Verwaltungsrecht

Keine asylrelevante Vorverfolgung des Klägers in seinem Heimatland

Aktenzeichen  M 6 K 17.37821

Datum:
8.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 217
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Auch wer ohne eine asylrelevante Fluchtgeschichte oder sogar – nach eigenen Angaben – vor allem einer besseren Zukunftsperspektive wegen in die Bundesrepublik illegal einreist, kann von hier nicht in sein Heimatland abgeschoben werden, wenn er an einer schwerwiegenden Krankheit leidet, die dort nicht hinreichend oder für ihn erreichbar medizinisch oder medikamentös weiterbehandelt werden kann, sodass sich die Erkrankung wesentlich verschlechtert oder sogar Lebensgefahr (hier Suizidalität) bestünde. Das gilt nicht nur für Afghanistan, sondern für jedes Land der Erde und all seine an entsprechenden Krankheiten leidenden Staatsbürger. (Rn. 16)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5.4.2017 wird in den Nrn. 4-6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 5. April 2017 ist, soweit er noch angegriffen wird, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog).
1. Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Oktober 2017 entschieden werden, obwohl auf Seiten der Beklagten niemand erschienen ist. Die Beklagte wurde ausweislich der Niederschrift zum Termin ordnungsgemäß geladen und darauf hingewiesen, dass im Fall des Ausbleibens eines Beteiligten auch ohne diesen verhandelt und entschieden werden könne.
Es konnte nunmehr im schriftlichen Verfahren ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden, nachdem sich die Beklagte auf den ihr mit Verfügung vom 18. Dezember 2017 zugestellten Schriftsatz vom 15. Dezember 2017 nicht geäußert hat. Das Gericht hat ausreichend lange zum Zwecke der Gewährung rechtlichen Gehörs zugewartet.
2. Abschiebungsverbote hinsichtlich Afghanistan bestehen für den Kläger deshalb, weil nicht mit hinreichender Sicherheit aufklärbar ist, ob die diagnostizierte psychische Erkrankung, die laut der insoweit schlüssigen ärztlichen Bescheinigungen vorliegt, in Afghanistan angemessen würde behandelt werden können, woran zumindest ernstliche Zweifel bestehen. Zwar gibt es medizinische Versorgung auch auf dem Gebiet der Psychiatrie, diese ist aber massiv beeinträchtigt und durch wiederholte Angriffe von Aufständischen substantiell geschwächt. Zudem ist der Bedarf in einem von bewaffneten Auseinandersetzungen über Jahrzehnte gezeichneten Land immens. Ob der Kläger vor diesem Hintergrund zuverlässig und in angemessener Zeit Zugang zu einer dauerhaften, wenigstens ambulanten, psychiatrischen Betreuung hätte, ist nach Auswertung der ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zumindest fraglich. Zweifel dürfen in diesem konkreten Einzelfall auch wegen der Suizidalität des Klägers jedoch nicht verbleiben. Aber selbst wenn eine solche Behandlung grundsätzlich möglich sein sollte, so nur in großen Städten und mit erheblichen Hürden.
Ob die für den Kläger zwingend notwendigen Medikamente für ihn in seinem Heimatland hinreichend verfügbar und zugänglich sind, ist ebenfalls fraglich. Auch eigene Recherchen des Gerichts brachten hier keine hinreichende Klarheit, sodass im Zweifel für den Kläger zu entscheiden war. Das gilt umso mehr, als er nach Suizidversuch (wenn auch mit untauglichen Mitteln) für knapp drei Wochen in eine Fach-Interventionsklinik eingeliefert wurde und das gerichtsbekannt sehr erfahrene ärztliche Personal ihm eine weiterhin bestehende Suizidanfälligkeit bescheinigte, die unschwer mit der gestellten psychiatrischen Diagnose in Einklang zu bringen ist.
Daran ändert es nichts, dass der Kläger keine Fluchtgeschichte vorgebracht hat, die im asylrechtlichen Sinne geeignet gewesen wäre, ihm einen Schutzstatus als Flüchtling oder subsidiären Schutz zuzuerkennen. Ihm ging es wahrscheinlich vielmehr um eine bessere wirtschaftliche und persönliche Zukunft als diejenige in Afghanistan, wo immerhin noch seine 8-köpfige Kernfamilie samt Großfamilie lebt. Die Eltern, allen voran sein Vater, wegen dessen Militärangehörigkeit die Familie Probleme mit den Taliban gehabt haben soll, leben unverändert im Heimatland, wo man noch Ländereien besitzt. Wenn es, wie vom Kläger vorgetragen, zudem eine Familienfehde gegeben hat, so würde diese zu allererst unter den Familienoberhäuptern ausgetragen, sodann erst gegenüber weiteren männlichen Familienmitgliedern. Von Angriffen auf seinen Vater hat der Kläger nichts berichtet, auch er selbst sei nie angegriffen oder bedroht worden. Wenn er tatsächlich ein Baugeschäft gehabt haben sollte, hätte er dadurch mehr als genug Angriffsfläche etwa für die Taliban geboten und dieses erst gar nicht eröffnet, wenn er tatsächlich hätte mit Angriffen oder Sabotage rechnen müssen. Die Taliban wiederum hätten mehr als genug gute Gelegenheiten zu Angriffen auf den Kläger gehabt, wenn sie diesen denn hätten angreifen wollen.
Das überraschende Vorbringen in der mündlichen Verhandlung hat die Glaubwürdigkeit des klägerischen Vorbringens nicht erhöht. So gab der Kläger nun an, „nur“ als Mauerer gearbeitet zu haben und legte Bilder vor, die belegen sollen, dass sein Bruder im Herbst 2017 angeschossen wurde und drei Tage später den Verletzungen erlag. Die Familie habe zwischenzeitlich den Heimatort verlassen und plane die Ausreise nach Indien oder Pakistan. Was zu dieser Zuspitzung der Lage der Familie geführt haben soll, vermochte der Kläger nicht zu erklären, auch nicht, woran man sicher erkennen könnte, dass die Bilder seinen verstorbenen Bruder im Jahr 2017 zeigen und nicht beispielsweise seinen angeschossenen Bruder 2009 oder eine ganz andere Person. Letztlich kann die Frage der Glaubwürdigkeit des Klägers im vorliegenden Zusammenhang jedoch unentschieden bleiben.
Denn auch wer ohne jede asylrelevante Fluchtgeschichte in die Bundesrepublik illegal einreist, kann von hier nicht in sein Heimatland abgeschoben werden, wenn er nachweislich an einer schwerwiegenden Krankheit leidet, die dort nicht hinreichend oder für ihn erreichbar medizinisch oder medikamentös weiterbehandelt werden kann, sodass sich die Erkrankung wesentlich verschlechtert oder sogar Lebensgefahr bestünde. Das gilt nicht nur für Afghanistan, sondern für jedes Land der Erde und all seine an entsprechenden Krankheiten leidenden Staatsbürger. Das gilt hier auch, obwohl der Kläger weder bei seiner Anhörung beim Bundesamt noch bis zur mündlichen Verhandlung zu einer psychischen Erkrankung etwas vorgetragen hat. Der Feststellung von Abschiebungsverboten steht es schließlich auch nicht entgegen, wenn – wie hier – mangels Ausweispapieren – wie sehr häufig – die Identität des Asylbewerbers nicht geklärt ist. Auch wenn insgesamt massive Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Klägers bestehen, kann das die Feststellung von Abschiebungsverboten nicht hindern.
Es bleibt der Beklagten unbenommen, zu gegebener Zeit zu überprüfen, ob inzwischen die Versorgungslage mit ambulanter, psychiatrischer Betreuung und Medikamenten sich so gebessert hat, dass eine Rückführung des Klägers in Betracht gezogen werden kann, zumal wenn ihm ein größerer Vorrat der lange haltbaren Medikamente mitgegeben oder dessen Bezug vor Ort organisiert und sichergestellt würde.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.


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