Verwaltungsrecht

Keine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche bei Ausweisungsinteresse

Aktenzeichen  10 ZB 21.937

Datum:
3.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 22516
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3

 

Leitsatz

Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte; es reicht aus, dass ein Ausweisungsinteresse nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen gegeben ist. Der Aufenthalt muss idR aber eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen. (Rn. 11 – 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 12 K 19.5681 2020-10-28 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Arbeitsplatzsuche und der Teilnahme an einem Sprachkurs weiter.
Das Verwaltungsgericht hat die Verpflichtungsklage mit dem angefochtenen Urteil abgewiesen, weil schon die Regelerteilungsvoraussetzung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, dass kein Ausweisungsinteresse besteht, nicht erfüllt sei. Der Kläger war am 14. Januar 2016 wegen des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten, deren Vollstreckung zu Bewährung ausgesetzt wurde, sowie am 13. März 2019 wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt worden. Ein Ausnahmefall, der zu einem Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung führen könnte, liege nicht vor; der Tatbestand einer Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 3 AufenthG sei nicht erfüllt. Ein Anspruch aufgrund von Art. 6 ARB 1/80 sei nicht entstanden.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich keine Gründe für die Zulassung der Berufung im Sinn des § 124 Abs. 2 VwGO.
1. Der Kläger trägt vor, die Berufung sei gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen; die von ihm aufgeworfene Frage, ob er einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis habe, habe grundsätzliche Bedeutung.
Der Kläger übersieht dabei schon, dass sich die Zulassung der Berufung im vorliegenden Fall nicht nach § 78 Abs. 3 AsylG, sondern nach § 124 Abs. 2 VwGO richtet.
Doch auch nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht dargelegt. Denn grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinn hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine in der Rechtsprechung bislang noch nicht geklärte fallübergreifende, über den Einzelfall hinaus verallgemeinerungsfähige Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, die für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich war und auch für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich und damit klärungsfähig ist, und die im Interesse der Rechtssicherheit, der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung im Berufungsverfahren bedarf (vgl. Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.1.2021, § 124 Rn. 53 m.w.N.).
Ob der Kläger einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat, hat nur Bedeutung für seinen Einzelfall und klärt keine darüber hinaus verallgemeinerungsfähige Rechts- oder Tatsachenfrage.
2. Auch wenn man die weiteren Ausführungen des Klägers dahin versteht, dass er ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend machen will, führt dies nicht zur Zulassung der Berufung.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestünden nur dann, wenn der Kläger einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht führt zu Recht aus, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger bereits daran scheitert, dass in seinem Fall die Regelerteilungsvoraussetzung, dass kein Ausweisungsinteresse besteht (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) nicht erfüllt ist, und auch nicht ausnahmsweise von dieser Voraussetzung abgesehen werden kann.
Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte. Vielmehr reicht es aus, dass ein Ausweisungsinteresse gleichsam abstrakt – d.h. nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen – vorliegt, wie es insbesondere im Katalog des § 54 AufenthG normiert ist. Der Begriff des Ausweisungsinteresses verweist auf das Ausweisungsrecht und greift die in § 53 Abs. 1, § 54 AufenthG gewählte und anhand von Beispielen erläuterte Begriffsbildung auf. Diese Vorschriften regeln die Aufenthaltsbeendigung bei Vorliegen eines öffentlichen Ausweisungsinteresses. Umgekehrt setzt die Begründung eines rechtmäßigen Aufenthalts durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht. Eine Abwägung mit den privaten Bleibeinteressen erfolgt – sofern sie nicht durch § 10 Abs. 3 AufenthG ausgeschlossen ist – erst im Rahmen der Frage, ob eine Abweichung vom Regelfall im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegt (BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 15).
Die Verwirklichung eines der in § 54 AufenthG genannten Tatbestände begründet allerdings nicht unmittelbar das Ausweisungsinteresse, ein solches besteht nur dann, wenn von dem Betroffenen eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, der weitere Aufenthalt des Ausländers also eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt oder sonst erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Denn ein Ausweisungsinteresse ist nicht mehr erheblich, wenn ohne vernünftige Zweifel feststeht, dass die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die mit dem Ausweisungsinteresse zusammenhängt, nicht mehr besteht (BayVGH, B.v. 29.8.2016 – 10 AS 16.1602 – juris Rn. 22).
Im Fall des Klägers besteht ein aktuelles Ausweisungsinteresse. Es kann dabei offenbleiben, ob man das Ausweisungsinteresse mit dem Verwaltungsgericht gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG als schwer wiegend oder gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG (gültig seit 21.8.2019) als besonders schwer wiegend ansieht. Jedenfalls hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass eine Wiederholungsgefahr und damit spezialpräventive Gründe fortbestehen. Es hat darauf hingewiesen, dass der Kläger trotz offener Bewährung erneut straffällig geworden ist und dass auch eine angekündigte Entzugsbehandlung noch nicht erfolgt ist. Wenn der Kläger betont, dass ihm durch die Strafaussetzung zur Bewährung durch das Strafgericht eine günstige Sozialprognose gestellt worden sei, lässt er damit außer Acht, dass diese Sozialprognose durch die nachfolgende erneute Straftat und Verurteilung gerade nicht bestätigt worden ist. Dass er seit seiner letzten Verurteilung nicht mehr straffällig geworden ist und (nunmehr) gewillt sei, ein rechtschaffener Bürger zu sein, genügt keineswegs, eine Wiederholungsgefahr mit hinreichender Sicherheit auszuschließen. Auch ist dem Kläger entgegenzuhalten, dass die von dem Strafgericht im Urteil vom 14. Januar 2016 festgestellte Abhängigkeit von (als Betäubungsmittel geltenden) Subutex-Tabletten bisher nicht nachhaltig therapiert worden ist; auch nach seinem eigenen Vorbringen hat er bisher nur an einigen Beratungseinheiten zur Vorbereitung einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung teilgenommen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats kann bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung eines Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogen-, Alkohol- oder sonst einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (vgl. zuletzt z.B. BayVGH, U.v. 12.4.2021 – 10 B 19.1716 – juris Rn. 73).
Auch das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist, wie vom Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt (UA Rn. 48), weiterhin aktuell; hierauf wird Bezug genommen.
Soweit der Kläger eine fehlerhafte Abwägung nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG rügt, ist dem entgegenzuhalten, dass im vorliegenden Fall keine Ausweisung ergangen ist; aber auch einen atypischen Sachverhalt, der eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung begründen könnte, kann er damit nicht geltend machen.
Eine derartige Ausnahme rechtfertigen besondere Umstände, die so bedeutsam sind, dass sie im Einzelfall das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzgeberischen Entscheidung für den Regelfall beseitigen, sowie Gewährleistungen des Verfassungs-, Unions- und Völkerrechts, wie der Schutz der familiären Lebensgemeinschaft durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK. Mit Blick auf den Sinn und Zweck der gesetzlichen Erteilungsvoraussetzungen ist bei der Annahme einer Ausnahme grundsätzlich Zurückhaltung geboten; der Verweis auf ihre Einhaltung muss sich als unmöglich oder unzumutbar erweisen. Ob hiernach im Einzelfall eine Ausnahme geboten ist, unterliegt der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle (Beiderbeck in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.5.2021, § 5 AufenthG Rn. 12).
Es trifft zwar zu, dass sich der Kläger bereits beträchtliche Zeit (seit 2004) im Bundesgebiet aufhält; das Verwaltungsgericht hat dem aber zu Recht entgegengehalten, dass er erst im Alter von 33 Jahren eingereist und ihm seither insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht eine nachhaltige Integration nicht gelungen ist. Familiäre Bindungen bestehen nicht mehr, zu seiner Tochter hat er seit mehreren Jahren keinen Kontakt. Der Kläger macht zwar geltend, dass er zu seiner Tochter gerne Kontakt aufbauen möchte, muss aber einräumen, dass ihm dies weiterhin nicht gelungen ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben