Verwaltungsrecht

Kein öffentliches Interesse an der Fortführung einer zurückgenommenen Popularklage mangels ausreichender Begründung

Aktenzeichen  Vf. 10-VII-15

Datum:
16.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 44485
Gerichtsart:
VerfGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verfassungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayEUG BayEUG Art. 54 III 2
BayMSO BayMSO §§ 48 I, 58 I Nr. 1, 64 I, III 1 Nr. 4, VI Nrn. 1 u. 4, 66 IX 2 Nr. 4
BayVerf BayVerf Art. 98 S. 4, 118 I, 118a
BayVfGHG BayVfGHG Art. 55 I 2

 

Leitsatz

1. Die Durchführung des Popularklageverfahrens ist nach Rücknahme der Popularklage nur dann gerechtfertigt, wenn eine verfassungsgerichtliche Klärung von Fragen, die den Gegenstand des Verfahrens bilden, im öffentlichen Interesse geboten erscheint (Fortführung von BayVerfGH BeckRS 2014, 45805). (redaktioneller Leitsatz)
2. Vorliegend ist dies zu verneinen, weil die Popularklage bei überschlägiger Bewertung als unsubstanziiert und damit als unzulässig anzusehen gewesen wäre. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Das Verfahren wird eingestellt.

Gründe

I. Gegenstand der Popularklage ist die Frage, ob Bestimmungen des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen und der Mittelschulordnung gegen Normen der Bayerischen Verfassung verstoßen.
Die angegriffene Regelung des Art. 54 Abs. 3 Satz 2 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl S. 414, ber. S. 632, BayRS 22301-K), das zuletzt durch Art. 9 a Abs. 18 des Gesetzes vom 22. Dezember 2015 (GVBl S. 458) geändert worden ist, hat folgenden Wortlaut:
Für die Bewertung der Prüfungsleistungen gilt Art. 52 Abs. 2 entsprechend; Regelungen über den Nachteilsausgleich sowie den Notenausgleich können in den Schulordnungen vorgesehen werden.
Art. 52 Abs. 2 BayEUG definiert insbesondere die einzelnen Notenstufen von sehr gut = 1 bis ungenügend = 6 und regelt Fälle, in denen Noten durch eine allgemeine Bewertung ersetzt werden können.
Die des Weiteren angegriffenen Bestimmungen – konkret § 48 Abs. 1, § 58 Abs. 1 Nr. 1, § 64 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 4, Abs. 6 Nrn. 1 und 4 sowie § 66 Abs. 9 Satz 2 Nr. 4 – der Schulordnung für die Mittelschulen in Bayern (Mittelschulordnung – MSO) vom 4. März 2013 (GVBl S. 116, BayRS 2232K), die zuletzt durch § 7 a Abs. 2 der Verordnung vom 11. September 2015 (GVBl S. 349) geändert worden ist, treffen Regelungen über den Nachteilsausgleich bei Schülerinnen und Schülern mit besonders ausgewiesenem sonderpädagogischem Förderbedarf im Zusammenhang mit der Durchführung und Bewertung der Abschlussprüfung.
1. Der Antragsteller hat gerügt, die genannten Rechtsnormen seien unvereinbar mit Art. 118 a, 128 Abs. 1 und Art. 129 Abs. 1 BV, da sie für Autisten unangemessene Benachteiligungen darstellten. Dies gelte insbesondere für die Projektprüfung. Die Hälfte der Projektnote ergebe sich aus der Präsentation der Ergebnisse, einem fünfzehnminütigen Vortrag. Mündliche Prüfungen seien für Autisten ungeeignet. Mehrminütiges Sprechen in Form eines freien Vortrags ohne Pause könne von Autisten nicht als Leistung erbracht werden. Dies führe dazu, dass trotz guter schriftlicher Leistungen die mündlichen Leistungen durchgehend schlecht seien und sich dadurch nicht nur die Gesamtnote verschlechtere, sondern auch der Abschluss gefährdet sei. In Art. 54 Abs. 3 Satz 2 BayEUG sei der Nachteilsausgleich gesetzlich unzureichend verankert.
2. Der Bayerische Landtag hat die Abweisung der Popularklage als unbegründet beantragt.
Die Bayerische Staatsregierung hält die Popularklage jedenfalls für unbegründet; das verfassungsrechtliche Gebot der Gewährung eines sachgerechten Nachteilsausgleichs für die Abschlussprüfungen an Mittelschulen sei verfassungskonform umgesetzt worden.
3. Der Antragsteller hat die Popularklage mit Schriftsatz vom 28. Januar 2016 zurückgenommen.
Ein Antrag nach Art. 55 Abs. 5 Halbsatz 2 VfGHG auf Entscheidung der Popularklage wurde nicht gestellt.
II. Das Verfahren ist einzustellen.
Das Popularklageverfahren nach Art. 98 Satz 4 BV dient dem Schutz der Grundrechte als Institution. Der Verfassungsgerichtshof hat deshalb nach Rücknahme der Popularklage darüber zu befinden, ob ein öffentliches Interesse an der Fortführung des Verfahrens besteht. Die Durchführung des Verfahrens ist nur dann gerechtfertigt, wenn eine verfassungsgerichtliche Klärung von Fragen, die den Gegenstand des Verfahrens bilden, im öffentlichen Interesse geboten erscheint (Art. 55 Abs. 5 Halbsatz 1 VfGHG; vgl. VerfGH vom 2.12.1997 VerfGHE 50, 268/270; vom 7.12.2009 – Vf. 2-VII-08 – juris Rn. 9; vom 19.12.2013 BayVBl 2014, 284/285).
Im vorliegenden Fall ist ein solches öffentliches Interesse zu verneinen.
Bei der Bewertung schulischer Leistungen von Schülern mit bestimmten körperlichen oder geistigen Schwächen unterscheidet die fachgerichtliche Rechtsprechung zwischen den Komplexen „Notenschutz“ und „Nachteilsausgleich“. Als Notenschutz werden alle Maßnahmen angesehen, die auf Bevorzugung des einzelnen Prüflings gerichtet sind, weil es diesem subjektiv unmöglich ist, bestimmten Leistungsanforderungen zu genügen; auf den Notenschutz besteht regelmäßig kein Anspruch. Demgegenüber betrifft der Nachteilsausgleich den Fall, dass der Prüfling unter Geltung der einheitlichen Prüfungsbedingungen etwa aufgrund einer Behinderung ohne Ausgleichsmaßnahmen – wie z. B. die Verlängerung der Bearbeitungszeit – Schwierigkeiten hat, seine vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten darzustellen. Beide Institute stehen in einem Spannungsverhältnis zum Gebot der Wahrung der Chancengleichheit (Art. 118 Abs. 1 BV) und zu dem Umstand, dass es hierdurch nicht zu einer Überkompensation des vorhandenen Defizits kommen darf (zum Ganzen vgl. BVerwG vom 29.7.2015 – 6 C 33.14 – juris Rn. 15 ff. und 20 ff.; zum Gebot der Wahrung der Chancengleichheit und der Vermeidung einer Überkompensation vgl. auch VerfGH vom 22.1.1981 VerfGHE 34, 14/25 f.).
Autismus wird eher dem Komplex des Notenschutzes zuzuordnen sein, weil es insoweit nicht darum geht, wegen einer vorhandenen Behinderung chancengleiche äußere Bedingungen für die Erfüllung der Leistungsanforderungen herzustellen. Vielmehr wird es einem an Autismus leidenden Prüfling von vornherein unmöglich sein, bestimmten Leistungsanforderungen zu genügen (vgl. BVerwG, a. a. O., juris Rn. 16 und 22).
Mit diesen inhaltlichen Fragen, insbesondere der verfassungsrechtlichen Herleitung der Rechtsposition eines Schülers in Bezug auf die gerügten Rechtsverletzungen und ihrer Auswirkung auf die angegriffenen Vorschriften des Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen und der Mittelschulordnung setzt sich die Popularklage allenfalls oberflächlich und jedenfalls nicht hinreichend substanziiert auseinander. Namentlich wäre neben Art. 118 a BV auch auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 118 Abs. 1 BV einzugehen gewesen. Sie verfehlt damit die Anforderungen des Art. 55 Abs. 1 Satz 2 VfGHG, wonach der Antragsteller dazulegen hat, inwiefern ein durch die Verfassung gewährleistetes Grundrecht verfassungswidrig eingeschränkt wird. Die Popularklage wäre deshalb bei überschlägiger Bewertung als unsubstanziiert und damit als unzulässig anzusehen gewesen (vgl. VerfGH vom 21.3.1989 VerfGHE 42, 34/36 f.). Art. 128 Abs. 1 und Art. 129 Abs. 1 BV enthalten darüber hinaus keine Grundrechte (zu Art. 128 Abs. 1 BV vgl. VerfGH vom 17.5.2006 VerfGHE 59, 63/79).
III. Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). Eine Auslagenerstattung zugunsten des Antragstellers (Art. 27 Abs. 5 VfGHG) ist nicht anzuordnen, weil die Popularklage bei überschlägiger Bewertung aus den unter II. dargestellten Gründen keinen Erfolg gehabt hätte (vgl. VerfGH vom 2.12.1997 VerfGHE 50, 268/271; BayVBl 2014, 284/285).


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