Verwaltungsrecht

Keine Gruppenverfolgung von Jesiden im kurdischen Autonomiegebiet

Aktenzeichen  5 ZB 17.31653

Datum:
21.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 133309
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG §§ 3 ff., § 4, § 78 Abs. 3 Nr. 1

 

Leitsatz

1 Für die Annahme einer Gruppenverfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5 AsylG) ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2 Für die Annahme einer Gruppenverfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5 AsylG) müssen die Verfolgungshandlungen im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3 Es gibt keine Erkenntnisse für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung von Jesiden im kurdischen Autonomiegebiet. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 4 K 16.32238 2017-10-02 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 72). Hierfür ist eine Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts erforderlich (vgl. Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 592, 607 und 609). Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (vgl. OVG NW, B.v. 12.12.2016 – 4 A 2939/15.A – juris m.w.N.).
Die im Zulassungsantrag für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Frage, „ob einem irakischen Staatsangehörigen mit kurdischer Volks- und jesidischer Glaubenszugehörigkeit eine allein an seinen Glauben anknüpfende Verfolgung in der Gestalt von Gefahren für Leib und Leben sowie in der Gestalt von Vertreibung im gesamten Irak droht“, ist hinsichtlich des (grundsatzbedeutsamen) Klärungsbedarfs nicht hinreichend dargelegt.
Der Kläger gab bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für … am 11. Juli 2016 an, Kurde jesidischen Glaubens zu sein; er habe sich bis zu seiner Ausreise in der Provinz Dohuk, in dem Dorf Scharya, mit dem Auto fünf Minuten von Dohuk entfernt, aufgehalten. Er habe mit seinen Eltern und seinen Geschwistern im „Eigentumshaus“ des Vaters gelebt. Ein Araber habe seinen Bruder getötet und auch er sei bedroht worden. Sein Vater habe dann die Ausreise arrangiert. Zwei seiner Brüder seien bereits in Deutschland. Die restliche Großfamilie lebe im Irak.
Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 2. Oktober 2017 den erstmals in der mündlichen Verhandlung geschilderten Vortrag des Klägers, in einem Ort in der Provinz Mosul und nicht nahe Dohuk gelebt zu haben, vor dem IS geflohen zu sein und zuletzt in einer „Aufnahmeeinrichtung“ Zuflucht gefunden zu haben, als unglaubhaft zurückgewiesen. Zum einen ergebe sich aus dem vom Kläger beim Bundesamt vorgelegten Staatsangehörigkeitszeugnis, dass der Kläger in Dohuk geboren sei. Zum anderen erschließe sich dem Gericht nicht, warum der Kläger nicht bereits in seiner Anhörung beim Bundesamt angegeben habe, dass seine Familie vor dem IS in das Kurdengebiet geflohen sei. Vielmehr habe der Kläger erklärt, in der Provinz Dohuk in einem Eigentumshaus seines Vaters gewohnt zu haben. Auf Verständigungsprobleme könne sich der Kläger nicht berufen, er sei bei der Anhörung auch von seiner Vormundin begleitet worden.
Der Senat geht daher bei seiner Entscheidung davon aus, dass der Kläger aus der Provinz Dohuk, also aus dem kurdischen Autonomiegebiet, stammt, was auch die Zulassungsbegründung nicht mehr infrage stellt.
Die Beklagte führt in ihrem Bescheid vom 22. August 2016 aus, die Schilderungen des Klägers ließen keine Gründe erkennen, dass er wegen seiner Volkszugehörigkeit oder aus sonstigen flüchtlingsrechtlich relevanten Gründen vorverfolgt worden sei. Der Kläger stamme aus Kurdistan. Gründe für eine Schutzgewährung nach § 4 AsylG lägen nicht vor.
Das Verwaltungsgericht ist dieser Auffassung in seinem Urteil vom 2. Oktober 2017 durch Verweis auf die Gründe des Bescheids gefolgt und hat hinzugefügt, auch aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit sei der Kläger in den kurdischen Autonomiegebieten keiner Verfolgung im Sinne der §§ 3 ff. AsylG ausgesetzt.
In der Zulassungsbegründung trägt der Kläger nunmehr vor, in der aktuellen Rechtsprechung werde die Auffassung vertreten, dass irakischen Staatsangehörigen, die dem jesidischen Glauben angehörten, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Denn den Jesiden drohe die gezielte, systematische und mit äußerst verbrecherischen Methoden durchgeführte Verfolgung durch den IS, wobei deren Tod regelmäßig beabsichtigt sei, soweit sie nicht zum sunnitischen Islam überträten. Der Versuch, die Jesiden unter Todesandrohung zu einer Konversion zum Islam zu bewegen, zeige deutlich, dass die Verfolgung dieser Gruppe gerade in Anknüpfung an ihre Religionszugehörigkeit erfolge. Der Kläger könne hierbei weder effektiven Schutz von Seiten des irakischen Staats noch in anderen Teilen des irakischen Staatsgebiets erlangen. Jesiden aus dem Irak unterlägen daher einer Gruppenverfolgung. Bei dem Heimatort des Klägers handle es sich keineswegs um einen sicheren Ort für Jesiden. Das Auswärtige Amt halte die Sicherheitslage im gesamten Irak derzeit für volatil. Insbesondere sei die Zahl der terroristischen Anschläge vor allem im Nord- und Zentralirak seit langem sehr hoch. Auch in der Provinz Dohuk sei die Lage aufgrund der Nähe zum IS-kontrollierten Gebiet weiterhin angespannt.
Mit diesen Ausführungen wird der Zulassungsgrund der grundsätzlichen (tatsächlichen) Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) hinsichtlich einer Gruppenverfolgung (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5 AsylG) von Jesiden im Irak nicht dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG). Auch wenn der Bescheid des Bundesamts und das Urteil des Verwaltungsgerichts keine näheren Ausführungen zum Nichtvorliegen einer Gruppenverfolgung von Jesiden im Irak machen, reicht es zur Begründung eines Zulassungsantrags für die Geltendmachung einer Frage von grundsätzlicher tatsächlicher Bedeutung nicht aus, pauschal eine Gruppenverfolgung zu behaupten, ohne (noch) aktuelle Erkenntnisquellen zu benennen.
Die geltend gemachte Verfolgung durch den IS, wie er in der Zulassungsbegründung geschildert wird, bezieht sich auf das ehemalige Herrschaftsgebiet des IS und ist nach dem weitgehenden Zurückdrängen des IS nicht mehr aktuell. Das kurdische Autonomiegebiet, also die Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniyya gehörten ohnehin nicht zu den umkämpften und von Verfolgung durch die Terrormiliz IS betroffenen Gebieten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 18.02.2016, S. 9 und vom 07.02.2017 S. 12; UK Home Office, Country Information and Guidance: Iraq: Religious minorities, August 2016, S. 6).
Im Übrigen gibt es keine Erkenntnisse für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung von Jesiden im kurdischen Autonomiegebiet, jedenfalls legt die Zulassungsbegründung dergleichen nicht dar (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
Für die Annahme einer Gruppenverfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5 AsylG) ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, U.v. 31.4.2009 – 10 C 11.08 – AuAs 2009, 173; v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVerwGE 126, 243 = BayVBl 2007, 151).
Für das Vorliegen einer solchen Verfolgungsdichte von Jesiden im kurdischen Autonomiegebiet legt die Zulassungsbegründung keinerlei aktuelle Anhaltspunkte dar und nennt auch keine Erkenntnisquellen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 7. Februar 2017 (Stand: Dezember 2016 S. 18, vgl. auch die Dokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl – BFA – der Republik Österreich vom 24. August 2017 S. 108 f.) leben 450.000 bis 500.000 Jesiden im Irak. Die Mehrzahl siedelte im Norden Iraks, v.a. im Gebiet um die Städte Sindschar (bzw. Sinjar, zwischen Tigris und syrischer Grenze), Schekhan (Provinz Ninava – Mosul) und in der Provinz Dohuk. Viele Jesiden lebten derzeit in Flüchtlingslagern, besonders in der Region Kurdistan-Irak. Außerdem gebe es in der Stadt Dohuk, nahe des jesidischen Heiligtums Lalesh, sehr viele Jesiden, die dort weitgehend ohne Unterdrückung oder Verfolgung lebten. Von einer Verfolgung oder von Gefahren für Leib und Leben im kurdischen Autonomiegebiet, wozu auch die Provinz Dohuk gehört, ist im Lagebericht des Auswärtigen Amts keine Rede. Das gleiche gilt für die Dokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 24. August 2017 (S. 108 f.). Dort wird nur ausgeführt, dass die Jesiden in den Flüchtlingslagern in der Region Kurdistan-Irak in prekären Verhältnissen lebten und teilweise Schikanen und Misshandlungen durch die Peschmerga und der Asayisch ausgesetzt seien. Der Kläger ist jedoch kein Flüchtling in diesem Sinn, sondern lebte mit seiner Familie in der Nähe von Dohuk in einem „Eigentumshaus“ seines Vaters. Soweit das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen von einer Gruppenverfolgung von Jesiden in der südlichen Grenzregion der Provinz Dohuk ausgegangen ist, betraf das eine Verfolgung durch den IS (U.v. 8.3.2017 – 15a K 9307/16.A – juris Rn. 38). Dem ist schon deswegen nicht zu folgen, weil das nach dem Zurückdrängen des IS insbesondere aus der Provinz Ninawa (Region Mosul), der westlichen Nachbarprovinz der Provinz Dohuk, nicht mehr aktuell ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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