Verwaltungsrecht

Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei Schutz durch UNRWA im Gazastreifen

Aktenzeichen  AN 17 K 18.31437

Datum:
15.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 31322
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 S. 1, § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3

 

Leitsatz

1. Die aktuelle politische Entwicklungen und die damit einhergehende Kürzungen bzw. Einfrierungen von finanziellen Unterstützungsleistungen an die Palästinensische Autonomiebehörde und die UNRWA vermögen derzeit nicht die Einschätzung zu tragen, dass die UNRWA ihre Tätigkeit in Gänze im Gazastreifen eingestellt hätte. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die bloße Abwesenheit aus dem Einsatzgebiet des UNRWA oder die freiwillige Entscheidung, dieses zu verlassen, führt nicht zu einem Wegfall des Schutzes oder Beistandes iSd § 3 Abs. 3 S. 2 AsylG. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1. Das Gericht konnte in der Sitzung am 11. November 2019 über den Rechtsstreit verhandeln und entscheiden, obwohl kein Vertreter der Beklagten anwesend war. In der ordnungsgemäßen Ladung an die Parteien war auf diesen Umstand hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
2. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingereichte Klage, die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage statthaft ist (§ 44 VwGO), ist unbegründet. Der klagegegenständliche Bescheid erweist sich im Umfange seiner Anfechtung als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in dessen subjektiven Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klage war daher abzuweisen.
Das Gericht macht zunächst von der ihm gesetzlich eingeräumten Befugnis gemäß § 77 Abs. 2 Alt. 1 AsylG Gebrauch und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, soweit es dem angegriffenen Bescheid in dessen Gründen folgt. Diese Bescheidsgründe macht sich der erkennende Einzelrichter zu Eigen.
Ergänzend ist jedoch insbesondere zu den Klagebegründungsschriftsätzen der Klägerbevollmächtigten und dem Vortrag in der mündlichen Verhandlung wie folgt noch auszuführen.
a) Die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention, BGBl. 1953 II S. 560) ist einem Ausländer nach § 3 Abs. 1 u. 4 AsylG zuzuerkennen, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu ei-ner bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder wenn er sich aus den genannten Gründen außerhalb des Landes befindet, in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Als Verfolgungshandlungen sind nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG solche Handlungen anzusehen, die auf-grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach § 3a Abs. 2 AsylG zählen dazu un-ter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, diskriminierende gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, wie auch unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, insbesondere wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG). Bei den Akteuren, von denen die Verfolgung ausgeht, muss es sich nach § 3c AsylG um den Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesent-lichen Teil des Staatsgebiets beherrschen oder nichtstaatliche Akteure handeln, sofern die zu-vor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen und dauerhaften Schutz vor Verfolgung zu bieten. Für die Frage, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er das entsprechende, zur Verfolgung führende Merkmal tatsächlich aufweist, ausreichend ist, dass es ihm von dem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG zu-geschrieben wird.
Ob eine solche Bedrohungslage für den Ausländer vorliegt und ihm bei seiner unterstellten Rückkehr politische Verfolgung droht, hat das Gericht anhand einer Prognose zu beurteilen (vgl. BVerwG, U. v. 6.3.1990 – Az. 9 C 14.89). Auszugehen ist hierfür zunächst von seinem bisherigen Schicksal, weil in der Vergangenheit liegenden Umständen auch Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zukommt (vgl. BVerwG, U. v. 27.4.2010 – Az. 10 C 5.09 – juris, Rn. 23; EuGH, U. v. 2.3.2010 – Az. C- 175/08 – juris, Rn. 92 ff.), aber auch nachträglich eingetretene Ereignisse sind zu berücksichtigen, weil nach § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf solchen Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer sein Herkunftsland verlassen hat. Die Prognoseentscheidung hat am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, U. v. 1.3.2012 – Az. 10 C 7.11 – juris, Rn. 12). Es ist danach zu fragen, ob bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände des Falls ein vernünftig denkender und besonnener Mensch es ablehnen müsste, in sein Land zurückzukehren, weil die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U. v. 23.2.1988 – Az. 9 C 32.87 – juris, Rn. 16; U. v. 15.3.1988 – Az. 9 C 278.86 – juris, Rn. 23; Vorlagebeschluss v. 7. 2.2008 – Az. 10 C 33.07 – juris, Rn. 37). Entscheidend ist also der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, U. v. 23.7.1991 – Az. 9 C 154.90 – juris, Rn. 28; U. v. 5.11.1991 – Az. 9 C 118.90 – juris, Rn. 17). Diese wird noch nicht berührt, wenn die politische Verfolgung lediglich eine theoretische Möglichkeit darstellt. Nicht zu fordern ist aber auch, dass der mathematische Wahrscheinlichkeitsgrad in jedem Fall 50% übersteigt, auch eine geringere Wahrscheinlichkeit kann ausreichend sein. Zu berücksichtigen ist insbesondere die Schwere des befürchteten Eingriffs. So macht es etwa für die Erwägungen eines besonnenen Menschen einen erheblichen Unterschied, ob er bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat lediglich eine geringe Freiheitsstrafe oder eine Geldbuße zu erwarten hat, oder aber ob ihm Folter, Misshandlung oder gar die Todesstrafe drohen (vgl. BVerwG, U. v. 5.11.1991 – Az. 9 C 118.90 – juris, Rn. 17; Vorlagebeschluss v. 7.2.2008 – Az. 10 C 33.07 – juris, Rn. 37). An die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Verfolgung im Falle der Rückkehr sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer und einschneidender die zu erwartende Verfolgungshandlung ist.
§ 3 Abs. 3 Satz 1AsylG enthält die Ausschlussklausel, wonach ein Ausländer dann nicht Flüchtling nach Abs. 1 ist, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Art. 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt.
Ausgehend davon ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG nicht zuzu-erkennen.
Sie scheitert schon an der Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG. Zu den hier genann-ten Schutz und Beistand leistenden Organisationen und Einrichtungen zählt auch die durch Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Nr. 302/IV vom 8. Dezember 1949 errichtete United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA), deren Aufgabe in der Hilfeleistung für palästinensische Flüchtlinge in Jordanien, im Libanon, in Syrien, der W. Bank und dem Gazastreifen besteht. Schutz und Beistand genießen alle Personen, die bei der UNRWA als Palästina-Flüchtlinge registriert sind (vgl. BVerwG, U. v. 21.1.1992 – Az. 1 C 21.87 – juris, Rn. 22). Aus der in der Bundesamtsakte befindlichen Registrierungskarte geht hervor, dass der Kläger und seine Eltern und seine Schwester als Familie bei der UNRWA registriert sind. Der Kläger unterfällt damit der Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG.
Auch aktuelle politische Entwicklungen und Entscheidungen insbesondere der Vereinigten Staaten von Amerika in der jüngeren Vergangenheit betreffend die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und damit einhergehende Kürzungen bzw. Einfrierungen von finanziellen Unterstützungsleistungen an die Palästinensische Autonomiebehörde und die UNRWA (vgl. dazu: Bundesverwaltungsgericht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, U. v. 22.8.2019 – D-5499/2017, Ziffer 7.2.5 d. UA, abrufbar unter: https://…ch/publiws/) vermögen derzeit eine gegenteilige Einschätzung zugunsten des Klägers nicht zu tragen. Dass die UNRWA ihre Tätigkeit aufgrund dieser Entwicklungen in Gänze im Gazastreifen eingestellt hätte (§ 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG), ist weder vorgetragen noch aus den aktuellen Erkenntnismitteln des Gerichts ersichtlich.
Auch der Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Mai 2019 (Az. 1 C 5.18 – BeckRS 2019, 16488) bot dem erkennenden Gericht keinen Anlass, die hier vorliegende Rechtssache einer anderen, dem Kläger günstigen Bewertung zu unterziehen. Die Sachverhalte der vorstehenden Vorlagesache des Bundesverwaltungsgerichts und der hier streitgegenständlichen Vortrags sind insoweit nicht identisch, als dass es beim Kläger nicht auf unterschiedliche Operationsgebiete der UNRWA ankommt.
Ungeachtet dessen hat der Kläger aber auch keine politische Vorverfolgung im Gazastreifen glaubhaft vorgetragen. Sein Hauptargument besteht letztlich darin, dass er sich den Anwerbeversuchen der Hamas, die auch durch seinen älteren Bruder unterstützt worden seien, widersetzt habe und dadurch von ihm unbekannten Personen mit dem Verlust seiner Arbeitstätigkeit, mit Schlägen und mit Inhaftierung bedroht worden sei. Im Einzelnen hätten sich der Verlust seiner Arbeit und eine Inhaftierung über mehrere Monate bereits realisiert.
In der mündlichen Verhandlung trug der Kläger zudem vor, seiner Mutter seien nach seiner Ausreise aus dem Gazastreifen auch zwei Vorladungen der lokalen Polizei für den Kläger übergeben worden, die insoweit eine erneute Inhaftierung befürchten ließen. Unter Beachtung des vorstehend genannten Maßstabs des Bundesverwaltungsgerichts zur Eingriffsintensität kann das Gericht darin keine asylerheblichen Verfolgungshandlungen erkennen. Ungeachtet des Umstandes, dass das Gericht anhand der vom Kläger vorgelegten Fotokopien ihn betreffender Vorladungen nicht ohne weiteres entnehmen kann, ob diese tatsächlich auf Veranlassung von Hamas-Anhängern oder nicht doch auf Veranlassung der Palästinensischen Autonomiebehörde ausgestellt worden sind, sind auch bei für den Kläger günstiger Betrachtungsweise keine erheblichen zu erwartenden Eingriffe zu befürchten. Die Vorladungsschreiben, die einen Grund hierfür nicht klar benennen, datieren aus März und September 2018. Dass aufgrund deren Nichtbefolgung für den Kläger weitere Konsequenzen der lokalen Polizei zu erwarten stehen oder damit gar bereits gedroht worden sei, hat der Kläger nicht vorgetragen, obgleich er mit seinen Eltern bzw. seiner Mutter im regelmäßigen telefonischen Kontakt steht. Gerade der Umstand, dass nunmehr seit über einem Jahr nach dem zweiten Vorladungsschreiben solcherart Verfügungen nicht erneut an den Kläger ergangen sind, spricht vielmehr dafür, dass die lokale Polizei kein weiteres Interesse an der Person des Klägers hat.
Auch die vom Kläger beschriebenen Anwerbeversuche seines Bruders und ihm unbekannter Personen für eine Zusammenarbeit mit der Hamas überschreitet nach Überzeugung des Gerichts nicht die asylerhebliche Handlungsschwelle. Der Kläger hat diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung nur vage Aussagen getroffen, es jedoch nicht vermocht, einen in sich stimmigen und in jeder Hinsicht nachvollziehbaren Sachverhalt zu präsentieren. Angaben hat er vor allem zu seiner Inhaftierung nur spärlich und erst auf mehrmalige Nachfrage des Gerichts und seiner Bevollmächtigten getätigt. So ist etwa nicht erklärlich, warum der Kläger davon ausgeht, seine Inhaftierung hänge mit seiner Weigerung zusammen, sich der Hamas anzuschließen. In der Anhörung vor dem Bundesamt behauptete er dies zwar, gab aber auch an, er habe seine Unschuld mit Hilfe eines Rechtsanwalts beweisen können und sei daraufhin freigelassen worden. Der Nachweis einer Unschuld – in welchem Sinne auch immer – und eine vorzeitige Haftentlassung sprechen eher gegen die Anwendung von Haft als Beugemittel für die Herbeiführung der Mitwirkungsbereitschaft beim Kläger. In der mündlichen Verhandlung bekundete er zudem, ihm sei überhaupt kein Grund für seine Inhaftierung genannt worden und er habe auch nichts unterschreiben müssen. Woher also die Verbindung zwischen seiner Inhaftierung und einer möglichen Verweigerung seiner Mitarbeit für die Hamas herzustellen ist, konnte der Kläger mit seinem Vortrag nicht schlüssig erklären. Selbst wenn eine solche Verbindung als wahr unterstellt werden könnte, wird durch den Vortrag des Klägers deutlich, dass es ihm offenbar mit familiärer Hilfe gelang, diejenigen, von denen er Verfolgung befürchtet, dazu zu bringen, die „übliche“ Haftzeit in seinem Fall zu verkürzen. Auch, wenn man insoweit weiter zu Gunsten des Klägers als wahr unterstellt, dass die Einwirkungsmöglichkeiten der Familienmitglieder des Klägers auf Hamas-Verantwortliche mit der Einflussnahme auf die Haftzeitverkürzung damit weitestgehend ausgeschöpft waren, ist jedoch im Hinblick auf den Vortrag des Klägers betreffend die Zeit zwischen Haftentlassung und seiner Ausreise aus dem Gazastreifen wiederum keine Intensivierung der Verfolgungshandlung „Anwerbeversuche mit Bedrohungslage“ zu erkennen. Darauf weist die Beklagte in ihrem Bescheid zutreffend hin. Eine solche Intensivierung hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht schlüssig vorgetragen, sondern vielmehr bekundet, er habe nach seiner Haftentlassung noch 40 Tage zuwarten können, bis er sich zur Ausreise entschlossen habe. Dass er etwa geschlagen oder direkt mit dem Tode bedroht worden sei, hat er nicht vorgetragen. Vielmehr blieb es bei verbalen Bedrohungen der Hamas-Anwerber. Auch der Arbeitsplatzverlust, so er im Sinne des Vortrags des Klägers als wahr unterstellt werden kann, erreicht im Einzelnen und in der Summe mit allen weiteren vom Kläger vorgetragenen Verfolgungshandlungen keine asylrelevante Qualität. Die weiteren Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung, was er bei seiner Rückkehr in den Gazastreifen befürchte, sind höchst spekulativ und ohne dahingehende valide Anhaltspunkte am Extremen gemessen.
Die für eine „ipso facto“-Flüchtlingsanerkennung notwendigen Voraussetzungen, die der Europäische Gerichtshof dahingehend konkretisiert hat, dass die nationalen Gerichte zu prüfen haben, ob der Wegzug des Asylsuchenden durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt ist, die ihn zum Verlassen dieses Gebiets zwingen und somit daran hindern, den vom UNRWA gewährten Beistand zu genießen (EuGH, U. v. 19.12.2012 – C-364/11 – NVwZ-RR 2013, 160), sind im Falle des Klägers also deshalb schon nicht erfüllt, weil die Beweisaufnahme des hier erkennenden Gerichts nicht zu dessen Überzeugung geführt hat, dass der Kläger sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befunden hat und es der UNRWA unmöglich gewesen ist, dem Kläger im Gazastreifen Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der dieser Organisation obliegenden Aufgabe im Einklang stehen. Die bloße Abwesenheit aus dem Einsatzgebiet des UNRWA oder die freiwillige Entscheidung, dieses zu verlassen, führt mithin nicht zu einem Wegfall des Schutzes oder Beistandes im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG bzw. des Art. 12 Abs. 1 lit. a der Qualifikationsrichtlinie 2004/83, nunmehr gleichlautend in Art. 12 der EU-Flüchtlingsschutz-Richtlinie.
Die Anerkennung als Flüchtling kann der Kläger somit aus den zutreffenden Gründen des angegriffenen Bescheids auch unter Beachtung seines im Gerichtsverfahren ergänzenden Vortrags nicht beanspruchen.
b) Dem Kläger steht auch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht zu. Gemäß § 4 Abs. 1 AsylG erhält ein Ausländer subsidiären Schutz, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland bzw. dem Land seines gewöhnlichen Aufenthaltes bei Staatenlosen ein ernsthafter Schaden droht. Hierzu zählen nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Für das Vorliegen dieser Tatbestandsmerkmale hat das Gericht auf Grundlage der ihm vorliegenden Erkenntnismittel und unter Würdigung des klägerischen Vortrags keine Anhaltspunkte.
aa) Das Gericht geht dabei von folgender historischen und aktuellen Situation im Gazastreifen aus (vgl. Bundesverwaltungsgericht der Republik Österreich, Erkenntnis v. 7.1.2019 – Az. L504 2211446-1/2E – abrufbar unter: https://www…gv.at/):
Palästina hat den Status eines Völkerrechtssubjekts. 137 Staaten erkennen Palästina als unabhängigen Staat an. Am 29.11.2012 erhielt Palästina den Status als beobachtendes Mitglied bei der UNO. Konkret bedeutet der Beobachterstatus als Nicht-Mitgliedstaat, den etwa auch der Vatikan innehat, mehr Mitspracherechte bei den Vereinten Nationen. Künftig können die Palästinenser im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung – sofern sie betroffen sind – an Diskussionen teilnehmen und Resolutionen einbringen. Ein weiterer wichtiger Zugewinn ist der Zugang zu Unterorganisationen der UN wie dem Internationalen Strafgerichtshof. Dadurch hätten die Palästinenser das Recht, etwaige Militäroperationen der Israelis in den Palästinensergebieten oder die Siedlungspolitik der israelischen Regierung vor Gericht zu bringen.
Im Dezember 2014 stimmte das europäische Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit (498 Stimmen dafür, 88 dagegen) für die „Quasi“-Anerkennung Palästinas als Staat. Dieses Votum ist rechtlich nicht bindend, aber es sendet eine starke Botschaft an die internationale Gemeinschaft. Schweden ist einen Schritt weiter gegangen und hat Palästina offiziell als Staat anerkannt.
Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO – Palestinian Liberation Organisation) wurde 1974 als einzig legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes von der UNO anerkannt. Im Jahre 1993 folgte die Anerkennung der PLO als einzige Vertreterin der Palästinenser durch Israel, welche im Gegensatz zur Palästinensische Autonomiebehörde (PA – Palestinian Authority) die Palästinenser auch außerhalb der besetzten Gebiete vertritt. Als Dachorganisation für die verschiedenen palästinensischen Parteien und Bewegungen leidet ihre Legitimation jedoch darunter, dass vor allem die Hamas, die im Jahr 2006 immerhin die Wahlen in den gesamten Gebieten gewann, nicht zu ihren Mitgliedern zählt.
Nach dem Erdrutschsieg von Hamas im Jahr 2006 begannen die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der beiden Gruppen, in deren Verlauf Hunderte Menschen ums Leben kamen. Ihren Höhepunkt fanden diese Auseinandersetzungen im Juni 2007 im Gazastreifen, als die Hamas mit Gewalt die Kontrolle über alle Sicherheitseinrichtungen und Regierungsgebäude der PA übernahm. Zahlreiche Mitglieder und Anhänger der Fatah von Palästinenserpräsident Abbas flohen aus Gaza. Von diesem Zeitpunkt an bis April 2014 war Palästina zweigeteilt, in einen von Hamas kontrollierten Gazastreifen und das von Fatah kontrollierte Westjordanland. Am 23. April 2014 einigten sich Hamas und Fatah erneut auf die Bildung einer Einheitsregierung. Am 2. Juni 2014 wurde dann die 17-köpfige Einheitsregierung aus parteilosen Experten unter Führung von Rami Hamdallah vereidigt. Erstmals seit sieben Jahren unterstanden damit das Westjordanland und der Gazastreifen derselben Exekutivgewalt, obgleich de facto die Hamas weiterhin die bestimmende Kraft in Gaza blieb. Die Bildung der neuen Regierung sollte der erste Schritt auf dem Weg zur vollständigen Aussöhnung zwischen Fatah und Hamas sein. Für Anfang 2015 waren Präsidentschafts- und Parlamentswahlen geplant, die jedoch nicht stattgefunden haben.
Die Palästinensischen Gebiete bestehen aus dem Westjordanland, dem Gaza-Streifen und Ost-Jerusalem. Die Palästinensische Behörde wurde 1994 nach Abschluss der Osloer Verträge zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) gegründet. Grundpfeiler des politischen Systems sind der Präsident, die Regierung unter Vorsitz eines Premierministers sowie das Parlament, der sogenannte Legislativrat. Dritte Gewalt ist die unabhängige Justiz. Der Präsident der Palästinensischen Behörde wird vom Volk direkt gewählt. Er ernennt und entlässt die Regierung und unterzeichnet die vom Legislativrat vorgelegten Gesetze. Er ist auch Oberbefehlshaber der Sicherheitsdienste. Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden im Januar 2005 statt. Die Amtszeit von Präsident Abbas ist formal seit 2009 abgelaufen. Die Zahl der Bediensteten der Palästinensischen Behörde wird zurzeit auf 160.000 geschätzt. Seit April 2019 leitet Premierminister und Fatah-Mitglied Mohammed Schtajjeh das palästinensische Kabinett. Der Gaza-Streifen wird de facto aber weiterhin von der Hamas kontrolliert.
Die Bevölkerung in Gaza beläuft sich auf 1,9 Millionen Menschen, wovon etwa 70% registrierte palästinensische Flüchtlinge sind.
Die Parteienlandschaft wird geprägt von Parteien aus den 1960er Jahren wie Fatah, Volksfront für die Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine, PFLP), demokratische Front für die Befreiung Palästinas (Democratic Front for the Liberation of Palestine, DFLP) sowie von relativ jungen Parteien wie der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad, die Ende der achtziger Jahre entstanden. Der Legislativrat (Palestinian Legislative Council, PLC) setzt sich aus 132 Abgeordneten zusammen. Das Wahlrecht sieht Verhältniswahl (Landesebene) und Direktwahl (Bezirksebene) vor. Die letzten Wahlen fanden im Januar 2006 statt; die vierjährige Legislaturperiode ist seit 2010 abgelaufen. Der Legislativrat tagt seit der Machtübernahme der Hamas in Gaza im Juni 2007 nicht mehr.
Nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 kam es 2007 zum Bruch zwischen der Hamas und der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Im Gazastreifen regiert die Hamas seitdem allein und wird höchstens von noch radikaleren Kräften herausgefordert. Am 12. Oktober 2017 unterzeichneten Fatah und Hamas in Kairo erneut ein Versöhnungsabkommen. Nach 2011 und 2014 ist dies der dritte Versuch, den seit mehr als zehn Jahren bestehenden Konflikt zwischen den beiden wichtigsten politischen Bewegungen in Palästina zu überwinden. Am 1. November 2017 erfolgte die Übergabe der Grenzverwaltung von der Hamas an die PA. Die palästinensische Einheitsregierung ist somit gänzlich zuständig für die Grenzübergänge des Gazastreifens. Dennoch hat die PA nur wenig Autorität und die Hamas verfügt über die de facto-Kontrolle in Sicherheits- und anderen Angelegenheiten, obwohl die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) im November 2017 Personal an Gazas Grenzübergängen positioniert hatte. Seit der Spaltung im Jahr 2007 ist Gaza effektiv ein Ein-Parteien-Staat, Restriktionen gegenüber der Fatah werden – abhängig vom Fortschreiten der Versöhnungsgespräche – allerdings manchmal verringert. Der Premier der Einheitsregierung Rami Hamdalla, wäre bei einem Gaza-Besuch im März fast Opfer eines Attentats geworden. Daraufhin froren PA und Fatah die Finanzen für den Gazastreifen ein. Sie fordern zuerst die vollständige Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die PA. Doch die Hamas will den Befehl über ihre Polizei-Milizen nicht abgeben. Es werden keine Gehälter mehr gezahlt, nicht für Strom oder Medikamente. Das Wasser ist verseucht, rund die Hälfte der Bevölkerung arbeitslos. Die innerpalästinensische Aussöhnung zwischen den Parteien Fatah und Hamas stagniert somit trotz des neuen Abkommens. Versöhnungs- und Wiedervereinigungsversuche blieben weiterhin erfolglos.
Die Hamas hatte 2006 bei Parlamentswahlen gesiegt und ein Jahr später gewaltsam die alleinige Kontrolle des Gazastreifens übernommen. Israel, die EU und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein. Seit mehr als einem Jahrzehnt gab es de facto zwei getrennte Regierungen und keine neuen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen mehr. Die Hamas regiert de facto weiterhin Gaza.
Die Sicherheitslage in Israel und den Palästinensischen Gebieten ist wesentlich vom israelisch-palästinensischen Konflikt geprägt.
1994 begann Israel einen Grenzzaun zu bauen, der 2000, während der Intifada, attackiert und danach durch eine Sicherheitsbarriere ersetzt wurde. Dabei richtete Israel auch eine Pufferzone auf dem Gebiet des Streifens ein (was ihn noch schmäler macht), in die laut israelischen Einsatzregeln scharf hineingeschossen werden kann. Die Breite der Zone, bis zu 300 Meter, wird variabel festgelegt. 2005 zog Israel sein Militär und die nach 1967 angesiedelten Israelis aus dem Gazastreifen ab, behielt jedoch die Kontrolle über Außengrenzen und Luftraum unilateral bei: Daraus resultiert der Rechtsstreit, ob der Gazastreifen noch besetzt ist oder nicht. Die letzten Jahre sind geprägt von einem Wechselspiel von Raketenangriffen auf Israel aus dem Gazastreifen, dem Bau von Schmuggel- und Angriffstunnels – und der immer wieder gelockerten und angezogenen Blockade durch Israel.
Für den Gaza-Streifen besteht eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes. Seit Ende März 2018 kommt es immer wieder zu Massenprotesten entlang der Grenze zu Israel, die sich insbesondere im Jahr 2019 durch die Freitagsmärsche verstärkt haben. Gewaltsame Konfrontationen zwischen Demonstranten und der israelischen Armee haben vor allem auf palästinensischer Seite zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert. Mit weiteren Ereignissen dieser Art muss gerechnet werden. Es kommt immer wieder zu massiven Zusammenstößen mit Todesopfern am Grenzzaun; Kundgebungen und Protestaktionen finden weiterhin statt. In den letzten Wochen ist es zu heftigem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen heraus auf israelisches Staatsgebiet und zu israelischen Vergeltungsangriffen gekommen. Es kann weiter zu Zwischenfällen im unmittelbaren Bereich des Grenzzauns kommen. Am 14. Mai 2018, dem Tag der Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem, eskalierten die Spannungen an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel in besonders gewaltsamen Konfrontationen zwischen Demonstranten und der israelischen Armee; sie forderten zahlreiche Todesopfer und Verletzte.
Im Juli 2018 kam es zu einer Verschärfung der Spannungen zwischen Israel und den Palästinensern im Gazastreifen. Die Blockade wurde seitens Israel verschärft, als Reaktion auf zahlreiche Brandsätze, die vom Gazastreifen auf israelisches Gebiet geworfen wurden, und die 1.200 Brände ausgelöst haben. Israel und die Hamas befanden sich am Rande eines offenen Konfliktes, es gab im Juli 2018 alleine 21 tote Palästinenser, davon 14 Zivilisten, darunter sieben Kinder, und einen toten israelischen Soldaten. Die UN und Ägypten verhinderten eine Eskalation durch die Vermittlung eines Waffenstillstandes.
Am 3.August 2018 teilten das Gesundheitsministerium in Gaza sowie ein Vertreter eines Krankenhauses mit, dass ein Palästinenser bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee an der Gaza-Grenze erschossen worden ist. Mindestens 220 weitere Menschen seien verletzt worden, davon 90 durch scharfe Munition. Die Armee sprach von 8.000 Palästinensern, die an fünf Punkten an der Grenze zu Israel versucht hätten, die Sicherheitseinrichtungen zu beschädigen. Eine Gruppe sei nach Israel eingedrungen und habe Brandbomben sowie einen Sprengsatz geworfen. Sie sei danach in den Gazastreifen zurückgekehrt. Ein israelischer Panzer habe daraufhin einen militärischen Stützpunkt der im Gazastreifen herrschenden Hamas angegriffen. Seit Ende März 2018 wurden bei Protesten und Konfrontationen nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza 156 Palästinenser von israelischen Soldaten getötet.
bb) In seiner Beurteilung des Einzelfalles geht das erkennende Gericht von folgenden rechtlichen Maßstäben aus:
Vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist auszugehen, wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als „bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist“, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass – über die Beurteilung des Grads der im betreffenden Gebiet herrschenden Gewalt hinaus – eine Bewertung der Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, des Organisationsgrades der bewaffneten Gruppen oder der Dauer des Konflikts anzustellen ist (vgl. EuGH, U. v. 30.1.2014 – Az. C-285/12 – juris Rn. 18 ff.). Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass der Schutz Suchende beweist, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (EuGH, U. v. 17.2.2009 – Az. C-465/09 – juris). Eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben kann sich auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des Ausländers verdichtet. Eine solche Verdichtung bzw. Individualisierung kann sich aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben (vgl. BVerwG, U. v. 17.11.2012 – Az. 10 C 13/10 – juris Rn. 18).
Für den Kläger als Zivilperson fehlt es vorliegend an einer hinreichenden individuellen Gefährdung durch gefahrerhöhende Umstände seiner Person. Auf die vorstehenden Ausführungen zur Flüchtlingseigenschaft wird insoweit verwiesen. Dabei kann offen bleiben, ob die in ihrer Intensität schwankenden Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas die Anforderungen an einen internationalen Konflikt erfüllen. Denn der Kläger ist weder – wie z.B. ein Arzt – berufstypisch bestimmten örtlichen Gefährdungen ausgesetzt noch liegt eine besondere Gefährdungslage für ihn als nicht politisch aktiven, zuletzt auch nicht mehr im Fuhrgeschäft tätigen Mann vor.
Auch wenn wie hier individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, kann ausnahmsweise gleichwohl eine außergewöhnliche Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. EuGH, U. v. 17.2.2009 – Az. C-465/09 – juris). Erforderlich ist hierfür ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt. Zur Feststellung einer Ausnahmesituation im Zuge eines (unterstellten) internationalen bewaffneten Konfliktes sind eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Zahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich. Insoweit können die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, U. v. 27.4.2010 – Az. 10 C 4/09 – juris Rn. 33 m.w.N.). Damit gilt der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Was die quantitative Beurteilung angeht, hat das Bundesverwaltungsgericht dabei das Risiko, bei innerstaatlichen Auseinandersetzungen mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:800 verletzt oder getötet zu werden, als für die Annahme einer individuellen Gefahr keinesfalls hinreichend angesehen (vgl. BVerwG, U. v. 17.11.2011 – Az. 10 C 13/10 – juris Rn. 22).
Gemessen an diesen Maßstäben kann zwar festgestellt werden, dass sich die Zahl der Todes- und Verletzungsopfer im Jahr 2018 im Gazastreifen erhöht hat. Im beinah abgelaufenen Jahr 2019 sank diese Rate ziviler Opfer indes wieder annähernd auf das Niveau vor 2018, so dass insoweit für das Jahr 2018 von einem Jahr der Extreme auszugehen ist. Nach den dem Gericht vorliegenden Zahlen ergeben sich für 2016 noch 10 palästinensische Todesopfer durch israelische Streitkräfte im Gazastreifen sowie 210 Verletzte, für 2017 28 Todesopfer und 1181 Verletzte (https://www…org/… und https://www…org/…-2018) sowie für das Jahr 2018 253 Todesopfer und 26.608 Verletzte und schließlich für das Jahr 2019 bislang 71 Todesopfer und 11.453 Verletzte (https://www…org/…-2018 und https://www…org/…-2019). Gemessen an einer Bevölkerungszahl von etwa 1,9 Millionen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Palästinensische Gebiete – Gaza, 12.09.2018, S. 7) ergibt sich, wenn man unterstellt, dass es sich durchgängig um zivile Opfer handelt, zwar eine Wahrscheinlichkeit für 2018 von 1,4% Opfer eines Angriffs zu werden. Zu beachten ist aber auch, dass sich nach den Ausführungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (Länderinformationsblatt Gaza, 12.09.2018, S. 10 f.) die Vorfälle überwiegend im Grenzbereich zu Israel ereigneten. Zudem ist die Zahl der Todesopfer von 2016 zu 2018 zwar gestiegen, aber es sind weit mehr Opfer zu verzeichnen, die aufgrund der Angriffe verletzt worden sind. Die Gefahr durch einen Angriff getötet zu werden, betrug für das Jahr 2018 0,013% und für das Jahr 2019 bislang 0,0037%. Bei einer wertenden Gesamtbetrachtung ergibt sich daher nach Auffassung des Gerichts, dass die Gefahr Opfer einer israelischen Vergeltungsaktion zu werden zwar für die Grenzbereiche und Einrichtungen der Hamas erheblich erhöht sein dürfte, aber nicht auf das gesamte Gebiet des Gazastreifens ausgeweitet werden kann (vgl. dazu auch BayVGH, B. v. 20.09.2018 – 15 ZB 18.32223 – Rn. 4 ff., juris, unter Bezugnahme auf die Ausführungen VG Regensburg, U. v. 8.8.2018 – RN K 18.30504).
Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass der Kläger zuletzt nach seinen Angaben in … – und damit grenznah zu Israel – gelebt hat. Der von ihm gehaltene Vortrag zu den Beschüssen seines Elternhauses von israelischer Seite aus trägt jedoch die statistische Vermutung, dass die Gefahr, Opfer einer israelischen Militäraktion zu werden, nicht pauschaliert für das gesamte Gazagebiet angenommen werden kann. Jedenfalls müsste sich der Kläger auf weniger gefährliche Gebiete, etwa der örtlich nahen …Stadt als Rückkehralternative verweisen lassen. Auch subsidiären Schutz kann er aufgrund der vorstehenden Erwägungen des Gerichts für sich nicht beanspruchen, da die Voraussetzungen des § 4 AsylG in der Person des Klägers nicht erfüllt sind. Wie bereits im Prozesskostenhilfebeschluss für den Kläger angemerkt wurde, schließt sich der erkennende Einzelrichter der anderslautenden Bewertung und Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts Berlin nicht an, weswegen sich der Kläger auf das von ihm Bezug genommene Urteil dieses Gerichts im Ergebnis nicht erfolgreich berufen kann.
Hinsichtlich der Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nimmt das Gericht auf die tragenden Gründe des klagegegenständlichen Bescheids Bezug und macht sich diese zu Eigen. Vertiefenden Vortrag im Gerichtsverfahren, der eine andere Betrachtung als im angegriffenen Bescheid vorgenommen wurde, nahelegt, hat der Kläger nicht gehalten.
Der Bescheid erweist sich auch hinsichtlich der weiteren Entscheidungen als rechtmäßig. Ermessensfehler bezüglich der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind weder behauptet noch ersichtlich.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Von der Tenorierung einer vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung wurde abgesehen.


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