Verwaltungsrecht

Keine Aufenthaltserlaubnis für einen heranwachsenden geduldeten Ausländer nach § 25a Abs. 1 AufenthG mangels positiver Integrationsprognose

Aktenzeichen  Au 6 K 17.1163

Datum:
19.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 45268
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG  § 5, § 10 Abs. 3 S. 1, S. 3, § 17, § 25 Abs. 5, § 25a Abs. 1 S. 1 Nr. 4, § 28 Abs. 1 Nr. 3, § 32, § 36, § 60a Abs. 2 S. 1, § 82 Abs. 1
AufenthV § 39 Nr. 4, Nr. 5

 

Leitsatz

1. Für eine positive Integrationsprognose (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) bedarf es einer, die konkreten individuellen Lebensumstände des ausländischen Jugendlichen oder Heranwachsenden berücksichtigenden Gesamtbetrachtung der bisherigen Integrationsleistungen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Aufnahme einer Berufsausbildung als dringender persönlicher Grund genügt nicht, um in der Person des Auszubildenden eine rechtliche Unmöglichkeit i.S.d. §§ 25 Abs. 5, 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu begründen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 5. Juli 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis oder auf Neuverbescheidung seines Antrags (§ 113 Abs. 5 VwGO).
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
a) Für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 AufenthG fehlt es beim Kläger bereits am Merkmal der Minderjährigkeit.
b) Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 17 und 36 AufenthG steht die Titelerteilungssperre gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 und 3 AufenthG entgegen. Ein Anspruch im Sinne des § 10 Abs. 3 AufenthG liegt nur vor, wenn ein strikter Rechtsanspruch besteht; ein Sollanspruch oder eine Ermessensreduzierung auf Null bei einer Befugnis zu einer Ermessensentscheidung sind hingegen nicht ausreichend (BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 27 m.w.N.). Einen solchen strikten Rechtsanspruch vermitteln die §§ 17 und 36 AufenthG nicht, da sie als Ermessensentscheidungen ausgestaltet sind.
c) Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG.
aa) Nach § 25a Abs. 1 AufenthG soll einem jugendlichen oder heranwachsenden geduldeten Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn (1.) er sich seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält, (2.) er im Bundesgebiet in der Regel seit vier Jahren erfolgreich eine Schule besucht oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss erworben hat, (3.) der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird, (4.) es gewährleistet erscheint, dass er sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann und (5.) keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer sich nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt.
bb) Der Kläger erfüllt die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht vollständig. Er hält sich zwar seit mehr als vier Jahren ununterbrochen gestattet bzw. geduldet im Bundesgebiet auf (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), da er ab dem 9. Oktober 2014 bis zum 20. Mai 2017 im Besitz einer Aufenthaltsgestattung war und sodann Duldungsgründe vorlagen, bzw. er seit dem 26. Juni 2017 im Besitz einer förmlichen Duldung ist. Darüber hinaus hat er mit Erreichen des qualifizierten Mittelschulabschlusses einen anerkannten Schulabschluss erworben (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, Art. 7a Abs. 4 Satz 1 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen). Auch hat er den Antrag bei der Behörde vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt und es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und 5 AufenthG).
Jedoch hat der Kläger bisher nicht hinreichend Umstände nachgewiesen, die eine positive Integrationsprognose (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) begründen würden. Eine positive Integrationsprognose kann gestellt werden, wenn die begründete Erwartung besteht, dass der ausländische Jugendliche oder Heranwachsende sich in sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik einfügen kann. Geboten ist eine die konkreten individuellen Lebensumstände des ausländischen Jugendlichen oder Heranwachsenden berücksichtigende Gesamtbetrachtung, etwa der Kenntnisse der deutschen Sprache, des Vorhandenseins eines festen Wohnsitzes und enger persönlicher Beziehungen zu dritten Personen außerhalb der eigenen Familie, des Schulbesuchs und des Bemühens um eine Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit, des sozialen und bürgerschaftlichen Engagements sowie der Akzeptanz der hiesigen Rechtsordnung (BayVGH, B.v. 30.10.2018 – 10 C 18.1782 – juris Rn. 6; OVG LSA, B.v. 7.10.2016 – 2 M 73/16 – juris Rn. 5 m.w.N.). Diese Prognose ist aufgrund der bisherigen Integrationsleistungen zu erstellen (BT-Drs. 17/5093, S. 15).
Für die Möglichkeit, dass der Kläger sich in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik einfügen kann, sprechen seine Kenntnisse der deutschen Sprache, die er sich nach der Einreise als Dreizehnjähriger innerhalb von viereinhalb Jahren aneignete (Note „befriedigend“ bei Deutsch als Fremdsprache im Qualifizierten Mittelschulabschluss) und dass er sich innerhalb relativ kurzer Zeit im deutschen Schulsystem mit neuer Schrift und Sprache zurechtgefunden und den qualifizierten Mittelschulabschluss mit der Note befriedigend erreichte. Seit 16. August 2017 befindet sich der nicht vorbestrafte Kläger zudem in einer qualifizierten Berufsausbildung zum Koch.
Der Kläger hat somit bereits wesentliche, jedoch in der Gesamtbetrachtung nicht ausreichende Grundlagen geschaffen, um sich in die hiesigen Lebensverhältnisse einfügen zu können. Zwar ist es nach dem Gesetzeswortlaut ausreichend, dass es gewährleistet „erscheint“, dass sich der Ausländer künftig in die deutschen Lebensverhältnisse einfügen „kann“, sodass an den Prognosemaßstab keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind und nicht mit Sicherheit feststehen muss, dass die Integration gelingen wird. Es genügt, wenn aufgrund der Gesamtumstände deutlich mehr für eine gelungene Integration als dagegen spricht (Wunderle/Röcker in Bergmann/Dienelt, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 25a Rn. 14). Dies ist hier jedoch derzeit nicht der Fall. Denn allgemein – und insbesondere auch beim Kläger – ist die berufliche Ausbildung und die damit verbundenen Beschäftigungschance ein wesentlicher Aspekt für die Prognose einer gelungenen Integration. Eine berufliche Ausbildung ist eine gewichtige Grundlage für die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt längerfristig eigenständig bestreiten zu können. Diesbezüglich bestehen jedoch im Fall des Klägers gegenwärtig noch erhebliche Zweifel, ob er seine Berufsausbildung erfolgreich wird abschließen können. Denn seine derzeitigen schulischen Leistungen sind ausweislich des vorgelegten Jahreszeugnisses (drei Fächer „mangelhaft“, ein Fach „ungenügend“) überwiegend mangelhaft oder ungenügend. Seine bisherigen Leistungen in der Berufsschule lassen somit aktuell nicht den Schluss zu, dass er den theoretischen Teil seiner Abschlussprüfung wird bestehen und seine Ausbildung erfolgreich wird abschließen können. Dass er hinsichtlich seiner dokumentierten schlechten theoretischen Leistungen Maßnahmen ergriffen hätte, um diese anzuheben und bestehende Defizite zu beseitigen, hat er bisher nicht substantiiert dargelegt, sondern lediglich behauptet. Nachweise über die Qualität seiner praktischen Leistungen liegen ebenfalls nicht vor. Es hätte in seiner Verantwortung gelegen, entsprechende Nachweise beizubringen (vgl. § 82 Abs. 1 AufenthG). Demnach besteht derzeit mit Blick auf den kritischen Stand seiner theoretischen Ausbildung und den damit verbundenen schlechten Aussichten auf einen erfolgreichen Berufsabschluss keine hinreichend positive Prognose. Auch hat sich der Kläger durch sein Nichterscheinen zur mündlichen Verhandlung die Chance genommen, das Gericht von einer dennoch bestehenden positiven Integrationsprognose zu überzeugen, insbesondere angesichts der Note „mangelhaft“ im Fach Deutsch im aktuellen Berufsschulzeugnis.
d) Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ergibt sich ebenso wenig aus § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG wegen der derzeitigen Ausbildung des Klägers zum Koch oder seinen Bindungen ins Bundesgebiet. Gemäß § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Dabei soll nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Nur wenn sowohl die Abschiebung als auch die freiwillige Ausreise unmöglich sind, kommt die Erteilung einer AE nach dieser Vorschrift in Betracht (Bergmann/Röcker in Bergmann/Dienelt, AufenthG, § 25 Rn. 105). Die vom Kläger derzeit absolvierte Ausbildung kann zwar die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung wegen eines dringenden persönlichen Grundes i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 3 und 4 AufenthG und damit die Unmöglichkeit der Abschiebung bedingen. Dies ändert aber nichts daran, dass die Aufnahme einer Berufsausbildung als dringender persönlicher Grund nicht genügt, um in der Person des Auszubildenden eine rechtliche Unmöglichkeit im Sinne der §§ 25 Abs. 5, 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu begründen (OVG NW, Beschluss vom 14. November 2017 – 18 B 1169/17 – juris Rn. 4 f. m.w.N.).
Es besteht auch kein rechtliches Ausreisehindernis wegen der persönlichen Bindungen des Klägers im Inland. Eine freiwillige Ausreise ist aus rechtlichen Gründen unmöglich, wenn sie mit Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK unvereinbar wäre. Dies ist beim Kläger jedoch nicht der Fall. Denn seine familiären Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet sind nicht übermäßig stark zu gewichten und machen eine Ausreise nicht unzumutbar, da er mit Erlangung der Volljährigkeit seiner ursprünglichen Kernfamilie entwachsen ist und das Bestehen einer Beistandsgemeinschaft weder vorgetragen noch ersichtlich ist. Darüber hinaus ist der Kläger, der seine ersten vierzehn Lebensjahre in seinem Heimatland verbracht hat, mit den Lebensverhältnissen in der Ukraine vertraut, bzw. in einem Alter, in dem er sich diese wird leicht wieder aneignen können, auch wenn eine alleinige Rückkehr und Reintegration in sein Heimatland mit gewissen Anfangsschwierigkeiten verbunden sein mag. Dies geht jedoch nicht über das Maß hinaus, welches vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern generell zugemutet werden kann, zumal der Kläger durch seine Einreise zur Stellung eines Asylantrags und nach dessen erfolglosen Abschluss nicht auf einen dauerhaften Aufenthalt vertrauen konnte.
2. Die Klage erweist sich auch im Hilfsantrag als nicht begründet, da der Kläger keinen Anspruch auf Neuverbescheidung seiner Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat. Nachdem bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Anspruch nach §§ 32 AufenthG bzw. nach § 25a Abs. 1 und 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, scheidet auch eine Verpflichtung des Beklagten zur Neuverbescheidung aus.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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