Verwaltungsrecht

Keine Zuerkennung des Flüchtlingsstatus wg. vorgetragener Rekrutierung zum Wehrdienst eines Minderjährigen – Syrien

Aktenzeichen  RO 11 K 20.31897

Datum:
25.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 4103
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4, § 10, § 74
VwGO § 60

 

Leitsatz

1. Es ist Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich eine politische Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form von sich aus vorzutragen.  (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und der Freien Syrischen Armee und die schlechte Sicherheitslage in Syrien führen nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; erforderlich ist vielmehr eine gezielte Rechtsverletzung, d.h. ein gezielter Eingriff in ein asylrechtlich geschütztes Rechtsgut.  (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Ausreise und der Aufenthalt im westlichen Ausland alleine führen nicht zur begründeten Furcht, dass syrische staatliche Stellen jemanden bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen könnten. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. 

Gründe

Über die Klage kann gemäß § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden werden. Der Kläger hat mit Schreiben vom 23.02.2021, bei Gericht eingegangen am selben Tag, auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Die Beklagte hat mit Schreiben vom 16.02.2021, bei Gericht eingegangen am 24.02.2021 ebenfalls ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Die Klage ist bereits unzulässig (A.) und im Übrigen auch unbegründet (B.) und hat daher keinen Erfolg.
A.
Die Klage ist bereits unzulässig, da sie verfristet erhoben wurde (I.). Auch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann dem Kläger nicht gewährt werden (II.).
I. Gemäß § 74 Abs. 1 Hs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) muss die Klage gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung erhoben werden.
Diese Klagefrist wurde vorliegend nicht eingehalten. Der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung:in arabischer (vgl. S. 168 der Bundesamtsakte) und in deutscher Sprache (vgl. Seite 180 der Bundesamtsakte) versehene streitgegenständliche Bescheid vom … wurde ausweislich der sich im Behördenakt befindlichen Zustellungsurkunde am 03.11.2020 mittels Ersatzzustellung in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten in der … in A* … gelegt. Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) gelten für die Ausführung der Zustellung die §§ 177 bis 182 der Zivilprozessordnung (ZPO) entsprechend. Die Ersatzzustellung ist gemäß § 10 Abs. 5 AsylG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG, § 180 Satz 1 ZPO zulässig. In einem solchen Fall kann das zuzustellende Schriftstück – wenn die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO nicht ausführbar ist – nach § 180 Satz 1 ZPO in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist. Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als zugestellt, § 180 Satz 2 ZPO.
Die Zustellung gilt damit an diesem Tag als bewirkt. Die Klagefrist begann daher am 04.11.2020 um 0:00 Uhr zu laufen und endete am 17.11.2020 (Dienstag) um 24:00 Uhr, vgl. § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Mängel der Rechtsbehelfsbelehrung:sind nicht ersichtlich, weshalb vorliegend auch nicht die Jahresfrist des § 58 Abs. 1, 2 Satz 1 VwGO Anwendung findet. Bei Eingang der Klage beim Verwaltungsgericht Regensburg am 24.11.2020 war die Klagefrist daher bereits abgelaufen. Bei der Zustellungsurkunde handelt es sich um eine öffentliche Urkunde mit der sich aus § 418 Abs. 1 ZPO ergebenden vollen Beweiskraft. Diese Beweiskraft erstreckt sich auch auf die Tatsache, dass der Zustellungsadressat persönlich nicht unter der Zustellungsadresse angetroffen wurde, eine Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 ZPO nicht durchgeführt werden konnte, die Möglichkeit der Ersatzzustellung nach § 180 Satz 1 ZPO somit eröffnet war und dessen Voraussetzungen vorliegend erfüllt sind. Es ist somit von einer wirksamen Ersatzzustellung auszugehen. Der Kläger muss diese gegen sich gelten lassen.
II. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO kann nicht gewährt werden, da der Kläger nicht ohne sein Verschulden gehindert war, die Klagefrist einzuhalten. Gemäß § 60 Abs. 1 VwGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen, § 60 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 VwGO. Nach § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO ist die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist nachzuholen.
Relevante Wiedereinsetzungsgründe liegen hier nicht vor. Die Fristversäumnis beruht darauf, dass der Kläger sich aus A* … entfernte und das Bundesamt hiervon nicht ordnungsgemäß in Kenntnis setzte. Durch sein Verhalten führte der Kläger verschuldet die Fristversäumnis herbei. Er hat gemäß § 10 Abs. 1 AsylG während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihn Mitteilungen des Bundesamtes stets erreichen können. Er hat jeden Wechsel seiner Anschrift dem Bundesamt unverzüglich anzuzeigen. Ferner muss der Ausländer Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle auf Grund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er – wie hier – für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann, § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG.
Eine solche unverzügliche und ordnungsgemäße Anzeige an das Bundesamt nahm der Kläger zur Überzeugung des Gerichts nicht vor. Der Kläger wurde im Asylverfahren auf die ihm obliegenden Pflichten hingewiesen, § 10 Abs. 7 AsylG. Die „Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten“ enthält in Fettdruck den Hinweis, dass ein Antragsteller jeden Wohnungswechsel umgehend u.a. dem Bundesamt mitteilen muss (Seite 27 des Behördenakts). Hierauf wird am Schluss der Seite noch einmal gesondert in Fettdruck hingewiesen. Auf der folgenden Seite wird u.a. § 10 AsylG abgedruckt. Der Kläger bestätigte auch unterschriftlich, eine Übersetzung der wichtigen Mitteilung in arabischer Sprache erhalten zu haben (Seite 55 des Behördenakts). Ferner wurde der Kläger im Anschluss an seine Anhörung am 24.08.2020 darauf hingewiesen, dass er jede Adressänderung dem Bundesamt unter Angabe seines Aktenzeichens sofort mitzuteilen habe (Seite 92 des Behördenakts). Daher muss er gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG die Zustellung in A* … gegen sich gelten lassen, da diese Adresse zur Überzeugung des Gerichts seine letzte Anschrift war, die dem Bundesamt auch bekannt war.
Hieran ändert auch die – angeblich – telefonische Mitteilung des Wohnsitzwechsels nichts. Soweit der Kläger hierauf abstellt, sind die Angaben des Klägers zu unsubstantiiert, da er nicht einmal benannt hat, wann und wem er genau den Wohnsitzwechsel mitgeteilt hat. Weder den Akten des Bundesamts, noch den Akten der Ausländerbehörde lässt sich entnehmen, dass der Kläger seinen Wohnsitzwechsel rechtzeitig mitteilte. Auch das Bundesamt selbst teilte auf gerichtliche Nachfrage mit, dass es erst durch Mitteilung des Landratsamtes A* … vom 12.11.2020 (Seite 206 des Behördenakts) vom Wohnsitzwechsel Kenntnis erlangte. Hinzu kommt, dass der Kläger selbst das Risiko von Übermittlungsfehlern oder einer ausgebliebenen Übermittlung trägt (vgl. BeckOK AuslR/Preisner AsylG § 10 Rn. 11; NK-AuslR/Marco Bruns AsylVfG § 10 Rn. 7). Eine telefonische Mitteilung ist wegen eventueller Nachweisschwierigkeiten daher auch nicht zu empfehlen (vgl. NK-AuslR/Marco Bruns AsylVfG § 10 Rn. 7). Selbst wenn der Kläger demzufolge telefonischen Kontakt zum Bundesamt gehabt haben sollte, ist es seine Aufgabe dafür zu sorgen, dass in weiterer Folge der Wohnsitzwechsel auch ordnungsgemäß vermerkt und berücksichtigt wird. Gegebenenfalls muss er sich die Kenntnisnahme des Wohnsitzwechsels schriftlich quittieren lassen. Er trägt selbst das Risiko solcher Kommunikationsstörungen (vgl. Marx, Kommentar zum AsylG, § 10, Rn. 41).
In weiterer Folge geht es auch zu Lasten des Klägers, dass ihm der Bescheid trotz Einrichtung eines Nachsendeauftrags nicht rechtzeitig übermittelt wurde. Denn auch ein Nachsendeauftrag macht die Anzeige eines Anschriftenwechsels nicht entbehrlich (vgl. BeckOK AuslR/Preisner AsylG § 10 Rn. 10; NK-AuslR/Marco Bruns AsylVfG § 10 Rn. 7). Wegen der unterbliebenen ordnungsgemäßen Mitteilung des Wechsels der Anschrift an das Bundesamt hat der Kläger nicht die vom Gesetzgeber für erforderlich gehaltene Vorsorge getroffen, um für das Bundesamt sicher erreichbar zu sein (vgl. OVG Münster, B. v. 04.12.2001 Az. 11 A 3003/01.A). Diese Vorsorgepflicht resultiert bereits aus dem Sinn und Zweck des § 10 Abs. 1 AsylG, der anderenfalls unterlaufen werden würde. Der Asylbewerber ist wegen seiner in aller Regel ungesicherten Wohnverhältnisse, die in vielen Fällen einen mehrmaligen Wohnungswechsel mit sich bringen, für das Bundesamt nur schwer erreichbar. Hinzu kommen die Unkenntnis des Asylbewerbers über behördliche Zuständigkeiten und Kommunikationsprobleme. Aus Sicht des Asylbewerbers ist dieser zur wirksamen Durchsetzung seiner Rechte auf eine geeignete verfahrensrechtliche Ausgestaltung angewiesen. Der Asylbewerber muss die Gelegenheit haben, seine Gründe für das Asylbegehren vorzutragen. Das Asylverfahren muss daher so ausgestaltet werden, dass darauf bezogene Aufforderungen und Mitteilungen dem Asylbewerber nach Möglichkeit auch wirklich zugehen. Auf der anderen Seite ist in den Blick zu nehmen, dass das Asylverfahren auf Beschleunigung ausgelegt ist. Das bedeutet, dass solche Verzögerungen im Verfahrensablauf ausgeschlossen werden sollen, die aus der Unsicherheit über den Zugang verfahrensleitender und – wie im streitgegenständlichen Fall – verfahrensabschließender behördlicher Mitteilungen resultieren können (vgl. BeckOK AuslR/Preisner AsylG § 10 Rn. 1 f.). Insoweit ist es zumutbar, dass der Kläger seiner in § 10 Abs. 1 AsylG normierten Pflicht umfassend und lückenlos nachkommt.
B.
Im Übrigen ist die Klage auch unbegründet. Der Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Dieser hat im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 des Asylgesetzes (AsylG) maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist dem Kläger nicht zuzuerkennen, da er sich nach der Überzeugung des Gerichts nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat außerhalb Syriens befindet, § 3 Abs. 1, 4 AsylG. Er hat Syrien nicht wegen Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift verlassen. Ihm droht bei einer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von
1.dem Staat,
2.Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen oder
3.nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, vgl. § 3e AsylG.
Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob er diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U. v. 01.06.2011 Az. 10 C 25.10). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut vor solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. VG Augsburg, U. v. 25.11.2014 Az. Au 2 K 14.30422). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei.
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.
I. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Insoweit folgt das Gericht den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf diesen Bezug, § 77 Abs. 2 AsylG.
Ein individuelles Verfolgungsschicksal hat der Kläger weder beim Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren substantiiert und glaubhaft geltend gemacht. Es ist jedoch Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich eine politische Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form von sich aus vorzutragen, vgl. § 15 Abs. 1, § 25 Abs. 1 und 2 AsylG. Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender politischer Verfolgung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden kommt besondere Bedeutung zu. Ihm selbst obliegt es, seine Gründe für das Vorliegen politischer Verfolgung folgerichtig, substantiiert und mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, B. v. 21.07.1989 Az. 9 B 239/89).
1. Soweit der Kläger in ihrer Anhörung beim Bundesamt auf den Bürgerkrieg, die Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und der Freien Syrischen Armee und die schlechte Sicherheitslage Bezug nahm, kann dies nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen. Erforderlich ist vielmehr eine gezielte Rechtsverletzung, d.h. ein gezielter Eingriff in ein asylrechtlich geschütztes Rechtsgut (vgl. BVerwG, U. v. 19.01.2009 Az. 10 C 52.07). Nicht den Einzelnen gezielt treffende Folgen von Handlungen oder allgemeine Ereignisse wie Kriege oder Katastrophen genügen für die Annahme einer Verfolgung nicht. Der genannten Bedrohung wurde im Übrigen bereits durch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus Genüge getan.
2. Soweit der Kläger angab, eine Rekrutierung zu befürchten, konnte das Gericht nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Kläger Syrien im Jahr 2016 wegen einer – unmittelbar bevorstehenden – Einziehung zum Militär- bzw. Wehrdienst verließ. Als der Kläger Syrien verließ, war er maximal 14 Jahre alt und damit noch nicht im wehrpflichtigen Alter. Nach dem Gesetz besteht in Syrien für Männer eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 20.11.2019, S. 11; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Aufschub des Militärdienstes für Studenten vom 11.06.2019, S. 10). Die für die Militärdienstpflicht maßgebenden Altersgrenzen werden seitens der syrischen staatlichen Stellen im Allgemeinen beachtet (vgl. auch BayVGH, U. v. 21.09.2020 Az. 21 B 19.32725 m.w.N.).
Selbst bei einer – unterstellt – im Jahr 2016 unmittelbar bevorstehenden Einziehung zum Wehrdienst, hätte ebenfalls keine relevante Verfolgung vorgelegen. Die Einziehung zum Wehrdienst führt nicht zu einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG. Gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG kann nämlich als Verfolgung nur die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes gelten. Dass dem Kläger eine solche Bestrafung droht, ist jedoch vor dem Hintergrund seiner Angaben und der Entwicklung der Lage in Syrien (s.u.) nicht hinreichend wahrscheinlich.
Hinzu kommt, dass Wehrpflichtige keine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG sind. Nach dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn deren Mitglieder angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Beide Anforderungen müssen kumulativ vorliegen. Eine bestimmte soziale Gruppe wird nicht allein dadurch begründet, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird. Nach seinem Wortlaut greift auch § 3b Abs. 2 AsylG erst bei der zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einem der im jeweiligen Absatz 1 genannten Verfolgungsgründe, nicht für die Konstitution der „sozialen Gruppe“ selbst (vgl. BVerwG, B. v. 17.09.2018 Az. 1 B 45.18).
Es fehlt an einer gemeinsamen „Glaubensüberzeugung“, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen ist, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AsylG. Eine Wehrdienstverweigerung kann zwar aus einer politisch-ethischen Überzeugung resultieren, deren Aufgabe von dem Betroffenen nicht verlangt werden kann, vgl. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Die Gruppe der syrischen Wehrdienstverweigerer ist nach ihrer Motivationslage aber so uneinheitlich, dass von einer gemeinsamen Überzeugung nicht gesprochen werden kann. So wollen manche Wehrpflichtige nicht getötet werden und andere Personen nicht töten. Daneben treten auch häufig Ängste um die Familie oder Befürchtungen dieser, dass ein Wehrpflichtiger zu Schaden kommen könnte. Es kommt auch vor, dass der Wunsch eine Berufsausbildung abzuschließen oder zu beginnen bzw. in das Berufsleben einzusteigen, zu einer Verweigerung des Wehrdienstes führt. Schließlich kann der Wehrdienstentzug auch auf mehrere Gründe zurückzuführen sein.
Die Gruppe der Wehrdienstentzieher hat auch keine deutlich abgegrenzte Identität in dem Sinne, dass sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Wehrdienstentzieher werden nicht als fest umrissene und schon gar nicht als homogene Gruppe wahrgenommen (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 11.03.2019 Az. 2 LB 284/19). Schließlich folgt die Andersartigkeit auch nicht daraus, dass Wehrdienstentziehung nach syrischem Recht strafbar ist. Die Strafbarkeit der Wehrdienstentziehung knüpft nämlich nicht unmittelbar an die Verwirklichung eines gemeinsamen unveräußerlichen Merkmals bzw. einer gemeinsamen Überzeugung an, sondern lediglich daran, dass der Betreffende dem Wehrdienst ferngeblieben ist (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 11.03.2019 a.a.O.).
II. Dem Kläger droht auch bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung.
1. Das Gericht ging in seiner früheren Rechtsprechung bei Erwachsenen und Jugendlichen davon aus, dass der syrische Staat das Stellen eines Asylantrages im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfung und Ausdruck einer politischen missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (vgl. z. B. VG Regensburg, U. v. 29.06.2016 Az. RN 11 K 16.30666). Ein solches Verhalten werde – ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung – vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland hätten in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen.
Ferner ging das Gericht in seiner früheren Rechtsprechung davon aus, dass die syrische Regierung Maßnahmen der Reflexverfolgung bzw. Sippenhaft anwendet, die sich insbesondere gegen nahe Angehörige von (potentiellen) Regimegegnern richten, zu denen auch Personen zählen, die sich der Wehrpflicht entzogen haben. Das Gericht bewerte das Gefährdungspotential für eine Person umso größer, je näher ihre verwandtschaftliche Beziehung zu einem Reservisten oder Wehrpflichtigen ist. Diesen Personen drohe bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung unter dem Gesichtspunkt der sog. Reflexverfolgung („Sippenhaft“).
An dieser Rechtsprechung hält das Gericht nicht fest. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs rechtfertigen die Ausreise und der Aufenthalt im westlichen Ausland alleine nämlich nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen jemanden bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen (vgl. BayVGH, U. v. 12.12.2016 Az. 21 B 16.30338, Az. 21 B 16.30364 und Az. 21 B 16.30371). Außerdem droht Angehörigen eines Militärdienstflüchtlings nicht beachtlich wahrscheinlich eine Reflexverfolgung (vgl. z. B. BayVGH, U. v. 22.06.2018 Az. 21 B 18.30852; U. v. 20.06.2018 Az. 21 B 18.30825).
2. Dem Kläger droht auch bei einer Rückkehr in seine Heimat nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung, weil er sich durch seine Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzieht (siehe noch anders z.B. BayVGH, U. v. 12.12.2016 Az. 21 B 16.30372).
a. Im Hinblick auf den Militärdienst in Syrien und die aktuellen tatsächlichen Verhältnisse diesbezüglich nimmt das Gericht auf die überzeugenden Ausführungen des BayVGH in seinem Urteil vom 21.09.2020 (Az. 21 B 19.32725) Bezug und schließ sich diesen an:
„a) Nach dem Gesetz besteht in Syrien für Männer eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren (vgl. u.a. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 11; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Aufschub des Militärdienstes für Studenten, 11.6.2019, S. 10). Männer, die das wehrpflichtige Alter von 18 Jahren erreicht haben, müssen sich (zur Musterung) beim zuständigen Rekrutierungsbüro melden, wo sie ihr Militärbuch erhalten, in das neben anderem das Ergebnis der medizinischen Tauglichkeitsprüfung und eine etwaige Befreiung vom Militärdienst eingetragen wird. Wer sich nicht bei der Rekrutierungsbehörde meldet, wird nach einer gewissen Zeit auf die Liste der Militärdienstentzieher gesetzt (vgl. u.a. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei Rekrutierung, 18.1.2018; UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 23 f.; Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR104921.E, 13.8.2014, S. 5). Es gibt Berichte, denen zufolge militärdienstpflichtige Männer, die auf einen Einberufungsbescheid nicht reagieren, von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 11).
Nach Beendigung des obligatorischen Militärdienstes bleibt ein syrischer Mann gemäß Artikel 15 Gesetzesdekret Nr. 30 aus dem Jahr 2007 Reservist und kann bis zum Erreichen des 42. Lebensjahres in den aktiven Dienst einberufen werden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Syrien, 17.10.2019, S. 38; UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 26).
Die für die Militärdienstpflicht maßgebenden Altersgrenzen werden zur Überzeugung des Senats seitens der syrischen staatlichen Stellen jedenfalls im Allgemeinen beachtet. Dabei ist berücksichtigt, dass für die syrische Regierung die Rekrutierung von Militärdienstpflichtigen unter militärischen Gesichtspunkten eine hohe Bedeutung hat, um die bisherigen Verluste aufzufüllen und die Freiwilligen sowie Militärdienstpflichtigen zu entlasten, die für lange Zeit Kriegsdienst leisten mussten (vgl. Ministerie van Buitenlandse Zaken, Country of Origin Information Syria – The security situation, July 2019, S. 65).
Im „Fact Finding Mission Report 2017“ des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist insoweit mit Verweis auf die Befragung einer europäischen diplomatischen Quelle (Beirut, 18.5.2017) ausgeführt, die Altersgrenze sei „auf beiden Seiten“ (18 Jahre/42 Jahre) nur theoretisch und jeder Mann in einem im weitesten Sinn wehrfähigen Alter könne rekrutiert werden (vgl. S. 18 des Reports). Darüber hinaus gibt es allgemein gehaltene Hinweise auf Berichte von Zwangsrekrutierungen Minderjähriger in die syrische Armee sowie darauf, in den ersten Jahren des Krieges seien die meisten Kinder, die von bewaffneten Gruppen rekrutiert worden seien, im Alter zwischen 15 und 17 Jahren gewesen und seit dem Jahr 2014 zögen alle Gruppen immer jüngere Kinder ein (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23.3.2017, unter Verweis auf Berichte von Aktivisten und auf United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2016, 3.3.2017). Gegen eine solche allgemeine Missachtung der gesetzlichen Altersgrenzen sprechen aber zahlreiche Berichte, denen zu entnehmen ist, dass im Allgemeinen für die Rekrutierung nach wie vor das nach dem Gesetz bestimmte Alter von 18 Jahren bzw. 42 Jahren maßgebend ist.
So soll einzelnen Berichten zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst (42 Jahre) erhöht werden, wenn die betreffende Person bestimmte Qualifikationen habe, was etwa für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung gelte. Umgekehrt kann daraus jedoch abgeleitet werden, dass jenseits dieses Qualifikationsprofils kein Anhalt für eine Missachtung der für den Reservedienst geltenden Altersgrenze besteht. Nach anderen Berichten sollen Jungen im Teenageralter, die das Aussehen von 18-Jährigen hatten, an fest installierten Kontrollstellen festgenommen worden sein. UNHCR verweist auch auf die Schilderung der Mutter eines 14-jährigen Sohnes, der an jeder Kontrollstelle seines Weges zum Thema Einberufung befragt worden sei (vgl. UNHCR, Herkunftslandinformationen 2017, S. 24 Fn. 118 und S. 25, dort auch Fn. 120). Auch diese Quellen lassen erkennen, dass sich die Rekrutierung an dem vorgegeben Wehrdienstalter ausrichtet. Das wird zudem durch die aktuellen Feststellungen des Dänischen Einwanderungsdienstes bestätigt. Danach bekundeten alle von der Behörde befragten Quellen, die Kenntnis zum Alter der Einberufung hatten, sie hätten keine Informationen erhalten, die darauf hindeuteten, dass die Syrisch-Arabische Armee (SAA) Männer rekrutiert habe, die jünger als 18 Jahre alt gewesen seien. Die meisten der Quellen hatten darüber hinaus keine Informationen erhalten, dass die SAA Männer eingezogen hat, die älter als 42 Jahre waren (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 18).
Für eine zumindest grundsätzliche Beachtung des für den Militärdienst maßgebenden Alters durch die syrischen Sicherheitskräfte spricht im Übrigen auch, dass eine für Männer erforderliche Ausreisegenehmigung der Rekrutierungsbehörde an das Militärdienstalter anknüpft (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 26; Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG Hamburg vom 2.2.2018).
b) Nach der Gesetzeslage ist in Syrien der einzige Sohn einer Familie von der Militärdienstpflicht ausgenommen. Präsident Assad erließ im August des Jahres 2014 die Gesetzesverordnung Nummer 33, welche einige Artikel der Verordnung Nummer 30 aus dem Jahr 2007 zum obligatorischen Militärdienst änderte. Die Regelung, dass der einzige Sohn einer Familie vom Militärdienst freigestellt werden kann, blieb dabei erhalten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.3.2015, S. 5 f.). Die Freistellung wird im Militärbuch vermerkt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20.10.2015 zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als „einziger Sohn“, S. 1; Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR104921.E, 13.8.2014, S. 2 f.).
Nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes sind Einzelkinder bzw. einzige Söhne auch tatsächlich vom Wehrdienst ausgenommen (Auswärtiges Amt an das VG Düsseldorf vom 2.1.2017, 508-9-516.80/48808). Das entspricht den Erkenntnissen des Dänischen Einwanderungsdienstes, der (auch) dazu zahlreiche Gewährsleute befragt hat. Keine dieser Quellen hatte von Fällen einziger Söhne gehört oder solche erfasst, die eingezogen wurden (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 20).
c) Nach dem zuletzt in den Jahren 2014 und 2017 geänderten Erlass Nr. 30/2007 des syrischen Präsidenten können syrische Männer einschließlich registrierter Palästinenser aus Syrien eine Gebühr bezahlen, um vom Pflichtmilitärdienst befreit und nicht erneut einberufen zu werden. Art. 1a des Erlasses regelt, dass Männer im militärdienstpflichtigen Alter (18 bis 42 Jahre), die nicht weniger als vier Jahre außerhalb Syriens gewohnt haben, eine Summe von 8.000 $ zahlen können, um von der Militärdienstpflicht freigestellt zu werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Aufschub des Militärdienstes für Studenten, 11.6.2019, S. 8 f.).
Der Senat geht aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse davon aus, dass dieser Erlass in Syrien Anwendung findet. Delegierte des Dänischen Einwanderungsdienstes und des Dänischen Flüchtlingsrats haben zur Umsetzung dieses Erlasses verschiedene Quellen befragt. Ein in Damaskus ansässiger Rechtsanwalt, Mitarbeiter einer internationalen Organisation in Syrien, Bente Scheller von der Heinrich Böll Stiftung, Christopher Kozak vom Institute for the Study of War, Mitarbeiter von COAR Global sowie Rami Abdurrahman vom Syrian Observatory for Human Rights bekundeten, dass diese Ausnahmeregelung in der Praxis angewendet wird. Mehrere der Befragten hatten Kenntnis von Personen, die durch Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit wurden (u.a internationale Organisation in Syrien, Bente Scheller, Christopher Kozak, COAR Global und Rami Abdurrahman). Zwei der genannten Quellen erwähnten, dass keine der aufgrund der Zahlung befreiten Personen später einberufen wurde. Lediglich zwei Auskunftspersonen stellten die Wirksamkeit und Beständigkeit des Gesetzes zur Befreiung vom Militärdienst durch Zahlung einer Gebühr in Frage, wobei sie, ohne Bezugsfälle zu nennen, lediglich allgemein auf die Erfahrung mit früheren Erlassen, Gesetzen und Aussöhnungsvereinbarungen verwiesen (Sara Kayyali von Human Rights Watch und Mitarbeiter einer internationalen Sicherheitsorganisation).
Die aktuellen Ermittlungen des Dänischen Einwanderungsdienstes (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 25) bestätigen die Einschätzung des Senats, dass die gesetzlich bestimmte Möglichkeit, durch Zahlung einer Gebühr von der Militärdienstpflicht befreit zu werden, tatsächlich vollzogen wird. Dem entspricht auch ein Bericht der unabhängigen Nachrichtenquelle „Enab Baladi“ vom September 2019, wonach die Zahl der jungen syrischen Männer, die mit dem Syrischen Konsulat in Istanbul einen Termin zur Zahlung der Befreiungsgebühr vereinbaren, in der letzten Zeit dramatisch zugenommen hat (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 27).
d) Militärdienstpflichtigen ist es nicht oder nicht uneingeschränkt erlaubt, Syrien zu verlassen. So verbot das Verteidigungsministerium am 20. Oktober 2014 allen Männern die Ausreise, die zwischen dem Jahr 1985 und dem Jahr 1991 geboren sind. Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 42 Jahren müssen vor Ausreise aus Syrien eine Genehmigung der Generaldirektion für Rekrutierung oder einer ihr nachgeordneten Rekrutierungsbehörde einholen (Art. 48 Gesetzesdekret Nr. 30 aus dem Jahr 2007 i.d.F. des Gesetzes Nr. 3 vom Januar 2017). Eine Person, der eine Reisegenehmigung erteilt wird, muss eine Sicherheit von 50.000 syrische Pfund (derzeit etwa 87,00 Euro) hinterlegen und eine verantwortliche Person benennen, welche die Rückkehr des Ausreisewilligen garantiert. Ob eine Ausreisegenehmigung ausgegeben wird, hängt erheblich von den individuellen Umständen ab, wobei Männer, die ihren Militärdienst bereits geleistet haben, eine solche Genehmigung einfacher erhalten (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 4; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion vom 23. März 2017 S. 13 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Fact Finding Mission Report Syrien vom August 2017, S. 24).
Das Auswärtige Amt berichtet ohne Beleg davon, Männern im wehrpflichtigen Alter werde der Reisepass vorenthalten und Ausnahmen würden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros gewährt, welche bescheinige, dass der Wehrdienst geleistet worden sei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 20.11.2019, S. 11 f.).
e) In Syrien gibt es keine Möglichkeit, anstelle des Militärdienstes einen (zivilen) Ersatzdienst zu leisten. Ebenso wenig kann der Militärdienst legal verweigert werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 20.11.2019, S. 11; UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 23). Jeder Militärdienstpflichtige, der in Friedenszeiten der Einberufung nicht innerhalb eines Monats gefolgt und geflüchtet ist, bevor er sich seiner Einheit angeschlossen hat, wird nach dem syrischen Militärstrafgesetzbuch mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis sechs Monaten bestraft (Art. 98 Abs. 1 Gesetzesdekret Nr. 61 vom 27.2.1950, im Jahr 1973 geänderte Fassung – Gesetzesdekret Nr. 61). Einem Militärdienstpflichtigen, der in Kriegszeiten der Einberufung nicht gefolgt ist, droht nach Art. 99 des Gesetzesdekrets Nr. 61 je nachdem, ob und wann er freiwillig zurückgekehrt ist oder verhaftet wurde, eine Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu fünf Jahren (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 23; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 2.1.2017, 508-9-516.80/48808; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23.3.2017, S. 8 f.).
Es ist davon auszugehen, dass (allein) die Entziehung vom Militärdienst in der Regel nicht zu einem Wehrstrafprozess führt. Vielmehr werden Militärdienstentzieher nach weitgehend übereinstimmender Quellenlage im Allgemeinen unverzüglich eingezogen und nach einer unter Umständen nur kurzen Ausbildung militärisch verwendet (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 31; UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 9 und zum Ganzen auch OVG Nds, U.v. 16.1.2020 – 2 LB 731/19 – Juris Rn. 42).
2.3.2 Der syrische Staat reagierte auf die militärische Bedrohung seiner Macht und die zu seinen Gunsten veränderte militärische Lage bezogen auf die Militärdienstpflicht syrischer Männer im Wesentlichen wie folgt:
„Die syrische Armee hatte seit dem Beginn des Konflikts durch Todesfälle, Desertionen und Überlaufen zu den Rebellen erhebliche Verluste zu erleiden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Syrien, 25.1.2018, S. 45). Seit Herbst 2014 ergriff der syrische Staat verschiedene Maßnahmen, um die dezimierte syrische Armee zu stärken. Es kam zu einer großflächigen Mobilisierung von Reservisten, Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Militärdienst entzogen hatten. Die syrische Armee und regierungstreue Milizen errichteten Kontrollstellen und intensivierten Razzien im öffentlichen sowie privaten Bereich. Bereits in den ersten sieben Monaten des Jahres 2014 dokumentierte das Syrian Network for Human Rights über 5.400 Verhaftungen von militärdienstpflichtigen jungen Männern. Viele Männer, die im Rahmen dieser Maßnahmen einberufen wurden, erhielten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und wurden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.3.2015, S. 3 f.).“
Mittlerweile ist es dem syrischen Staat nach der im Zeitpunkt der Entscheidung bestehenden Erkenntnislage mit der militärischen Unterstützung der Russischen Föderation und der Islamischen Republik Iran gelungen, die Kontrolle über große Teile des Landes zurückzuerlangen. Die Kampfhandlungen beschränken sich auf die Provinzen Idlib, Teile Aleppos, Raqqas und Deir ez Zours (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Syrien, 17.10.2019, S. 13). Die syrische Regierung hat dementsprechend hinsichtlich des Militärdienstes verschiedene einer Normalisierung dienende Maßnahmen ergriffen.
So wurde am 9. Oktober 2018 das Präsidialdekret Nr. 18/2018 veröffentlicht. Danach sollen alle syrischen Männern, die desertiert sind oder sich dem Militärdienst entzogen haben, einer Amnestie unterfallen, wenn sie sich innerhalb einer Frist von vier Monaten (bei einem Wohnsitz in Syrien) oder von sechs Monaten (bei einem Wohnsitz außerhalb Syriens) zum Militärdienst melden. Der Erlass beseitigt allerdings nicht die Pflicht, den obligatorischen Militärdienst zu leisten. Kriminelle und Personen, die auf der Seite der bewaffneten Opposition gekämpft haben, sind von der Amnestie ausgenommen. Diese Amnestie ist mittlerweile ausgelaufen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Syrien, 17.10.2019, S. 45).
Zur Umsetzung des Präsidialdekrets Nr. 18/2018 hat das Verteidigungsministerium am 28. Oktober 2018 ein Rundschreiben an das Innenministerium sowie an die Militärpolizei geleitet, wonach die Festnahme militärdienstflüchtiger Reservisten untersagt ist und für den aktiven Dienst vorgesehenen Reservisten nicht mehr eingezogen werden sollen (Ministerie van Buitenlandse Zaken, Country of Origin Information Report Syria – The security situation, July 2019, S. 67 f).
Im Dezember 2018 wurden die Reservisten aus der SAA entlassen, die mehr als fünf Jahre Dienst geleistet hatten. Zusätzlich musterte die syrische Regierung im Januar 2019 Reservisten aus und befreite Militärdienstentzieher von der Dienstpflicht, die vor dem Jahr 1977 geboren wurden. Gemäß der amtlichen Nachrichtenagentur der syrischen Regierung wurden zum 15. Februar 2019 alle Militärdienstentzieher und Reservisten aus der Dienstpflicht entlassen, die vor dem Jahr 1981 geboren wurden (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Issues Regarding Military Service, Oktober 2019, S. 11 f.).
Am 15. September 2019 erging das Präsidialdekret Nr. 20/2019, das unter anderem die Amnestie für Desertion und Militärdienstentziehung vom 9. Oktober 2018 erneuerte, wobei aber wiederum bestimmte gegen den Staat gerichtete Straftaten ausgenommen blieben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 12; The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, May 2020, S. 35).
Nunmehr gewährt das Präsidialdekret Nr. 6/2020 vom 22. März 2020 Militärdienstentziehern und Deserteuren eine Amnestie, die sich innerhalb einer Frist von drei Monaten (Wohnsitz in Syrien) oder sechs Monaten (Auslandswohnsitz) den syrischen Behörden stellen (vgl. Auswärtiges Amt, Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 19.5.2020, S. 5; UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 12 Fn. 44). Die Pflicht den Militärdienst abzuleisten bleibt wie schon bei den vorangegangenen Amnestien bestehen, ebenso umfasst die Amnestie nicht bestimmte gegen den Staat gerichtete Straftaten.
Es liegen nach wie vor keine konkreten Hinweise dafür vor, dass die syrischen staatlichen Stellen die genannten Amnestie-Erlasse regelhaft nicht beachtet haben oder nicht beachten werden.
Der Dänische Einwanderungsdienst hat zur Umsetzung der Amnestien im ersten Quartal des Jahres 2020 verschiedene Auskunftspersonen befragt. Elizabeth Tsurkov (Fellow am Foreign Policy Research Institute) bekundete, dass Männer, die sich auf die Amnestie beriefen, nicht bestraft, aber eingezogen würden. Alle syrischen Männer, die entweder durch Vermittlung der Hisbollah oder auf andere organisierte Weise aus dem Libanon zurückgekehrt seien, hätten die Amnestie beansprucht. Sie seien bei der Rückkehr nicht bestraft, jedoch zum Militärdienst eingezogen worden (Interview am 6.2.2020). Suhail Al-Ghazi (unabhängiger Forscher) informierte wie folgt: Einige Flüchtlinge hätten von den vom Präsidenten erlassenen Amnestien Gebrauch gemacht. Sie seien angewiesen worden, sich innerhalb von drei Monaten nach Erlass der Amnestie an ein örtliches Wehrpflicht-Direktorat zu wenden, damit sie ohne eine Strafe eingezogen werden konnten. Diese Männer hätten sechs Monate lang an militärischen Ausbildungskursen teilgenommen und seien später wie normale Wehrpflichtige auf andere Militärstützpunkte und -einrichtungen verlegt worden (Interview am 19.2.2020). Dem Mitarbeiter einer in Syrien tätigen humanitären Organisation zufolge hätten sich viele Militärdienstentzieher selbst gestellt, weil sie erkannt hätten, dass sie den Militärdienst nicht dadurch vermeiden können, indem sie sich vor den Behörden verstecken. Sie seien sogleich zum Militärdienst geschickt worden, ohne, wie in der Amnestie versprochen, bestraft zu werden (Interview am 21.2.2020). Navar Shaban (Militärexperte am Omran Center for Strategic Studies) bekundete allgemein, dass die syrische Regierung die Amnestien beachtet habe (Interview am 18.2.2020). Darin fügt sich ein, dass Gregory Waters (geschäftsführender Herausgeber bei International Review) keine Information dazu hatte, dass die syrische Regierung die neueste Amnestie vom September 2019 nicht beachtet (Interview am 30.1.2020). Sara Kayyali (Human Rights Watch) verwies zwar unter Berufung auf Gespräche mit zurückkehrenden Syrern darauf, dass keine der seit dem Jahr 2016 veröffentlichten Amnestien beachtet worden seien. Allerdings gab sie letztlich einschränkend an, ihr sei bekannt, dass bei der Rückkehr nach Syrien (nur) einige der Syrer, die von der Amnestie Gebrauch gemacht haben, verhaftet worden seien (Interview am 5.2.2020). Ohne Konkretes anzuführen, sprach die syrische Journalistin Asaad Hanna davon, dass sie von Deserteuren aus der Provinz Latakia gehört habe, welche die Amnestie genutzt hätten, aber dennoch für einige Monate inhaftiert gewesen seien (Interview am 18.2.2020 – vgl. zum Ganzen The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 46 ff.).
Für eine Mäßigung im Umgang mit Militärdienstentziehern spricht auch die Auskunft eines in Damaskus ansässigen Rechtsanwalts gegenüber dem Dänischen Einwanderungsdienst. Er wies darauf hin, dass seit dem Oktober 2018 etliche Syrer, die wegen des Militärdienstes in den Libanon geflohen seien, nach Syrien zurückgekehrt seien. Es sei auch für Militärdienstentzieher und Deserteure, die Syrien illegal verlassen haben, mindestens vier Jahre im Ausland geblieben sind und aufgrund des Erlasses Nr. 18/2018 einen Straferlass erhalten haben, möglich durch Zahlung der Freistellungsgebühr von 8.000 $ vom Militärdienst befreit zu werden. Ebenso bekundete Rami Abdurrahman, Direktor der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, ihm seien persönlich mehrere Syrer bekannt, die nach einer Begnadigung gemäß des Erlasses 18/2018 aufgrund der Freistellungsgebühr vom Militärdienst befreit worden seien (vgl. Danish Refugee Council/The Danish Immigration Service, Syria – Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 30 f.).
Die Quellenlage zur Umsetzung vorangegangener Amnestien, die (auch) zugunsten von Militärdienstentziehern erlassen wurden, rechtfertigt angesichts der lediglich allgemeinen Feststellungen nicht die Schlussfolgerung, dass die seit Oktober 2018 ergangenen Amnestieerlasse für die syrischen staatlichen Stellen bedeutungslos sind.
So führt der UNHCR Folgendes aus: „Seit 2011 hat der syrische Präsident al-Assad für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstentzieher und Deserteure eine Serie von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden. Am 17. Februar 2016 veröffentlichte der Präsident das Gesetzesdekret Nr. 8, mit dem Deserteure innerhalb und außerhalb von Syrien sowie Wehrdienstentzieher und Reservisten eine Amnestie erhalten. Weder über die Umsetzung dieser Dekrete noch darüber, wie viele Wehrdienstentzieher seit 2011 in den Genuss dieser Amnestien kamen, liegen Informationen und genaue Zahlen vor. Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben diese Amnestien wiederholt als intransparent und unzureichend kritisiert. Ihrer Ansicht nach profitierten nicht die vorgeblich angesprochenen Personengruppen von ihnen“ (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien vom April 2017, S. 27 f.).
Zwar verweist der UNHCR nunmehr darauf, das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte habe Berichte von Rückkehrern erhalten, die verhaftet worden seien, nachdem sie im Hinblick auf das Amnestiedekret vom September 2019 nach Syrien zurückgekehrt sein (vgl. UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application Of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7. Mai 2020, S. 12). Allerdings ist das auch unter Berücksichtigung der übrigen Erkenntnisse wiederum zu allgemein gehalten, um die Bewertung zu rechtfertigen, die seit September 2018 ergangenen Amnestiedekrete würden regelhaft nicht umgesetzt.
Die Schweizer Flüchtlingshilfe befasst sich in ihrer Auskunft „Syrien: Umsetzung der Amnestien“ vom 14. April 2014 im Wesentlichen mit der Generalamnestie vom 9. Juni 2014 (Erlass Nr. 22/2014), die erstmals ausdrücklich auch Personen berücksichtigte, die unter dem Anti-Terrorismusgesetz des Jahres 2012 angeklagt oder verurteilt worden sind. Konkrete Erkenntnisse zur Anwendung dieser Amnestie auf Militärdienstpflichtige oder Deserteure lassen sich dieser Auskunft nicht entnehmen.“
b. In Anbetracht dieser Verhältnisse geht das Gericht davon aus, dass die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen den jeweiligen Betroffenen – und damit auch den Kläger – nicht wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. BVerwG, B. v. 24.04.2017 Az. 1 B 22.17). Es fehlt damit an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG.
Die an eine Militärdienstentziehung geknüpften Sanktionen stellen nämlich nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. BVerwG, B. v. 24.04.2017 a.a.O.). Diese Verknüpfung fordert auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil vom 19.11.2020 (Az. C-238/19). Er geht davon aus, dass die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in Anbetracht sämtlicher von der um internationalen Schutz nachsuchenden Person vorgetragener Anhaltspunkte die Plausibilität der Verknüpfung zwischen zumindest einem der in Art. 2 Buchstabe d der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 genannten Gründe (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) und der Strafverfolgung oder Bestrafung zu prüfen haben, mit der der Betroffene im Fall der Verweigerung des Militärdienstes zu rechnen hat (vgl. Rdnr. 56). Daher folgt aus diesem Urteil auch nicht, dass unterschiedslos jedem Syrer im wehrpflichtigen Alter „automatisch“ die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, B. v. 22.12.2020 Az. A 4 S 4001/20).
aa. Eine dem Kläger bei einer Rückkehr drohende Einziehung zum Wehr- bzw. Militärdienst stellt keine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG dar, da in Syrien nahezu ausnahmslos alle Männer im Alter zwischen 18 und 42 Jahren der Wehrpflicht unterliegen (s.o.). Eine zielgerichtete Auswahl von Männern mit bestimmten Eigenschaften und Überzeugungen findet nicht statt. Vielmehr erfolgen die Rekrutierungen unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund und betreffen unterschiedslos sämtliche großen Volksgruppen (vgl. VG Düsseldorf, U. v. 01.12.2020 Az. 17 K 6482718.A).
bb. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer Verfolgung wegen der politischen Überzeugung im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG auszugehen.
Die vorliegenden Erkenntnismittel zu Syrien rechtfertigen gerade nicht mehr die Bewertung, dass das syrische Regime um sein Überleben kämpft und zurückkehrende Syrer allein deshalb flüchtlingsrelevant in ihren Menschenrechten verletzt, weil es ihnen im Hinblick auf den Militärdienstentzug oder die Desertion eine regimefeindliche politische Gesinnung unterstellt. Nach den aktuellen Erkenntnissen hat sich das syrische Herrschaftssystem stabilisiert. Der syrischen Regierung ist es gelungen, die Kontrolle über große Teile des Landes zurückzuerlangen. Die Kampfhandlungen haben insgesamt deutlich abgenommen. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt nunmehr in Gebieten, die unter der Kontrolle des syrischen Staates sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13.11.2018, S. 5). Die syrische Regierung hat daher bereits verschiedene, einer Normalisierung dienende Maßnahmen in Bezug auf den Militärdienst ergriffen. Insbesondere ist der militärische Konflikt in Syrien so weit eingedämmt, dass die Regierung die Demobilisierung eingeleitet hat. Ein Erlass des syrischen Präsidenten gewährt syrischen Männern, die sich dem Militärdienst entzogen haben oder desertiert sind, eine Amnestie. Konkrete Hinweise, dass die syrischen staatlichen Stellen den Amnestie-Erlass bei einer für den syrischen Staat weiterhin günstigen militärischen Lage nicht beachten werden, liegen nicht vor (vgl. BayVGH, U. v. 21.09.2020 a.a.O; U. v. 11.07.2019 Az. 21 B 19.30207; U. v. 12.04.2019 Az. 21 B 18.32459).
Auch der unterschiedliche Umgang des syrischen Regimes mit Oppositionellen einerseits und Wehrdienstentziehern sowie Deserteuren andererseits zeigt, dass das syrische Regime Rückkehrern im militärdienstpflichtigen Alter nicht generell eine regimefeindliche politische Überzeugung unterstellt. So drohen Oppositionellen willkürliche Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, Verschwindenlassen, tätliche Angriffe, Folter und Tötung im Gewahrsam der Sicherheitskräfte sowie Mordanschläge (vgl. z.B. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 04.12.2020, S. 13). Demgegenüber werden die meisten Wehrdienstentzieher ohne ernstliche weitere Konsequenzen den Streitkräften zugeführt (vgl. z.B. The Danish Immigration Service, Syria, Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding, Return to Syria, Februar 2019, S. 15). Das gilt auch für Rückkehrer (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20.11.2019, S. 25). Auch kann insoweit auf den oben bereits angesprochenen Amnestieerlass Bezug genommen werden, der gerade Personen mit oppositioneller Haltung nicht zu Gute kommt. Dieser Amnestieerlass belegt das erhebliche Interesse des Regimes, seine Armee durch die Rekrutierung von geflohenen Staatsangehörigen zu verstärken und zeigt gerade den unterschiedlichen Umgang des syrischen Regimes mit Wehrdienstentziehern einerseits und Oppositionellen andererseits (vgl. auch OVG Lüneburg, B. v. 31.08.2020 Az. 2 LB 674/18).
Gleiches gilt für Deserteure (vgl. BayVGH, U. v. 09.09.2019 Az. 20 B 19.32017). Die dem Gericht zugänglichen neueren Quellen stellen diese mit Wehrdienstentziehern im Allgemeinen gleich (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20.11.2019, S. 25; UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Syria vom 07.05.2020, S. 3) und lassen daher den Schluss auf eine politisch motivierte Verfolgung nicht zu. Der UN-Menschenrechtsrat beschreibt lediglich noch ein erhöhtes Risiko für eine willkürliche Verhaftung (United Nations Human Rights Council, Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic vom 31.01.2019, S. 15), aber keine systematische Praxis einer über die üblichen Folgen der Wehrdienstentziehung hinausgehenden Verfolgung.
Ferner entspricht ein politisches Motiv als tatsächlicher Ausreisegrund offenkundig nicht der Realität. Bei Männern im militärdienstpflichtigen Alter wird das Ziel, sich dem Militärdienst zu entziehen, als Hauptgrund zum Verlassen des Landes angesehen, was sich auch mit dem Eindruck deckt, den das erkennende Gericht in seiner langjährigen Entscheidungspraxis gewonnen hat. Da sich weit über eineinhalb Millionen Männer im wehrfähigen Alter dem Militärdienst entzogen haben (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 31.08.2020 a.a.O.), ist nicht anzunehmen, dass das syrische Regime jedem Einzelnen von ihnen eine politisch oppositionelle Haltung unterstellt (vgl. VGH Baden-Württemberg, U. v. 09.08.2017 Az. A 11 S 710/17; VG Berlin, B. v. 08.12.2020 Az. 13 K 146.17 A; VG Düsseldorf, U. v. 01.12.2020 a.a.O.). Die Lage in Syrien ist gefährlich, insbesondere für Militärdienstpflichtige. Das Leben in Syrien ist schlecht und Perspektiven – insbesondere für junge Menschen – sind kaum vorhanden. Diese tatsächliche Situation ist bereits ein ausreichender Grund für das Verlassen des Landes. Gerade weil das Regime insbesondere in militärischer und politischer Hinsicht rational und interessengeleitet handelt und weil diese Sachlage so offensichtlich ist, hält es das Gericht nicht für wahrscheinlich, dass der syrische Staat diese verkennt und dennoch jeden Rückkehrer politisch verfolgt (vgl. auch OVG Lüneburg, B. v. 31.08.2020 a.a.O).
An dieser rechtlichen Beurteilung ändert auch das Urteil des EuGH vom 19.11.2020 (a.a.O.) nichts. Auch danach haben die Gerichte zu prüfen, ob objektive und subjektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, wegen politscher Überzeugung oder Anschauung verfolgt zu werden. Wie sich dabei der Auslegungsregel des § 3b Abs. 2 AsylG entnehmen lässt, kommt es alleine darauf an, ob die angeführten Verfolgungsgründe der antragstellenden Person durch die verfolgenden Akteure zugeschrieben werden. Es ist somit unerheblich, ob der Ausländer die Merkmale, die ihm zugeschrieben werden, tatsächlich aufweist (vgl. BeckOK AuslR/Kluth, AsylG § 3b Rdnr. 7).
Zwar spricht nach der Rechtsprechung des EuGH in einer Bürgerkriegssituation – wie in Syrien – eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der RL 2011/95 näher erläuterten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht. Jedoch hat der Kläger diese Verknüpfung nicht zur Überzeugung des Gerichts darlegen können. Die Verknüpfung ist unter sämtlicher von der um internationalen Schutz nachsuchenden Person vorgetragener Anhaltspunkte zu beurteilen.
Der Kläger hat hier so unsubstantiiert vorgetragen, dass diese „starke Vermutung“ entkräftet ist. In seiner Anhörung beim Bundesamt verwies er lediglich darauf, dass er auf keiner Seite kämpfen möchte. Dass der Kläger nicht kämpfen und keine Menschen töten möchte, ist eine Selbstverständlichkeit, die auf die meisten Menschen zutrifft, ohne dass dem eine religiöse und oder politische Überzeugung zugrunde liegen muss. Ein Zusammenhang mit einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 AsylG lässt sich dem Vorbringen des Klägers damit nicht entnehmen, zumal nicht erkennbar ist, dass das syrische Regime ihm eine politisch oppositionelle Überzeugung zuschreibt, § 3b Abs. 2 AsylG (s.o.).
Im Übrigen wird nochmals auf die Präsidialdekrete Nr. 18/2018, Nr. 20/2019 und Nr. 6/2020 und die damit zusammenhängenden Amnestien hingewiesen, die ausdrücklich zwischen bloßen Militärdienstentziehern, denen Straffreiheit zukommen soll, und jenen unterscheiden, die mit der bewaffneten Opposition gekämpft haben. Der Kläger hat niemals militärisch gegen das syrische Regime gekämpft. Nach seinen Angaben war er in Syrien nicht politisch tätig. Eine oppositionelle Haltung des Klägers, die zum Ausschluss von der Amnestie und einer politischen Verfolgung durch das syrische Regime führen könnte (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20.11.2019), ist daher weder nachvollziehbar dargelegt noch erkennbar.
cc. Eine Verfolgung droht einem Wehrdienstentzieher oder Deserteur auch nicht wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen unter B. I. 2. Bezug genommen.
dd. Eine Verfolgung aufgrund der Rasse, Religion, Nationalität oder eines anderweitigen verfolgungsrelevanten Grundes ist ebenfalls weder glaubhaft gemacht noch anderweitig ersichtlich.
c. Einem Wehrdienstentzieher oder Deserteur droht im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch keine Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG.
Danach kann als Verfolgung die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG ist eine Person von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, wenn sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat (Nr. 1), vor ihrer Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3).
Zwar steht die Entziehung vom Militärdienst in Syrien grundsätzlich unter Strafandrohung. So wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und mit bis zu fünf Jahren Haft in Kriegszeiten bestraft, wer sich dem Wehrdienst entzieht. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Desertion wird mit fünf Jahren Haft bestraft und wenn der Deserteur das Land verlässt, mit fünf bis zehn Jahren. Ein Deserteur, der im Angesicht des Feindes desertiert, wird mit lebenslanger Haft bestraft. Exekution ist gesetzlich bei Überlaufen zum Feind und bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Auskunft vom 02.01.2017 an das VG Düsseldorf). Alleine in diesen Strafvorschriften liegt jedoch keine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, da es jedem Staat obliegt, seine Selbstverteidigung zu organisieren und in Ausübung dieser Wehrhoheit seinen Bürgern einen Militärdienst aufzuerlegen und die Erfüllung dieser Pflicht strafbewehrt durchzusetzen und zu verfolgen (vgl. VG Düsseldorf, U. v. 01.12.2020 a.a.O. m.w.N.).
Ferner ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht davon auszugehen, dass einem wehrpflichtigen Rückkehrer überhaupt eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht. Wie sich den obigen Ausführungen entnehmen lässt, fehlt es nämlich vor dem Hintergrund der zu Gunsten des syrischen Regimes geänderten Lage nach der Überzeugung des Gerichts nunmehr an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass Rückkehrer im militärdienstpflichtigen Alter (Militärdienstpflichtige, Reservisten), die sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle bzw. regimefeindliche Gesinnung Verfolgungshandlungen in der Form einer Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zu befürchten haben. Das Gericht geht vielmehr davon aus, dass diesen in der Regel nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes – sondern allenfalls eine unmittelbare Einziehung – droht. Damit liegen die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG nicht vor, der verlangt, dass eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt droht, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (vgl. auch BayVGH, U. v. 21.09.2020 a.a.O. unter Berücksichtigung der Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 28.05.2020 im Vorlageverfahren Az. C-238/19). Die Einziehung zum Militärdienst selbst stellt jedoch noch keine Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne des § 3a AsylG dar (s.o.).
Außerdem ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr Kriegsverbrechen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG begehen oder sich bei der Ausübung anderer Funktionen in hinreichend unmittelbarer Weise an solchen Verbrechen beteiligen müsste (vgl. hierzu EuGH, U. v. 26.02.2015 Az. C-472/13).
Zwar hält der EuGH in seinem Urteil vom 19.11.2020 (a.a.O) die Begehung von Kriegsverbrechen durch die syrische Armee für beachtlich wahrscheinlich. Jedoch stellt er hierbei auf die tatsächliche Situation zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag des betroffenen Asylbewerbers ab (vgl. Rdnr. 37). Dies ist der April 2017. Wie sich den Erkenntnisquellen zu Syrien jedoch entnehmen lässt, ist es im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht (mehr) für jeden Militärangehörigen der mindestens 100.000 Mann starken Truppen plausibel, solche Kriegsverbrechen zu begehen (zu den Zahlen vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Syrien, Gesamtaktualisierung vom 25.01.2018, S. 29). Viele Militärangehörige nehmen ausschließlich Aufgaben wie beispielsweise die Besetzung von Checkpoints oder Kampfeinsätze ohne den Einsatz verbotener Waffen und ohne Angriffe auf die Zivilbevölkerung wahr. Diese sind gerade nicht mit der Begehung von Kriegsverbrechen verbunden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil sich die Lage in Syrien nach den vorliegenden Erkenntnismitteln in weiten Teilen des Landes zu Gunsten des syrischen Regimes verändert hat (s.o.). Mit der Stabilisierung des Regimes und der Rückeroberung vieler Landesteile durch die syrische Armee und ihrer Verbündeten hat die Intensität der militärischen Auseinandersetzung und damit die Wahrscheinlichkeit der Begehung von Kriegsverbrechen abgenommen. So sind insbesondere kaum noch Städte vorhanden, die unter der Kontrolle der Opposition stehen. Gerade diese Städte waren aber besonders von Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung betroffen (vgl. auch OVG Lüneburg, B. v. 31.08.2020 a.a.O.). Im Übrigen geben die vorhandenen Erkenntnismittel nichts für eine wiederholte und systematische Begehung von Kriegsverbrechen unter Einsatz von Wehrpflichtigen her (vgl. hierzu VG Berlin, B. v. 08.12.2020 a.a.O.). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit eines mit Kriegsverbrechen verbundenen (Front-)Einsatzes des Klägers lässt sich nicht feststellen. Es liegen auch keine neuen Erkenntnismittel vor, die dafür sprechen, dass nunmehr ausnahmslos jeder militärdienstflüchtige Mann bei einer Rückkehr nach Syrien als „Oppositioneller“ mit regimekritischer Meinung oder Grundhaltung verfolgt wird (so VGH Baden-Württemberg, B. v. 22.12.2020 a.a.O. unter Verweis auf BayVGH, U. v. 21.09.2020 a.a.O.).
III. Der Kläger kann die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch nicht von seinem Vater nach § 26 Abs. 2, Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG ableiten, da die diesbezüglichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Der Kläger ist im Zeitpunkt seiner Asylantragstellung am 29.01.2020 nämlich nicht mehr minderjährig gewesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.
Die Höhe des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 30 Abs. 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG).


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