Verwaltungsrecht

Keine Ausweisung trotz Verurteilung

Aktenzeichen  Au 1 K 16.574

Datum:
19.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 53, § 54, § 55

 

Leitsatz

Die Ausweisung eines Ausländers ist rechtswidrig, wenn zwar ein öffentliches Ausweisungsinteresse wegen der Verurteilung wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung besteht (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und zudem mangels Aufenthaltserlaubnis kein gesetzlich normiertes Bleibeinteresse des Ausländers (§ 55 AufenthG) eingreift, bei der Abwägung aber gleichwohl Belange des Ausländers überwiegen (§ 53 Abs. 2 AufenthG), weil keine Wiederholungsgefahr besteht, er integriert ist und keine Beziehung mehr zum Heimatland vorhanden ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 10.3.2016 wird in den Ziffern 1. und 2. aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg.
I.
Gegenstand der Klage ist die Ausweisungsentscheidung in der Ziffer 1. des Bescheids der Beklagten vom 10. März 2016 samt der damit verbundenen Befristungsentscheidung (Ziffer 2. des Bescheids).
Die Bevollmächtigte des Klägers hat das Klagebegehren von Anfang an auf die Anfechtung des belastenden Verwaltungsakts beschränkt. In der mündlichen Verhandlung hat sie nochmals klargestellt, dass ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Klägers nicht geltend gemacht wird. Nicht Gegenstand der Klage ist damit auch die Ausreiseaufforderung samt Abschiebungsandrohung in den Ziffern 4. und 5. des Bescheids.
II.
Die Klage ist begründet, die angegriffene Ausweisungsverfügung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts. Dies gilt seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28. August 2007 auch für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.2007 – 1 C 45/06 – Leitsatz).
2. Rechtsgrundlage der Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG in der seit dem 1. Januar 2016 geltenden Fassung. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Hierbei sind nach § 53 Abs. 2 AufenthG insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner zu berücksichtigen. In der Vergangenheit liegende Verhaltensweisen reichen für sich nicht aus, um eine Gefährdung der genannten Rechtsgüter annehmen zu können. Diesen kommt aber insoweit eine Bedeutung zu, als sie die Grundlage der Prognose sind, ob mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der Rechtsgüter eintreten wird (Bauer in Bergmann/Dienelt, Kommentar zum Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 53 Rn. 26). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben die Gerichte bei der Überprüfung einer Ausweisungsentscheidung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 31).
3. Unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) mit dem Bleibeinteresse des Klägers (§ 55 AufenthG) ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass im vorliegenden Fall das Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an dessen Aufenthaltsbeendigung überwiegt.
a) Beim Kläger wiegt zunächst das Ausweisungsinteresse, wie die Beklagte zutreffend in ihrem Bescheid ausführt, nach der gesetzlichen Vorgabe des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer.
Der Kläger wurde mit Urteil des Amtsgerichts … vom 17. September 2015 des versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit Sich-Verschaffen kinderpornografi-scher Schriften in Tatmehrheit mit drei tatmehrheitlichen Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern jeweils in Tateinheit mit Sich-Verschaffen kinderpor-nografischer Schriften in Tatmehrheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern in Tatmehrheit mit gemeinschaftlichen schweren sexuellen Missbrauch von Kindern schuldig gesprochen und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Diese massiven Verfehlungen des Klägers und die daraus resultierende strafrechtliche Verurteilung sprechen ganz erheblich gegen einen weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet.
b) Ein besonders schwerwiegendes oder gesetzlich normiertes schwerwiegendes Bleibeinteresse kann der Kläger für sich nicht beanspruchen.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine der in § 55 Abs. 1 oder 2 AufenthG genannten Fallkonstellationen sind nicht erfüllt. Insbesondere war der Kläger seit Oktober 2015 und damit auch im Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung (vgl. hierzu Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, Rn. 7 zu § 55 AufenthG) nicht mehr im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis.
c) Gleichwohl sprechen erhebliche Belange gegen eine Ausweisung des Klägers.
Dabei ist die Aufzählung in § 55 Abs. 2 AufenthG, wie der Begriff „insbesondere“ verdeutlicht, nicht abschließend. Vielmehr sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG alle nach den Umständen des Einzelfalls maßgeblichen Belange zu berücksichtigen.
In diesem Rahmen sind gewichtige Belange zu Gunsten des Klägers anzuführen:
(1) Dabei ist zunächst für den Kläger anzuführen, dass bei ihm nach der Überzeugung des Gerichts die Gefahr der Begehung erneuter Straftaten doch vergleichsweise gering ist.
Hiervon geht bereits das Amtsgericht … in seinem Urteil vom 17. September 2015 aus. Dort ist ausgeführt, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden konnte. Es sei davon auszugehen, dass sich der Kläger allein die Verurteilung und das Verfahren zur Warnung dienen lässt und keine weiteren Straftaten mehr begeht. Dies sei die erste Freiheitsstrafe, die gegen ihn verhängt wurde. Das Amtsgericht …, das über die strafrechtliche Verurteilung des Klägers zu entscheiden hatte, ging damit ausdrücklich davon aus, dass eine Wiederholungsgefahr von relevantem Umfang bei ihm nicht mehr besteht.
Hinzu kommt, dass der Kläger erst 22 Jahre alt ist und nach Auffassung der Kammer seinen Reifeprozess noch nicht endgültig abgeschlossen hat. Er ist ansonsten strafrechtlich auch noch nicht in Erscheinung getreten. Bis auf die hier maßgebliche Verurteilung hat er bislang die geltende Rechtsordnung in Deutschland geachtet. Es besteht insbesondere im Hinblick auf seine noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung die begründete Hoffnung, dass er durch die Verurteilung dazu angehalten wird, zukünftig ein straffreies Leben zu führen.
Auch das Verhalten des Klägers nach der Tat bzw. der Verurteilung lässt eine positive Prognose erwarten. Der Kläger hat die Tat gestanden und weiterhin versucht, die Folgen seiner Tat wieder gut zu machen. Er hat sich, so jedenfalls die Aussage von allen Beteiligten, die Verurteilung zur Warnung dienen lassen.
Auch die Bewährungshelferin geht davon aus, dass beim Kläger eine Einstellungsänderung stattgefunden hat. In ihrem Bericht vom 12. Januar 2016 an die Beklagte führt sie aus, dass sich der Kläger in einer stabilen Lebenssituation befinde, eine ausführliche Deliktaufbereitung stattgefunden habe und dem Kläger zum Tatzeitpunkt nicht bewusst gewesen sei, dass es rechtlich verboten sei, sexuellen Kontakt zu einem Mädchen im Alter von 13 Jahren zu haben. Auffälligkeiten bezüglich sexueller Neigungen hätten nicht festgestellt werden können. Bei der durchgeführten Risikoeinschätzung habe sich ergeben, dass die protektiven Faktoren beim Kläger deutlich überwiegen und nach Einschätzung der Bewährungshilfe die Rückfallwahrscheinlichkeit gering sei. In der Stellungnahme an das Verwaltungsgericht vom 14. Juni 2016 wird dieser positive Befund weiter ausgeführt. Der Kläger halte sich an die Auflagen und Weisungen. Er sei strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten. Der Bewährungs 27 verlauf werde durchweg positiv gewertet. Es werde weiterhin von einer geringen Rückfallwahrscheinlichkeit ausgegangen.
Die Kammer teilt die Auffassung aller mit dem Kläger intensiv befassten bzw. beteiligten Stellen, dass nach derzeitiger Erkenntnislage die Gefahr erneuter Straftaten vergleichsweise gering ist. Insbesondere besteht die begründete Hoffnung, dass er keinerlei sexuellen Kontakt mehr mit Minderjährigen beabsichtigt oder initiiert.
(2) Der Kläger ist daneben nachhaltig und gut in Deutschland integriert.
Er hat hier fast fehlerfrei die deutsche Sprache erlernt, wovon sich die Kammer in der mündlichen Verhandlung überzeugen konnte.
Er ist, auch wenn ihn dies von der Begehung der letzten Straftat nicht abhalten konnte, in eine Familie fest eingebunden, die ihm Halt gibt und einen stabilisierenden Faktor darstellt. Der Kläger lebt auch derzeit noch bei seinen Eltern, die für ihn sorgen und andererseits auch von ihm unterstützt werden.
Der Kläger hat zuletzt seine Ausbildung abgeschlossen. Er ist im Besitz einer Arbeitsplatzzusage, so dass es ihm auch möglich sein wird, seinen Lebensunterhalt zu sichern und sich weiter und nachhaltig in die deutsche Gesellschaft einzuordnen.
(3) Der Kläger hat keinerlei belastbare Beziehungen zu seinem Heimatland, dem Irak.
Er lebt seit dem Jahr 2009 in Deutschland, also seit mittlerweile etwa sieben Jahren. Sein Heimatland, den Irak, hat er im Alter von 9 Jahren verlassen. Er ist nach Syrien geflohen und hat dort zusammen mit seinen Eltern gelebt.
Im Heimatland hat der Kläger nach eigenen Angaben keinerlei Bezugspunkte mehr. Sämtliche Verwandte leben in Deutschland, belastbare familiäre Bindungen im Irak bestehen nicht mehr.
Es ist somit davon auszugehen, dass der Kläger auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen würde, sich wieder im Irak zurechtzufinden und dort privat wie beruflich Fuß zu fassen.
d) Wägt man alle relevanten Belange ab, so spricht nach Überzeugung der Kammer ein Übergewicht für einen Verbleib des Klägers im Bundesgebiet.
Die Abwägung auf Tatbestandsebene des § 53 AufenthG ist nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers gerichtlich voll überprüfbar. Der Gesetzgeber hat sich ganz bewusst gegen eine Abwägung auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen einer Ermessensentscheidung entschieden. Dies hat zur Folge, dass das Verwaltungsgericht immer seine eigene Abwägung vornehmen muss. Die Abwägung durch die Ausländerbehörde ist also gewissermaßen nur ein „Vorschlag“ für das Verwaltungsgericht. Es kommt insoweit nur noch auf das richtige Ergebnis an, nicht mehr auf die richtige oder zumindest vertretbare Begründung der Ausweisung durch die Ausländerbehörde. Diese vom Verwaltungsgericht anzustellende Abwägung ist nach dem Willen des Gesetzgebers ergebnisoffen. Dies gilt nicht nur, wenn das Ausweisungsinteresse und das Bleibeinteresse jeweils besonders schwer oder jeweils schwer wiegen, sondern auch dann, wenn das Ausweisungsinteresse besonders schwer und das Bleibeinteresse nur schwer oder weder besonders schwer noch schwer wiegt. Dies bedeutet nicht, dass die Abwägung „im Regelfall“ zu Gunsten des Auswe i-sungsinteresses ausgeht oder dass dies dann „ein Indiz“ für ein überwiegendes Ausweisungsinteresses wäre (Hofmann, a.a.O., Rn. 30 und 29).
Die Kammer sieht eine eher geringe Wiederholungsgefahr beim Kläger und zudem einen jungen Mann, der sich gut in die hiesige Gesellschaft integriert hat. Es spricht vieles dafür, dass die einmalige strafrechtliche Verfehlung und die daraus folgende Verurteilung dazu führt, dass der Kläger sich zukünftig an die hier geltenden Vorschriften hält. Der Kläger ist angesichts seiner sprachlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung in der Lage, sich hier dauerhaft problemlos zu integrieren. Relevante Bindungen zu seinem Heimatland bestehen nicht. In der Gesamtschau überwiegt damit das Bleibeinteresse das Abschiebungsinteresse beim Kläger.
4. Mit der Aufhebung der Ausweisungsverfügung konnte auch die Befristungsentscheidung in Ziffer 2. des Bescheids vom 10. März 2016 keinen Bestand haben.
III.
Die Kostenentscheidung für das gerichtliche Verfahren folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als unterlegener Teil hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.


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