Verwaltungsrecht

Keine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak

Aktenzeichen  M 4 K 17.33960

Datum:
13.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 23744
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Im Irak gibt es keine Gruppenverfolgung von Sunniten.(Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der faktische Abschiebungsstopp aufgrund der Anordnungen des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vermittelt derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung irakischer Staatsangehöriger hinsichtlich allgemeiner Gefahren, so dass es keines zusätzlichen Schutzes in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bedarf. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 13. März 2018 entscheiden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. In der ordnungsgemäßen Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen,
dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-).
I.
Die Klage ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).
Dem Kläger steht nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Asylgesetz -AsylG-) oder des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) zu.
1. Der Kläger hat zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, §§ 3 ff. AsylG.
Rechtsgrundlage für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 AsylG. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furch nicht zurückkehren will. Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Nach diesen Grundsätzen droht dem Kläger bei einer Rückkehr ins Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Verfolgung in diesem Sinne.
Der Kläger hat so widersprüchliche/unglaubwürdige Angaben gemacht, dass ihm das Gericht die angegebene Verfolgungsgeschichte nicht glaubt. Dabei ist schon darauf hinzuweisen, dass der Kläger den Drohbrief trotz mehrfacher Belehrung nach § 87b VwGO (Rechtsbehelfsbelehrung:des Bescheids, Erstzustellung der Klage) erst nach mehr als zwei Jahren und damit unentschuldigt verspätet vorgelegt hat, obwohl er ihn bereits vor mehreren Monaten von seinem Vater erhalten haben will. Das Gericht glaubt schon nicht, dass ihm sein Vater nichts von dem Drohbrief, beziehungsweise erst zwei Jahre nach der Ausreise, erzählt hat. Auch ist der Vortrag vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung mit dem Inhalt des Drohbriefs nicht in Einklang zu bringen. So hat der Kläger vor dem Bundesamt angegeben, dass bei dem Angriff Mitte bis Ende August 2015 niemand verletzt worden sei. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger angegeben und ein Foto vorgelegt, dass sein Vater bei diesem Angriff gequält/gefoltert worden sei. Auch ist nicht zu erklären, dass die Anzeige des Vaters bei der Polizei wegen des Drohbriefs keinerlei Angaben von dem Angriff, der Zerstörung des Elternhauses und der Verletzung des Vaters enthält, obwohl der Angriff eins bis zwei Tage vorher stattgefunden haben soll. Ebenso hat der Kläger vor dem Bundesamt angegeben, dass er vor seiner Ausreise immer wieder bei seinen Eltern vorbeigeschaut habe und im Gegensatz dann in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass er seine Eltern nach dem Angriff persönlich nicht mehr gesehen habe. Auch ist nicht zu erklären, dass der Kläger einerseits angibt, dass er und seine Eltern nach dem Angriff das Haus nicht mehr betreten haben, da es durch einen Brand zerstört worden sei und gleichzeitig in der Anzeige des Vaters ausgeführt wird, dass der Vater den nachts im Haus in a* … eingeworfenen Drohbrief am nächsten Tag dort gefunden habe. Auch waren die Personen, die das Haus überfallen haben einmal unbekannt und einmal Milizen (m.V.: Telefonat nach Überfall). Einmal waren die Angreifer unmaskiert und einmal maskiert. Insgesamt ist aufgrund der massiven Widersprüche des Klägers die Verfolgungsgeschichte nicht glaubhaft. Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger diese zumindest in erheblichen Teilen diese frei erfunden, beziehungsweise erlogen hat.
Zumindest hatte er und seine Familie eine innerstaatliche Fluchtalternative. Er hätte -wie seine Familie – innerhalb Bagdads oder innerhalb des Irak umziehen können.
Soweit sich der Kläger darauf stützt, als Sunnit schlecht behandelt worden zu sein, kann dies keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen, denn es liegt aktuell keine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak vor. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung weitgehend geklärt (vgl. zuletzt BVerwG v. 21.4.2009, Az.: 10 C 11.08, AuAs 2009, 173-175, zu Sunniten im Irak; ferner BVerwG v. 1.2.2007, Az.: 1 C 24.06, NVwZ 2007, 590 = InfAuslR 2007, 211 = AuAS 2007, 68, zu Tschetschenen; BVerwG v. 5.1.2007, Az.: 1 B 59.06, juris; BVerwG v. 18.7.2006, Az.: 1 C 15.05, BVerwGE 126, 243 = NVwZ 2006, 1420 = DVBl 2006, 1512 = ZAR 2006, 410 = InfAuslR 2007, 33 = BayVBl 2007, 151, zu Christen im Irak; jeweils mit weiteren Nachweisen). Nach Auffassung des Gerichts liegt die für eine Gruppenverfolgung von Sunniten erforderliche Gefahrendichte in der Herkunftsregion des Klägers nicht vor. Zwar wurde die arabischsunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Iraks bildete, nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003 insbesondere in den Jahren 2006 bis 2014 aus öffentlichen Positionen gedrängt. Allerdings erkennt die Verfassung des Iraks das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an und es findet keine systematische Diskriminierung oder Verfolgung von religiösen oder ethnischen Minderheiten durch Behörden statt. (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 18. Februar 2016, S. 9, 13; vgl. auch die ständige Rechtsprechung der Kammer und des BayVGH).
2. Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (Todesstrafe), § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) oder § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 c der RL 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) in Bezug auf den Irak zu.
a) Hinsichtlich des vom Kläger vorgetragenen persönlichen Verfolgungsschicksals wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.
b) Auch herrscht in Bagdad kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dass nicht gleichsam jede Zivilperson im Irak allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist, folgt bereits daraus, dass bei einer Gesamtbevölkerung mit etwa 32 bis 34 Millionen Einwohnern (vgl.http://www.asienaufeinenblick.de/irak/,HYPERLINK „http://www.auswaertigesamt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/„http://www.auswaertigesamt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/ Laenderinfos/01-Laender/Irak.html) die Zahl der zivilen Todesopfer im Jahr 2015 mit insgesamt 17.502 (2014: 20.169 vgl. https://www. iraqbodycount.org/database/ vom 29.09.2016) angegeben ist. Auch wenn die Opferzahlen 2016 bzw. 2017 angestiegen sind bzw. ansteigen sollten, reicht die abstrakte Gefahr, angesichts von Kampfeshandlungen in einigen Bereichen im Irak Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen zu werden, für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nicht aus. Eine Rückkehr nach Bagdad erscheint unter diesen Gesichtspunkten möglich.
Aus aktuellem Anlass ist noch darauf hinzuweisen, dass die Situation im Irak derzeit unübersichtlich ist. Doch reicht diese bisherige Entwicklung für die Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (vgl. BVerwG vom 27.04.2010, Az. 10 C 4/09) nicht aus. Festzustellen ist, dass Bagdad, der Heimatort des Klägers, von den Kämpfen mit der IS selbst nicht betroffen war/ist. Die stattgefundenen Kampfhandlungen drangen bislang nicht bis in die Stadt Bagdad vor. Dies ergibt sich aus der täglichen Berichterstattung der Medien.
3. Nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben/vorgetragen.
a) Konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind nicht ersichtlich.
b) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei sind nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.
Beruft sich der Ausländer demzufolge auf allgemeine Gefahren, kann er Abschiebungsschutz regelmäßig nur durch einen generellen Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erhalten. Allgemeine Gefahren in diesem Sinne sind alle Gefahren, die der Bevölkerung des Irak auf Grund der derzeit dort bestehenden Sicherheits- und Versorgungslage allgemein drohen. Dazu zählen neben der Gefahr, Opfer terroristischer Übergriffe zu werden und Gefahren durch die desolate Versorgungslage auch Gefahren krimineller Aktivitäten und Rachebestrebungen von Privatpersonen.
Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat mit Rundschreiben vom 10. August 2012 (Az. IA2-2081.13-15) in der Fassung vom 3. März 2014 bekannt gegeben, dass eine zwangsweise Rückführung zur Ausreise verpflichteter irakischer Staatsangehörigen grundsätzlich (Ausnahme: Straftäter aus den Autonomiegebieten) nach wie vor nicht möglich ist und ihr Aufenthalt wie bisher weiterhin im Bundesgebiet geduldet wird. Es ist daher davon auszugehen, dass diese Mitteilung eines faktischen Abschiebungsstopps derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung hinsichtlich allgemeiner Gefahren vermittelt, so dass es keines zusätzlichen Schutzes in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bedarf (vgl. BVerwG, U. v. 12.7.2001 – 1 C 2/01 – NVwZ 2001, 1420).
Sonstige Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, die nicht von den Anordnungen des Bayerischen Staatsministeriums des Innern erfasst werden, sind nicht ersichtlich.
4. Der Bescheid des Bundesamtes gibt auch hinsichtlich seiner Ziff. 4, wonach der Kläger unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aufgefordert wird, keinerlei Anlass zu Bedenken. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, auf den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG abzustellen ist, sind Gründe, die dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegenüber dem Kläger entgegenstünden, nicht ersichtlich, denn er ist, wie oben ausgeführt, weder als Flüchtlinge anzuerkennen, noch steht ihm subsidiärer Schutz oder Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu; er besitzt auch keine asylunabhängige Aufenthaltsgenehmigung (§ 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG).
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b Abs. 1 AsylG nicht erhoben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m.§§ 708 ff. ZPO.


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