Verwaltungsrecht

Keine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak

Aktenzeichen  20 ZB 17.30839

Datum:
8.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 194
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 78 Abs. 3 Nr. 1
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Auch unter Würdigung der neueren Entwicklung liegt die für eine Gruppenverfolgung der sunnitischen Bevölkerung im Irak notwendige Verfolgungsdichte nicht vor. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 3 K 16.33501 2017-05-30 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, da der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) einerseits nicht in einer § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Art und Weise dargelegt wurde (hierzu 1.) und andererseits auch nicht vorliegt (hierzu 2.).
1. Der Kläger hält einerseits für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob die allgemeine humanitäre Situation im Irak nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für Personen, die der sunnitischen Glaubensrichtung angehören, ein Abschiebungsverbot begründet.
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache erfordert, dass der Rechtsmittelführer eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufzeigt, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich und klärungsbedürftig ist. Ferner muss dargelegt werden, weshalb der Frage eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt. Hierfür ist eine Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts erforderlich (vgl. Berlit in GK-AsylG, Rn. 592, 607 und 609 zu § 78).
Das Verwaltungsgericht ist in seiner Entscheidung (S. 6) davon ausgegangen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht bestehe, da der Kläger, ein junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann, der zudem keine weiteren Personen zu versorgen habe, sein Existenzminimum im Irak sichern könne. Insofern sei nicht entscheidend, dass nicht glaubhaft sei, dass der Kläger angesichts der im Irak üblichen Großfamilien väterlicherseits über keinerlei Verwandte im Irak verfüge.
In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 im Verfahren Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich (Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozioökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland nicht notwendig für die Frage bedeutsam und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention ziele hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK mache nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen könnten daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ seien (Rn. 278). Der Kläger bezieht sich zur Begründung der Klärungsbedürftigkeit der von ihm formulierten Frage auf die Position des UNHCR zu Rückkehrern in den Irak vom 14. November 2016. Darin wird zwar anschaulich die schlechte Versorgungslage im Irak dargestellt, allerdings fehlt es der Antragsbegründung an einer Auseinandersetzung mit der tragenden Begründung des Verwaltungsgerichts, dass der Kläger als gesunder, arbeitsfähiger Mann ohne weitere Personen, die er zu versorgen hat, in der Lage sein dürfte, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dass dies in dieser generellen Weise nicht möglich sei, ergibt sich aus der Position des UNHCR vom 14. November 2016 gerade nicht. Daher sind die Darlegungsanforderungen insoweit nicht erfüllt.
2. Soweit der Kläger als grundsätzlich klärungsbedürftig erachtet,
ob eine Gruppenverfolgung von Personen mit Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensrichtung im Irak stattfindet
ist diese Frage nicht klärungsbedürftig. Denn sie ist bereits durch die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs geklärt.
Für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, U.v. 31.4.2009 – 10 C 11.08 – AuAS 2009, 173; U.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; U.v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVerwGE 126, 243). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen geklärt, dass die Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Irak ausgesetzt ist, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht aufweist (U.v. 14.12.2010 – 13a B 10.30084 – juris; B.v. 15.8.2011 – 20 B 11.30217– juris). Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. Das gilt auch, wenn man nur die Zahl der arabischen (unter Ausschluss der kurdischen) Sunniten betrachtet. Die irakische Bevölkerung setzt sich zu 60 bis 65 Prozent aus arabischen Schiiten, zu 17 bis 22 Prozent aus arabischen Sunniten und zu 15 bis 20 Prozent aus (überwiegend sunnitischen) Kurden zusammen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 7.2.2017, S. 7). Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 36 Mio. Einwohnern (vgl. www.auswaertiges-amt.de – Länderinfos Stand März 2017) würde das bedeuten, dass 6 bis 8 Mio. arabische Sunniten im Irak im oben geschilderten Sinn als Gruppe verfolgt würden. Für eine solche Annahme gibt es nicht annähernd ausreichende Hinweise. Diese können auch nicht den ausführlich in der Begründung des Zulassungsantrags zitierten Quellen entnommen werden. Diese zeigen zwar teilweise erhebliche Spannungen entlang der Konfessionslinien innerhalb der irakischen Bevölkerung, die in Einzelfällen auch zu Bedrohungen, Verletzungen und Todesfällen aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeit, insbesondere der zum sunnitischen Islam, geführt haben. Hintergrund dieser Vorfälle ist vor allem in jüngerer Zeit auch der Einsatz der schiitisch dominierten Volksmobilisierungseinheiten (PMU) bei der Rückeroberung der – mehrheitlich sunnitisch bevölkerten – Gebiete unter Kontrolle des IS (vgl. Wille, EASO, Practical Cooperation Meeting on Iraq, held on 25. bis 26. April 2017 in Brussels, S. 13/14). Diese gehen verbreitet willkürlich gegen die vorgefundene oder in die rückeroberten Gebiete zurückkehrende sunnitische Bevölkerung vor, allerdings ist auch deren Vorgehen kein flächendeckendes Vorgehen gegen Sunniten zu entnehmen, vielmehr handelt es sich immer noch, betrachtet man die Gruppe der Sunniten im Irak, um Einzelfälle. Dementsprechend lässt sich auch unter Würdigung dieser neueren Entwicklung die für eine Gruppenverfolgung der sunnitischen Bevölkerung im Irak notwendige Verfolgungsdichte nicht erkennen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG.


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