab März 2020 zur Verfügung stehe. Die Wartezeit von rund eineinhalb Monaten sei unter Berücksichtigung des pädagogischen Sonderbedarfs des Antragstellers weder zumutbar noch vertretbar. Eine Betreuung durch Tagesmütter bzw. eine Tagespflegestelle bis März 2020 lehnte er ab. Eine solche sei wegen der erhöhten Betreuungsanforderung und des fortgeschrittenen Alters des Antragstellers nicht möglich.
Am 30. Januar 2020 reichte der Antragsteller eine ärztliche Stellungnahme zur Unterbringung in einer Großtagespflege ein. Danach sei es für den Antragsteller wichtig, zur Vorbereitung auf die Schule, im Bereich der sozialen Kompetenz, Frustrationstoleranz und Impulskontrolle unterstützt zu werden. Hierfür seien ausreichend gleichaltrige Kinder in der Gruppe wichtig. Eine Betreuung in der Großtagespflege sei deshalb ungünstig. Empfehlenswert sei ein Kindergartenplatz mit Integrationshilfe.
In einer weiteren ärztlichen Stellungnahme vom 4. Februar 2020 wurde beim Antragsteller eine seelische Behinderung diagnostiziert, die einen Hilfebedarf nach § 35a SGB VIII auslöse. Es bestehe für den Antragsteller ein großer Bedarf an zusätzlicher Förderung in den Bereichen der Frustrationstoleranz, Impulskontrolle und sozialer Kompetenz. Neben sozialtherapeutischen Interventionen sei eine Integration in eine gleichaltrige Kindergartengruppe, mit Unterstützung durch eine Integrationshilfe, notwendig, um einen Schulbesuch gewährleisten zu können. Im Moment sei eine Regelbeschulung gefährdet, wenn die geeigneten Interventionen in guter Vernetzung mit Elternhaus und Sozialpsychiatrischer Versorgung nicht angeboten würden. Abschließend wurde eine Wiedervorstellung zur Feststellung der Effektivität der Maßnahme in einem Jahr empfohlen.
Am 18. Dezember 2019 stellte der Antragsteller einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Zur Begründung trägt er vor, dass der Anordnungsanspruch nach § 24 Abs. 3 SGB VIII nicht nur im Rahmen der vorhandenen Kapazität bestehe, sondern der Träger der Jugendhilfe verpflichtet sei, die erforderlichen Kapazitäten zu schaffen. Auch ein Anordnungsgrund sei gegeben, weil die Eltern ohne den Betreuungsplatz ihre Berufstätigkeit nicht fortführen bzw. wieder aufnehmen könnten. Zudem laufe der Antragsteller Gefahr, die altersgemäße, frühkindliche Förderung nicht zu erhalten. Ob die Betreuung zurzeit von den Eltern sichergestellt werden könne, spiele dagegen keine Rolle.
Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu verpflichten, dem Antragsteller einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung im Umfang von durchschnittlich 9 Stunden werktäglich zum 1. Januar 2020 nachzuweisen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung trägt er vor, dass der Antragsteller zu keiner Zeit vor dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Antragsgegner Kontakt aufgenommen habe, um den Bedarf an einem Betreuungsplatz anzumelden. Umgehend nach Eingang des Antrags nach § 123 VwGO habe sich der Antragsgegner bemüht, einen Betreuungsplatz zu finden. Hätte sich der Antragsteller nach der Kündigung direkt mit dem Antragsgegner in Verbindung gesetzt, hätte man auch ohne den gerichtlichen Eilantrag eine Lösung finden können, so dass dieser nicht erforderlich gewesen sei. Im Übrigen bestünden im Landkreis * ausreichend Plätze in Kindertageseinrichtungen, so dass der Antragsgegner nicht verpflichtet sei, weitere Kapazitäten zu schaffen. Es bestehe auch keine Gefahr, dass der Antragsteller nicht die altersgemäße Förderung erhalte, da die kurzfristige Betreuung durch die Eltern sich nicht schädlich auf die Entwicklung des Antragstellers auswirke.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg, weil der Antragsteller kein Rechtsschutzbedürfnis mehr besitzt.
1. Eine Entscheidung konnte nur noch für künftige Tage ergehen. Der Anspruch auf Zuweisung eines real verfügbaren Betreuungsplatzes erledigt sich nämlich mit jedem Tag, an dem der Antragsgegner der Verpflichtung aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nicht nachkommt, so dass insoweit nur noch Sekundäransprüche in Betracht kommen (vgl. VGH Mannheim, B.v. 18.7.2018 – 12 S 643/18 – BeckRS Rn. 19).
2. Für den Zeitraum bis zum 1. März 2020 besteht kein Anordnungsgrund mehr, weil der Antragsteller das zumutbare Angebot, bis zur Aufnahme in den Kindergarten in * vorübergehend von einer Tagesmutter bzw. in einer Großtagespflege betreut zu werden, nicht angenommen hat. Dies führt zum Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses (vgl. zu den Rechtsfolgen der Nicht-Annahme eines zumutbaren Betreuungsplatzes VG München, B.v. 5.9.2016 – M 18 E 16.3360 – BeckRS).
a) Gemäß § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII kann das Kind bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in der Kindertagespflege gefördert werden. Die Verhaltensauffälligkeit des Antragstellers begründet einen solchen besonderen Bedarf. Insbesondere stehen die am 3. und 5. Februar 2020 eingereichten ärztlichen Stellungnahmen nicht entgegen. Die darin langfristig gesehene – die Wiedervorstellung wurde erst in einem Jahr für erforderlich erachtet – Notwendigkeit der Integration in eine gleichaltrige Kindergartengruppe mit Unterstützung durch eine Integrationshilfe ist ab dem 1. März 2020 vollständig erfüllt. Ab diesem Zeitpunkt wird der Antragsteller in die Integrationsgruppe des Kindergartens in * aufgenommen und erhält damit gerade die von den ärztlichen Stellungnahmen geforderte besondere Förderung. Den Stellungnahmen ist dagegen gerade nicht zu entnehmen, dass die nur kurzfristige Betreuung in einer Kindertagespflege ungünstige Folgen haben könnte. Darüber hinaus sind die ärztlichen Stellungnahmen schon nicht geeignet, den konkreten Bedarf glaubhaft zu machen. Gemäß § 35a Abs. 1a SGB VIII haben Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie nämlich nur das Abweichen der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand festzustellen. Die Entscheidung über die im Einzelfall geeignete und notwendige Hilfe obliegt dagegen dem Jugendamt. Es ist auch im Hinblick auf dessen pädagogischen Beurteilungsspielraum nicht zu beanstanden, dass die Betreuung für wenige Wochen in einer Kindertagespflege gewährleistet werden sollte.
b) Darüber hinaus sollte die Betreuung ergänzend zu der Aufnahme in der integrativen Kindergartengruppe ab dem 1. März 2020 erfolgen. Dieser Alternative kommt zwar vor allem eine Funktion zu, wenn die Öffnungszeiten der Einrichtung noch nicht bedarfsgerecht ausgestaltet sind (vgl. BT-Drs. 16/9299 S. 15). Insoweit steht es im Ermessen des Jugendhilfeträgers, ob er über den Anspruch nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII auf nur halbtätige Betreuung hinaus ergänzend Tagespflege leistet (OVG Lüneburg, B.v. 19.12.2018 – 10 ME 395/18 – BeckRS Rn. 9). Nach Ansicht der Kammer kommt eine Förderung in einer Kindertagespflege jedoch grundsätzlich auch dann in Betracht, wenn der Rechtsanspruch bei einem unvorhergesehenen Bedarf vorübergehend nur durch die Vermittlung einer Kindertagespflegeperson erfüllt werden kann (so ausdrücklich § 12 Abs. 4 NdsKiTaG). Auch diese „ergänzt“ die Betreuung auf dem erst später frei werdenden Kindergartenplatz. Kehrseite der unbedingten Gewährleistungspflicht des Jugendhilfeträgers ist nämlich, dass diesem auch ein Spielraum überlassen sein muss, wie er den Anspruch nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII gerade bei einem unvorhergesehenen Bedarf erfüllt. Ansonsten wäre die unbedingte Gewährleistungspflicht des § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII tatsächlich in unzulässiger Weise auf etwas Unmögliches gerichtet (mit diesem Argument einen Anordnungsanspruch bei Kapazitätserschöpfung generell ablehnend VG Sigmaringen, B.v. 23.1.2019 – 2 K 7453/18 – BeckRS Rn. 31 ff.).
3. Ab dem 1. März 2020 steht ein Betreuungsplatz in einem integrativen Kindergarten zur Verfügung, der dem Antrag des Antragstellers entspricht und damit den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vollständig erfüllt. Der Antragsteller hat diesen Betreuungsplatz auch angenommen, so dass ein Rechtsschutzbedürfnis nicht mehr gegeben ist.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO gerichtskostenfrei.


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