Verwaltungsrecht

Keine Verfolgung bei legaler Ausreise mit einem eigenen Reisepass aus der Türkei

Aktenzeichen  Au 6 K 19.30654

Datum:
26.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24528
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht bereits die unbehelligte Ausreise mit eigenem Reisepass. Da in der Türkei strenge Ausreisekontrollen stattfinden, wird türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, bereits die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die trotz Ausbleibens der Beteiligten verhandelt werden konnte, da sie zuvor darauf hingewiesen worden waren (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Asyl, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 30. April 2019 ist daher im angefochtenen Teil rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a GG.
Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG ist grundsätzlich staatliche Verfolgung und sie ist politisch, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Allgemein liegt dem Asylgrundrecht die von der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung zugrunde, dass kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in seiner politischen Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder in für ihn unverfügbaren Merkmalen liegen, die sein Anderssein prägen (asylerhebliche Merkmale); von dieser Rechtsüberzeugung ist das grundgesetzliche Asylrecht maßgeblich bestimmt. Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass eine Verfolgung sich als eine politische darstellt, liegt darin, dass sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, also – im Unterschied etwa zu einer privaten Verfolgung – einen öffentlichen Bezug hat, und von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist, sowie wegen des asylerheblichen Merkmals erfolgt (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 38 f., 44). Auch eine staatliche Verfolgung von Taten, die aus sich heraus eine Umsetzung politischer Überzeugung darstellen, kann grundsätzlich politische Verfolgung sein, und zwar auch dann, wenn der Staat hierdurch das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder seiner politischen Identität verteidigt. Es bedarf einer besonderen Begründung, um sie gleichwohl aus dem Bereich politischer Verfolgung herausfallen zu lassen (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 52 f.).
Voraussetzung für eine vom Staat ausgehende oder ihm zurechenbare Verfolgung ist die effektive Gebietsgewalt des Staates im Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit. Verfolgungsmaßnahmen Dritter sind dem Staat daher zuzurechnen, wenn er schutzfähig, aber er nicht bereit oder nicht in der Lage ist, mit den ihm verfügbaren Mitteln Schutz zu gewähren (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 46). Ist politische Verfolgung hiernach grundsätzlich staatliche Verfolgung, so steht dem nicht entgegen, dass die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung dem Staat solche staatsähnlichen Organisationen gleichstellt, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 40 a.E.).
Daher fehlt es an der Möglichkeit politischer Verfolgung, solange der Staat bei offenem Bürgerkrieg im umkämpften Gebiet faktisch nur mehr die Rolle einer militärisch kämpfenden Bürgerkriegspartei einnimmt, als übergreifende effektive Ordnungsmacht aber nicht mehr besteht. Gleiches gilt in bestimmten Krisensituationen eines Guerilla-Bürgerkriegs. In allen diesen Fällen ist politische Verfolgung allerdings gegeben, wenn die staatlichen Kräfte den Kampf in einer Weise führen, die auf die physische Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind, vollends wenn ihre Handlungen in die gezielte physische Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität eines nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Bevölkerungsteils umschlagen (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 56 ff.).
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger – die behaupteten türkischen Maßnahmen gegen ihn hier vorläufig als wahr unterstellt – keine politische Verfolgung erlitten. Da er legal auf dem Luftweg ausgereist ist, hat er unbehelligt die staatlichen Kontrollen passieren können, was gegen eine staatliche Verfolgung bzw. überhaupt ein Interesse am Kläger spricht.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 16) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 16).
Soweit keine Beweiserleichterung wie bei Vorverfolgung oder in Widerrufsfällen nach Art. 4 Abs. 4 bzw. Art. 14 Abs. 2 RL 2011/95/EU greift, bleibt es im Umkehrschluss beim allgemeinen Günstigkeitsprinzip, wonach die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter für sich günstige Rechtsfolgen herleitet, zu seinen Lasten geht, also der Schutzsuchende (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 26 ff.).
Das Tatsachengericht hat sich im Rahmen der o.g. tatrichterlichen Würdigung volle Überzeugung zur Gefahrenprognose zu bilden, also ob bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in den behaupteten Verfolgerstaat diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Für die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit bedarf es weder einer eindeutigen Faktenlage noch einer mindestens 50%-igen Wahrscheinlichkeit. Vielmehr genügt – wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt -, wenn bei zusammenfassender Würdigung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 22). Lückenhafte Erkenntnisse, eine unübersichtliche Tatsachenlage oder nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet stehen ebenso wenig wie gewisse Prognoseunsicherheiten einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 22). Kann das Tatsachengericht dennoch keine Überzeugung gewinnen und bestehen keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und nach o.g. Maßstäben eine Beweislastentscheidung zu treffen.
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger keine politische Vorverfolgung erlitten oder bei einer Rückkehr erneute oder erstmalige Verfolgung zu befürchten.
a) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben Asylbewerber aus der Türkei nicht zu befürchten. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. SächsOVG, B.v. 9.4.2019 – 3 A 358/19 – Rn. 13; BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – Rn. 6).
b) Der Kläger konnte auch mit seinem individuellen Vortrag sonst nicht glaubhaft machen, dass ihm in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.
Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen und darauf hinzuweisen, dass der gesamte Vortrag des Klägers zu angeblich in der Türkei erlittenen Verfolgungsmaßnahmen angesichts seiner offenkundigen Lügen in anderen Bereichen schlicht nicht glaubhaft ist. Der Kläger hat durch sein Nichterscheinen in der mündlichen Verhandlung auch die Gelegenheit verstreichen lassen, die offenkundigen Widersprüche in seinem Vorbringen glaubwürdig aufzulösen:
Den Besitz eines Reisepasses mit Visum hatte der Kläger in seiner polizeilichen Anhörung am 17. Dezember 2018 rundweg geleugnet und angegeben, keinen Reisepass und auch kein Visum zu haben; eine Recherche im Datenbanksystem ergab jedoch die oben genannte Visaerteilung. Zum Besitz eines Reisepasses hatte der Kläger danach bei der Zentralen Ausländerbehörde am 15. Januar 2019 gesagt, er habe Reisepass und Personalausweis sowie den Führerschein vom Schleuser in * abgenommen erhalten (BAMF-Akte Bl. 110). Nun aber hat er mit diesem Reisepass geheiratet. Mangels anderer Erklärung ist davon auszugehen, dass der Kläger den Reisepass nie verloren, sondern schlicht gegenüber den Ausländerbehörden und der Beklagten unterdrückt hatte. Dafür spricht bereits die damalige Einschätzung der ihn anhörenden Person, bei der Befragung habe der Kläger eine Kopie seiner Identitätskarte und seines Führerscheins vorgelegt, die er sich angeblich aus dem Heimatland per Post habe schicken lassen. Diese Kopien seien jedoch nicht geknickt und die anhörende Person bezweifelte, dass diese Kopien in der Türkei angefertigt worden seien. Sie sei sich vielmehr sicher, dass die Dokumente beim Bruder im Original vorhanden seien (ebenda Bl. 115).
Widersprüchlich waren auch die Angaben des Klägers zum angeblichen Verlust des Reisepasses und seiner weiteren Dokumente, denn in seiner polizeilichen Anhörung am 17. Dezember 2018 gab er an, nach der Ankunft in * seien sie empfangen worden und der Mann habe ihnen die Reisepässe abgenommen (ebenda Bl. 7). Auch in seiner Anhörung vor der Zentralen Ausländerbehörde am 15. Januar 2019 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 110 ff.), er habe Reisepass und Personalausweis sowie den Führerschein vom Schleuser in * abgenommen erhalten (ebenda Bl. 110). Demgegenüber gab er beim Bundesamt an, er könne keine Personalpapiere vorlegen, denn als er in * angekommen sei, habe der Mitarbeiter des Schleusers seine Tasche verloren, in der die Papiere gewesen seien (ebenda Bl. 99); ein Mitarbeiter des Schleusers habe ihn in * in Empfang genommen, sie seien ein Stück mit dem Taxi gefahren, ausgestiegen, um Zigaretten zu kaufen, danach sei das Taxi und der Mann und seine Tasche weg gewesen (ebenda Bl. 102). Es ist ein erheblicher Unterschied, ob der Kläger die Dokumente gezielt vom Schleuser abgenommen erhalten oder die Tasche in dessen Pkw liegen gelassen haben will. Dieser Widerspruch ist weiter offen.
Ebenso offen ist geblieben, wie der Kläger wieder in Besitz seines Reisepasses gelangt sein will, mit dem er zwischenzeitlich geheiratet hat. Es deutet also alles auf eine gezielte Passunterdrückung zwecks Verhinderung einer Aufenthaltsbeendigung bis zur Ermöglichung einer Heirat in Deutschland hin.
Widersprüchlich ist auch die behauptete Erlangung des Reisepasses. Der Kläger hat dazu, wie er den vom 26. Juli 2018 bis 26. Oktober 2026 gültigen Reisepass trotz angeblicher staatlicher Verfolgung erlangt hat, ebenfalls keine plausiblen Angaben gemacht: Auf Nachfrage, wie er trotz der von ihm behaupteten intensiven Überwachung wegen eines Kontakts mit der YPG für sieben Monate in * habe leben können, einen neuen Pass habe bekommen und problemlos ausreisen können, angegeben, sein Anwalt habe ihm damals gesagt, er solle die Stadt verlassen, deshalb sei er nach * gegangen. Es habe auch bei der Ausreise die Gefahr bestanden, dass er jederzeit festgenommen hätte werden können […] (ebenda Bl. 103). Wäre der Kläger bereits bei der Reisepassbeantragung landesweit gesucht worden, hätte er gar keinen Reisepass erhalten. Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht bereits die unbehelligte Ausreise mit eigenem Reisepass. Da in der Türkei strenge Ausreisekontrollen stattfinden, wird türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, bereits die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 11.6.2018, S. 1 f.; näher dazu unten). Ein Personalausweis hingegen wird ausgestellt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14). Im Allgemeinen ist eine unbehelligte Ausreise ein Indiz gegen das Vorliegen eines Haftbefehls oder einer Ausreisesperre (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10.4.2019 an das VG Regensburg, S. 2 f. zu Frage 7) und damit gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse. Dies gilt auch hier.
Gegen die Glaubwürdigkeit des Klägers sprechen weiter die späte Asylantragstellung und die Falschangaben zu seinen damit verbundenen Motiven und Verwandtschaftsbeziehungen: Er reiste ausweislich des in seinem Reisepass enthaltenen Grenzkontrollstempels bereits am 8. Oktober 2018 auf dem Luftweg aus der Türkei aus und u.a. über den Flughafen * mit einem bis 14. Oktober 2018 gültigen Visum erlaubt nach Deutschland ein, äußerte hier aber erst zwei Monate nach Ablauf des Visums am 17. Dezember 2018 ein Schutzersuchen. Wäre der Kläger ernstlich in Gefahr gewesen, hätte er unverzüglich Schutz gesucht und nicht sich unerlaubt im Bundesgebiet aufgehalten.
Stattdessen habe er sich – wohlgemerkt mit einem keine Erwerbstätigkeit erlaubenden Touristenvisum – um Arbeit gekümmert und bei anderen syrischen Kurden die Nächte verbracht. Sein oberstes Ziel sei, eine Arbeit zu finden, sodass er seine Familie zu Hause unterstützen könne. Er habe sich bereits eine Woche in * aufgehalten, aber auch dort keine Arbeit gefunden. Nun lebe er seit ca. einem Monat in *. In * habe man ihm erzählt, dass man in * Arbeit finden würde. Dort kenne er aber keine Personen, er wechsele alle 2-3 Tage die Wohnung (BAMF-Akte Bl. 7). Auch darin hatte der Kläger gelogen, denn in seiner Dublin-Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 10. Januar 2019 gab der Kläger auch an (BAMF-Akte Bl. 57 ff.), er habe einen Bruder in der Nähe von * (*). Mithin kannte er dort durchaus jemanden. Später räumte er sogar ein, er habe dort vom 9. Oktober 2018 bis zum 17. Dezember 2018 bei seinem Bruder in * gewohnt, bevor er sich gemeldet habe (ebenda Bl. 115). Deutlicher können die Lügen des Klägers nicht entlarvt werden!
Schließlich sind auch seine sonstigen Einreisemotive so asylfern, dass auch sie nicht die Annahme einer ernsten Verfolgungsfurcht tragen: Er gab zunächst an, sein oberstes Ziel sei, eine Arbeit zu finden, sodass er seine Familie zu Hause unterstützen könne (BAMF-Akte Bl. 7). Sein Ziel sei, in Deutschland bleiben zu können, um seine Familie auch nachzuholen oder sie wenigstens finanziell zu unterstützen, je nachdem, was besser sei für seine Kinder (ebenda Bl. 8). Ebenso machte er beim Bundesamt Sorgen um seine Frau und seine Kinder geltend (ebenda Bl. 101). Tatsächlich aber hat er seine Frau, die angeblich kein Türkisch spreche und selbst beim Arzt einen Dolmetscher benötige, nun in der Türkei allein mit sechs Kindern zurückgelassen, sich von ihr scheiden lassen und in * geheiratet.
Alles zusammen spricht dies – jedenfalls von seiner Seite aus – für eine Zweckehe, aber nicht für eine ernst gemeinte Sorge um das Wohlergehen seiner Frau und Kinder in der Türkei. Möglicherweise hofft er, sie nach Deutschland nachholen zu können, sobald er ein von seiner jetzigen Ehe unabhängiges Aufenthaltsrecht erlangt hat.
Da die Angaben des Klägers zu seiner angeblichen Verfolgungsgeschichte in der Türkei nur auf seinen Angaben beruhen, ohne dass hierfür objektive Nachweise wie Gerichtsdokumente, Haftbefehle oder dgl. vorgelegt worden sind, umgekehrt aber die objektiv nachprüfbaren Tatsachen gegen eine ernst gemeinte Verfolgungsfurcht sprechen (Passerlangung, unbehelligte Ausreise, hinausgezögerte Asylantragstellung, asylfremde Aufenthaltsmotive), ist zur Überzeugung des Einzelrichters insgesamt von einer Unglaubwürdigkeit des Klägers auszugehen.
3. Der Kläger hat aus diesen Gründen auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG.
4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
5. Nachdem sich auch die Abschiebungsandrohung wegen der – mangels trotz gerichtlicher Aufforderung in der Ladung nachgewiesenen Aufenthaltstitels wohl noch bestehenden – Ausreisepflicht aus § 50 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG nicht angefochten worden ist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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