Verwaltungsrecht

Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mangels Glaubhaftmachung eines Verfolgungsschicksals

Aktenzeichen  B 4 K 17.32367

Datum:
24.4.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 15943
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 102 Abs. 2
AsylG § 3, § 3b, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Es bestehen keine Anhaltspunkte für eine allgemeine Schutzunfähigkeit oder -willigkeit des sierra-leonischen Staates.  (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar gehört Sierra Leone zu einem der ärmsten Länder der Welt und ein großer Teil der Bevölkerung lebt in absoluter Armut unter prekären wirtschaftlichen Verhältnissen, von einem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann kann aber erwartet werden, dass er sich durch Gelegenheitsarbeiten ein Existenzminimum sichert.  (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1) Das Gericht konnte im vorliegenden Fall über die Klage entscheiden, ohne dass der Kläger oder dessen Bevollmächtigter an der mündlichen Verhandlung am 16. April 2019 teilgenommen haben. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten bei der Ladung, die dem Klägerbevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis rechtzeitig zugestellt wurde, ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
2) Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Juni 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nach § 77 Abs. 1 AsylG keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG sowie subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 AsylG. Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG in seiner Person vor. Auch erweist sich die Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots als rechtmäßig. Das Gericht folgt den Feststellungen sowie der Begründung im angefochtenen Bescheid und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer nochmaligen Darstellung ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend wird ausgeführt:
a) Die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter scheidet bereits deswegen aus, weil er auf dem Landweg und damit aus einem sicheren Drittstaat in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eingereist ist (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG i. V. m. § 26a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 i.V.m. Anlage I AsylG).
b) Auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG) scheidet aus.
Nach § 3 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Dabei kann die Verfolgung nach § 3c AsylG vom Staat, von den Staat ganz oder zum Teil beherrschenden Parteien oder Organisationen oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, gegen die der Staat Schutz zu gewähren nicht willens oder in der Lage ist. Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt, § 3e Abs. 1 AsylG.
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Zunächst knüpft die vom Kläger geschilderte Verfolgung an keinen in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgrund an. Das Gericht erachtet den Vortrag des Klägers für nicht glaubhaft. Der Kläger hat das Auffinden der bewusstlosen bzw. toten Frau am Strand wenig detailliert geschildert. Es gelang ihm im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt nicht, einen nachvollziehbaren Sachverhalt darzustellen. Insbesondere die Angaben zur Personenzahl, die beim Auffinden der Frau bzw. dem Versuch der Wiederbelebung beteiligt waren, sind widersprüchlich. Zudem erfolgte die Darstellung der Flucht sowohl nach den Ereignissen am Strand als auch auf dem Fußballplatz äußerst oberflächlich. Auch auf Nachfragen des Bundesamts nach den genauen Ereignissen gab der Kläger nur sehr kurze Antworten. Die Möglichkeit, in der mündlichen Verhandlung – insbesondere auch auf entsprechende Nachfragen des Gerichts – die dargestellten Ungenauigkeiten bzw. die Widersprüche auszuräumen, hat der Kläger, obwohl er ordnungsgemäß geladen wurde, nicht genutzt.
Selbst wenn man den Vortrag des Klägers als wahr unterstellt, ist dem Kläger nicht die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da er sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung aus einer der im Gesetz genannten Verfolgungsgründe außerhalb Sierra Leones befindet. Der Kläger ist nach seinen eigenen Angaben zum einen aus Furcht vor der Bedrohung durch die Angehörigen der getöteten Frau geflohen. Die Verfolgung durch die Brüder der Getöteten erfolgte jedoch nicht aus einem der § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe. Darüber hinaus liegt in diesem Zusammenhang auch keine Verfolgung durch einen in § 3c AsylG genannten Akteur vor. Schließlich scheitert die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG auch daran, dass vom Kläger vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich bei einer Rückkehr in einem anderen Landesteil Sierra Leones niederlässt, wo ihn die Angehörigen der Getöteten nicht finden.
c) Die Klage ist weiterhin unbegründet, soweit der Kläger subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG begehrt. Danach ist ein Ausländer subsidiärer Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, wobei als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ersthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gilt.
Einer Zuerkennung subsidiären Schutzes im Hinblick auf die angebliche Bedrohung durch die Brüder der Frau steht weiter entgegen, dass vom Kläger zu erwarten ist, dass er sich in den Landesteilen niederlässt, in denen er vor Nachstellungen der Brüder sicher ist (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG). Überdies hätte der Kläger bei einer Rückkehr die Möglichkeit, die Hilfe (übergeordneter) staatlicher Stellen in Anspruch zu nehmen. Insbesondere kann von einer allgemein mangelnden Schutzfähigkeit oder -willigkeit des sierra-leonischen Staates nicht ausgegangen werden.
Als junger, gesunder Mann im erwerbsfähigen Alter ist der Kläger auch in der Lage, sich in Sierra Leone seinen Lebensunterhalt eigenständig zu erwirtschaften. Zudem hat er eine zwölfährige schulische Ausbildung, sodass er im Landesdurchschnitt als qualifiziert einzustufen ist. Auch wenn der Kläger bei seiner Rückkehr keine Unterstützung durch seine Familie erhalten sollte, kann dennoch vernünftigerweise von ihm erwartet werden, dass er in seinem Heimatland, mit dessen Gepflogenheiten und dessen Sprache er durchaus vertraut ist, ein Existenzminimum für sich zu sichern in der Lage sein wird. Ausreichend ist in Bezug auf die wirtschaftliche Situation des Klägers, dass es ihm voraussichtlich gelingen wird, sich mit Gelegenheitsarbeiten „durchzuschlagen“ (vgl. VG München, U.v. 7.8.2018 – M 28 K 17.37397 – juris Rn. 48; VG Würzburg, U.v. 12.8.2016 – W 1 K 16.30842 – juris).
d) Der Kläger kann sich schließlich auch nicht auf das Bestehen von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten i.S.d. § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz AufenthG berufen. Insoweit schließt sich das Gericht den Ausführungen in den Gründen des Bescheids vom 20. Juni 2017 an, auf die Bezug genommen wird, § 77 Abs. 2 AsylG.
Ergänzend ist auszuführen, dass nach § 60 Abs. 5 AufenthG ein Ausländer nicht abgeschoben werden darf, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In der Regel scheidet bei Verneinung der Voraussetzungen der Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG – wie im vorliegenden Fall – aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG aus (BVerwG, U.v. 31.1.2013, Az. 10 C 15/12 – juris).
Schließlich soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Allerdings sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG i.V.m. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (Sperrwirkung) (BVerwG, U.v. 31.1.2013, a.a.O.). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird. Mangels einer derartigen Abschiebestopp-Anordnung ist die nach den eingeführten Erkenntnisquellen bestehende unzureichende Versorgungslage in Sierra Leone eine allgemeine Gefahr, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. Diese Sperrwirkung kann nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige Schutzlücke besteht.
Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen den Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O.).
Eine derartige besondere Gefahrenlage ist aufgrund der schlechten humanitären oder wirtschaftlichen Verhältnisse nicht ersichtlich. Sierra Leone gehört zwar mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,5 Millionen US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 700 US-Dollar im Jahr 2015 zu einem der ärmsten Länder der Welt. Ferner lebt ein Großteil der Bevölkerung in absoluter Armut unter prekären wirtschaftlichen Verhältnissen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt Sierra Leone vom 4. Juli 2018, S. 17). Wie bereits ausgeführt, ist der Kläger aber jung, gesund und arbeitsfähig. Individuelle, gefahrerhöhende Umstände sind nicht ersichtlich. Es kann erwartet werden, dass er in der Lage ist, sich ein Existenzminimum zu sichern.
e) Der Bescheid des Bundesamts gibt schließlich auch hinsichtlich der Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 keinen Anlass zu Bedenken. Diese entspricht den gesetzlichen Anforderungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG und § 38 Abs. 1 AsylG.
f) Auch die nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG von Amts wegen vorzunehmende Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Sie hält sich im Rahmen des § 11 Abs. 3 AufenthG.
3) Der Kläger hat als unterlegener Beteiligter die Kosten des Verfahrens nach § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten richtet sich nach § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.


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