Verwaltungsrecht

Keine hinreichende Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung – Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet

Aktenzeichen  Au 9 K 20.30940

Datum:
17.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 27744
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
GG Art. 16a
AsylG § 3, § 4, § 30 Abs. 3 Nr. 7
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen, gegen die Entscheidung über den Asylantrag als offensichtlich unbegründet.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Klägerin verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 17. September 2020 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurde den Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 17. September 2020 form- und fristgerecht geladen worden.
Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts vom 10. Juni 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz VwGO). Die Klägerin besitzt keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigte (Art. 16a Grundgesetz – GG), auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§§ 3 ff. AsylG) bzw. auf Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG). Ebenfalls liegen zugunsten der Klägerin keine nationalen Abschiebungsverbote auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (§ 113 Abs. 5 Satz 1).
1. Die Beklagte hat in dem mit der Klage angegriffenen Bescheid vom 10. Juni 2020 im Ergebnis zu Recht angenommen, dass der Asylantrag der Klägerin als offensichtlich unbegründet (§ 30 Abs. 1, 2 AsylG) abzulehnen ist. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) bestehen an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Bundesamts vernünftigerweise keine Zweifel, so dass sich die Ablehnung des Asylantrags nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG [Kammer], B.v. 20.9.2001 – 2 BvR 1392/00; BVerfG [Kammer], B.v. 3.9.1996 – 2 BvR 2353/95 – beide juris). Der Asylantrag war als offensichtlich unbegründet abzulehnen, weil bei der Klägerin im Ergebnis offensichtlich keine Gründe vorliegen, die für die Zuerkennung von Asyl oder internationalem Schutz relevant sind und auch (zielstaatsbezogene) Abschiebungshindernisse nicht vorliegen.
Die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als offensichtlich unbegründet erweist sich jedenfalls im Ergebnis als zutreffend. Zwar durfte das Bundesamt nicht § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG als Rechtsgrundlage für die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet heranziehen.
a) Nach dieser Vorschrift ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn er für einen nach diesem Gesetz handlungsunfähigen Ausländer gestellt wird oder nach § 14a AsylG als gestellt gilt, nachdem zuvor Asylanträge der Eltern oder des allein personensorgeberechtigten Elternteils unanfechtbar abgelehnt worden sind. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen dem Grunde nach vor. Die Vorschrift des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG steht jedoch nicht mit der Richtlinie 2013/32/EU in Einklang.
Nach Art. 32 Abs. 2 RL 2013/32/EU können die Mitgliedsstaaten im Fall von unbegründeten Anträgen, bei denen einer der in Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU aufgeführten Umstände gegeben ist, einen Antrag als offensichtlich unbegründet betrachten, wenn dies so in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen ist. Dabei ist die in Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU erfolgte Aufzählung abschließender Natur, weil Art. 5 RL 2013/32/EU bei Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes lediglich die Einführung und die Beibehaltung günstigerer Bestimmungen vorsieht (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 15.12.2015 – 5 L 3947/15 A – juris Rn. 20 ff.). Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU enthält in seiner enumerativen Aufzählung indes keine rechtliche Grundlage, auf die sich eine nationale Vorschrift wie die des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG stützen ließe (vgl. VG Minden, B.v. 4.7.2019 – 6 L 715/19 A – juris Rn. 8 ff.; VG Minden, B.v. 30.8.2019, 10 L 370/19 A – juris Rn. 26). Aufgrund der Unvereinbarkeit mit Unionsrecht ist § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG daher nicht anzuwenden (vgl. EuGH, U.v. 22.5.2003 – C 462.99 – juris Rn. 40; EuGH, U.v. 9.3.1978 – C-106/77 – juris Rn. 21 bis 24).
Die Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamts erweist sich jedoch im Ergebnis insbesondere unter Berücksichtigung der zum Asylverfahren der Eltern und der Schwester der Klägerin ergangenen Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 19. August 2020 (rechtskräftig seit dem 24. August 2019) als zutreffend. Dies gilt auch unter Berücksichtigung einer für die Klägerin geltend gemachten Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung (FGM).
Für die Klägerin scheidet die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die Asylanerkennung wegen einer vorgetragenen geschlechtsbezogenen Verfolgung (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG) nach dem dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen offensichtlich aus. Zwar stellt die geltend gemachte zwangsweise Beschneidung einen asylerheblichen Eingriff dar, der vom Grundsatz her einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann.
Dabei geht das Gericht nach den vorliegenden Erkenntnissen grundsätzlich davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet ist. Schätzungen zur Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung gehen jedoch weit auseinander und reichen von 19% bis zu 50% bis 60% (vgl. dazu etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – vom 21. Januar 2018, Stand September 2017, Nr. II.1.8).
Es wird zwar teilweise von einem Rückgang der Beschneidungspraxis bzw. einem Bewusstseinswandel ausgegangen, dennoch ist die Beschneidungspraxis noch in den Traditionen der nigerianischen Gesellschaft verwurzelt. Nach traditioneller Überzeugung dient die weibliche Genitalverstümmelung der Sicherung der Fruchtbarkeit, der Kontrolle der weiblichen Sexualität, der Verhinderung von Promiskuität und der Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft der Frauen durch eine Heirat. Angesichts des Umstandes, dass teilweise nur eine beschnittene Frau als heiratsfähig angesehen wird, kann der Druck auf die Betroffenen als auch auf deren Eltern zur Durchführung einer Beschneidung erheblich sein. Zur Erreichung der „Heiratsfähigkeit“ sind häufig gerade weibliche Familienmitglieder bemüht, die Beschneidung durchführen zu lassen und mitunter erfolgt dies auch gegen den Willen der Eltern. Übereinstimmend wird davon ausgegangen, dass die weibliche Genitalverstümmelung besonders in ländlichen Gebieten und hierbei insbesondere im Süden bzw. Südwesten und im Norden des Landes verbreitet ist. Das Beschneidungsalter variiert von kurz nach der Geburt bis zum Erwachsenenalter und ist abhängig von der jeweiligen Ethnie. Auch nach der allgemein zugänglichen Stellungnahme „The Epidemiology of Female Genital Mutilation in Nigeria – A Twelve Year Review“ ist selbst innerhalb der Ethnie der Yoruba von 2013 bis 2016 die Beschneidungspraxis stark rückläufig (von 54,5 auf 45,4%). Gesamtbetrachtet lag der Anteil beschnittener Mädchen und Frauen in Nigeria im Jahr 2013 noch bei 24, 8%. 2017 waren es nur noch 18,4% (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – BFA – Nigeria, Gesamtaktualisierung vom 12.4.2019 Nr. 18.1, S. 38 m.w.N.).
Aufgrund dieser Erkenntnislage in Zusammenschau mit dem Vortrag der gesetzlichen Vertreter der Klägerin insbesondere in deren Asylverfahren und der nachfolgenden Rechtsstreitigkeiten vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht München scheidet bei der Klägerin – für die eine Vorverfolgung in Nigeria aufgrund der Tatsache, dass sie in Deutschland geboren ist – aus, da eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eintretende Gefahr hinsichtlich der Durchführung einer Genitalverstümmelung nicht besteht. Dies auch unter Berücksichtigung der Volkszugehörigkeit der Klägerin zur Volksgruppe der Igbo.
Nach dem Informationsblatt des Bundesamts für … – Informationszentrum Asyl und Migration – Weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen – Verbreitung – Asylverfahren vom April 2010 verhält es sich bei der Volksgruppe der Igbo so, dass die Beschneidung während der Pubertät und vor der Heirat durchgeführt wird. Der Volkszugehörigen der Igbo im Südosten wird die Beschneidung innerhalb von sieben Tagen nach der Geburt vorgenommen. Bereits aufgrund dieser Erkenntnislage ist ausgehend vom Alter der Klägerin die Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung für die Klägerin nicht hinreichend wahrscheinlich, so dass sich eine Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet aufdrängt.
Überdies ist davon auszugehen, dass der Klägerin interner Schutz vor Verfolgung zur Verfügung steht, § 3e Abs. 1 AsylG. Da Genitalverstümmelungen in ländlichen Gebieten weiter verbreitet sind als in den Städten, ist es den Eltern der Klägerin im Fall einer tatsächlichen Bedrohung möglich, sich in einem städtischen Gebiet niederzulassen, in welchem die Beschneidungspraxis nicht mehr derart verbreitet ist. So gilt beispielsweise die Durchführung der weiblichen Genitalverstümmelung beispielsweise in Lagos mittlerweile sogar als absolute Ausnahme (vgl. zum Gesamten: Bundesamt für … Informationszentrum Asyl und Migration – weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren – April 2010, S. 44). Auch werden alleinstehende oder allein lebende Frauen im liberaleren Südwesten des Landes – und dort vor allem in den Städten – eher akzeptiert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 10. Dezember 2018, Stand: Oktober 2018, Nr. II.1.8,S. 15). Eine Ansiedlung der Familie der Klägerin kann auch vernünftigerweise außerhalb der vormaligen Aufenthaltsorte der Großfamilien erwartet werden. Auch ist zu berücksichtigen, dass die gesetzlichen Vertreter der Klägerin eine Beschneidung der Klägerin selbst ablehnen. Die Familie dürfte bei einer Ansiedlung in Nigeria außerhalb der vormaligen Aufenthaltsorte – eine Gefahr der Beschneidung dürfte allenfalls von den Großfamilien ausgehen – hinreichenden Schutz vor der Gefahr einer Beschneidung bieten. Es ist den gesetzlichen Vertretern der Klägerin auch zumutbar, sich in einem anderen sicheren Gebiet des Landes niederzulassen und dort eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, um jedenfalls das Existenzminimum zu sichern. Die Ansiedlung kann vorliegend auch vernünftigerweise erwartet werden. Zum einen wird die Klägerin gemeinsam mit ihren Eltern nach Nigeria zurückkehren. Zudem besteht die Möglichkeit effektiven Schutz und Unterstützung durch staatliche Stellen und NGO’s, die über landesweite Netzwerke verfügen, zu erhalten (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA – Nigeria, Gesamtaktualisierung vom 12.4.2019, Nr. 20, S. 40; Bundesamt für … Informationszentrum Asyl und Migration – weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren – April 2010, S. 44). Dass dies hier aufgrund der Volkszugehörigkeit der Igbo anders sein könnte, gibt es keine Anhaltspunkte. Da in Nigeria kein funktionierendes Meldebzw. Fahndungssystem existiert, erscheint es als völlig abwegig, dass der Vater der Klägerin bei einer Einreise nach Nigeria beispielsweise am Flughafen bzw. an der Grenze als Volkszugehöriger der Igbo identifiziert würde und dies über soziale Kontakte die Beschneidung der Klägerin zur Folge hätte. Ebenfalls ist bereits nicht ersichtlich, wie die fehlende Beschneidung der Klägerin bei einer Ansiedlung in einer nigerianischen Großstadt überhaupt bekannt werden sollte. Dafür fehlen jegliche Anhaltspunkte.
Aus den gleichen Gründen scheidet auch die geltend gemachte Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte im Sinne von Art. 16a GG offensichtlich aus.
Weiter liegen zugunsten der Klägerin die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt) offensichtlich nicht vor.
b) Ein landesweiter innerstaatlicher Konflikt ist für den Herkunftsstaat der Klägerin nicht festzustellen. Ein solcher kann auch nicht im Hinblick auf die religiös motivierten Auseinandersetzungen in Nigeria angenommen werden. Die insoweit immer wieder aufkommenden, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Gruppen bzw. die Angriffe und Auseinandersetzungen mit der Gruppierung „Boko Haram“ sind überwiegend regional begrenzt und weisen nicht die Merkmale eines innerstaatlichen Konflikts im Sinne der Vorschrift auf. Eine landesweite Verübung von Terrorakten durch die Organisation „Boko Haram“ findet nicht statt (vgl. dazu: AA, Lageberichte von Nigeria vom 16. Januar 2020, 10. Dezember 2018, 21. Januar 2018, 26. November 2016, 28. November 2014, jew. Zusammenfassung S. 5). Vielmehr konzentrieren sich die Auseinandersetzungen hauptsächlich auf den Norden bzw. Nordosten Nigerias.
Die Klägerin wäre zusammen mit ihren ebenfalls ausreisepflichtigen Eltern und ihrer Schwester daher in der Lage, diesen Konflikten durch Rückkehr in weniger gefährdete Gebiete im Sinne eines internen Schutzes (§ 3e AsylG) aus dem Weg zu gehen.
3. Auch an der Rechtmäßigkeit der Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) keine Zweifel.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris Rn. 26; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 25).
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Dies ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger nichtstaatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will (EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 – 8319/07 und 11449/07 – NVwZ 2012, 681). Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt und „nichtstaatliche“ Gefahren für Leib und Leben im Zielgebiet aufgrund prekärer Lebensbedingungen vorliegen, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK als unmenschliche Behandlung zu qualifizieren sein (VGH BW, U.v. 24.7.2013 – A 11 S 697/13 – juris Rn. 79 ff.).
Schlechte humanitäre Verhältnisse können somit nur in ganz „besonderen Ausnahmefällen“ Art. 3 EMRK verletzen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris Rn. 26).
Dabei können Ausländer aber grundsätzlich kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Denn Art. 3 EMRK verpflichtet die Staaten nicht, Unterschiede im Fortschritt in der Medizin sowie Interschiede in sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versorgung von Ausländern ohne Bleiberecht zu beseitigen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 23). Nur in ganz außergewöhnlichen Fällen können auch schlechte humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe zwingend gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie beispielsweise im Fall einer tödlichen Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat diesbezüglich keine Unterstützung besteht (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 23 ff.).
Dies zugrunde gelegt ist zu Gunsten der Klägerin ein Abschiebeverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht gegeben. Bei einer naheliegenden und unterstellen Rückkehr der Klägerin zusammen mit ihren ebenfalls ausreisepflichtigen Eltern und ihrer Schwester liegen die Voraussetzungen für die Gewährung eines zielstaatsbezogenen Abschiebeverbots nicht vor. Überdies bleibt festzustellen, dass auch nach Nigeria zurückgeführte Personen, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit finden, bei einer Rückkehr keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet werden.
Schließlich liegen auch die Voraussetzungen für ein Abschiebeverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vor. Diesbezüglich fehlt es bereits an einem berücksichtigungsfähigen Vortrag der Klägerin. Nennenswerte gesundheitliche Einschränkungen sind im Verfahren nicht geltend gemacht worden. Überdies gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also – wie hier – die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
Dies gilt auch unter Berücksichtigung der sich wohl auch in Afrika ausbreitenden Corona-Pandemie. Auch dieser Umstand ist nicht geeignet, zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu führen. Insoweit gilt es die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG zu beachten. Danach sind Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nur bei einer Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine derartige allgemeine Entscheidung hinsichtlich des Zielstaats Nigeria i.S.d. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegt derzeit nicht vor. Eine persönliche Betroffenheit von der Krankheit selbst hat die Klägerin bzw. deren gesetzliche Vertreter nicht aufgezeigt. Es ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wäre. Davon kann nicht ausgegangen werden. Insbesondere in Bezug auf die Klägerin ist zu berücksichtigen, dass die Erkrankungen bei Kindern seltener und in der Regel mild verlaufen (vgl. https://www.rki.de/DE/content/infaz-n/neuartiges:_coronavirus/steckbrief.html#boc13776792body2.)
Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sind überdies in Nigeria lediglich 56.604 Corona-Fälle bestätigt, wovon 47.872 Personen genesen sind und es lediglich zu 1.091 Todesfällen gekommen ist (Quelle: COVID-19 pandemic data, Wikipedia, Stand: 17.9.2020). Demnach handelt es sich um eine lediglich abstrakte Gefährdung, der im Rahmen des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu begegnen ist. Dieser Umstand ist daher nicht geeignet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu begründen.
Gleiches gilt letztlich für eine lediglich befürchtete Hepatitis B-Erkrankung. Es wurde bereits kein qualifizierter Nachweis erbracht, dass eine solche Erkrankung bei der Klägerin überhaupt vorliegt. Darüber hinaus weist das Gericht darauf hin, dass nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln eine Hepatitis B-Erkrankung in Nigeria behandelbar wäre. Auch wenn die Gesundheitsversorgung in Nigeria vor allem auf dem Lande mangelhaft ist, finden Rückkehrer allerdings in den Großstädten eine ausreichende medizinische Versorgung vor, da es sowohl staatliche als auch zahlreiche privatbetriebene Krankenhäuser gibt und auch aufwendigere Behandlungsmethoden möglich sind. Überdies weist das Gericht darauf hin, dass angesichts der hohen Hepatitis-B-Prävalenz in Nigeria festzuhalten bleibt, dass es sich hinsichtlich dieser dort weit verbreiteten Krankheit um eine allgemeine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG handelt, die eine ausländerpolitische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG erfordern würde (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.1998 – 9 C 13/97 – juris Leitsatz 1; BVerwG, U.v. 29.7.1999 – 9 C 2/99 – juris Rn. 9), die jedoch nicht vorliegt.
4. Die auf die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet beruhende Ausreiseaufforderung mit einwöchiger Ausreisefrist und die gleichzeitig erfolgte Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 36 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sind demnach jedenfalls in der Fassung des Schreibens der Beklagten vom 29. Juni 2020 nicht zu beanstanden.
5. Nach allem war die Klage damit mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.
Das Urteil ist gemäß § 78 Abs. 1 Satz 2 AsylG unanfechtbar.


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