Verwaltungsrecht

Keine Zulassung der Berufung in Asylstreitverfahren – Sierra Leone

Aktenzeichen  9 ZB 21.31039

Datum:
27.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 22599
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3
VwGO § 86 Abs. 1 S. 1, § 138 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Das weltweite Pandemiegeschehen ist weiterhin von einer großen Dynamik gekennzeichnet, die eine verlässliche Einschätzung seiner mittelfristigen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in einzelnen Ländern, wie etwa Sierra Leone, (noch) nicht erlaubt, was auch für die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie gilt. (Rn. 6 und 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein (behaupteter) Verstoß gegen die umfassende Aufklärungspflicht des Verwaltungsgerichts ist kein in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG iVm § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel und vermag somit die Zulassung der Berufung grundsätzlich nicht zu rechtfertigen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 30 K 17.49924 2021-05-31 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Kläger ist nach seinen Angaben Staatsangehöriger Sierra Leones und begehrt die Feststellung von Abschiebungshindernissen. Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 31. Mai 2021 seine Klage abgewiesen. Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Es liegt weder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache vor (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG), noch ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen ein Verfahrensmangel (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG).
1. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird (vgl. BayVGH, B.v. 7.6.2021 – 9 ZB 21.30659 – juris Rn. 3 m.w.N.). Dem wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
a) Das Zulassungsvorbringen wirft die Fragen auf, ob das sierra-leonische Gesundheitssystem in der Lage ist, Rückkehrern aus Westeuropa ausreichende medizinische Kapazitäten zu gewähren, um zu gewährleisten, dass man sich ausreichend vor einer Ansteckung mit dem Covid-19-Virus schützen kann oder im Falle einer Infektion ausreichend behandelt werden kann sowie, ob in Sierra Leone aufgrund des Covid-19-Virus eine generelle Gefahrenlage besteht, die sich zu einer Extremgefahr gesteigert hat, oder dort für den Rückkehrer aus Westeuropa eine individuelle, existentielle Gefahr besteht.
Anhand des Zulassungsvorbringens ist bereits nicht zu ersehen, dass die aufgeworfene Frage überhaupt verallgemeinernd, zumindest im Hinblick auf Umstände bzw. Merkmale, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (vgl. BayVGH BW, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 – juris Rn. 30) und nicht nur nach Würdigung der konkreten Verhältnisse im Einzelfall des Klägers, von dem das Verwaltungsgericht ausgeht, dass er nicht zu einer Risikogrupe gehöre, beurteilt werden kann. Ferner dürfte es an einer Tatsachenfrage von verallgemeinerungsfähiger Tragweite auch deshalb fehlen, weil das weltweite Pandemiegeschehen noch von einer großen Dynamik gekennzeichnet ist, die eine verlässliche Einschätzung seiner mittelfristigen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in einzelnen Ländern, wie etwa Sierra Leone, (noch) nicht erlaubt (vgl. BayVGH, B.v. 11.11.2020 – 9 ZB 20.32134 – juris Rn. 5 m.w.N). Das Verwaltungsgericht hat zudem darauf abgestellt, dass aktuelle Entwicklungen, die einer Abschiebung entgegenstehen, im Übrigen im Rahmen der Abschiebung von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen wären (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG; BayVGH, B.v. 26.1.2021 – 9 ZB 21.30109 – juris Rn. 12).
Darüberhinaus benennt der Kläger keine Tatsachen- oder Erkenntnisquellen (z.B. Gutachten, Auskünfte, Presseberichte, andere Gerichtsentscheidungen), aus denen sich ergeben würde, dass die Fragestellung im Berufungsverfahren zu einer vom angefochtenen Urteil, das auf den vom Verwaltungsgericht eingeführten, aktuellen Erkenntnismitteln beruht, abweichenden Entscheidung führen könnte (vgl. BayVGH, B.v. 29.7.2020 – 9 ZB 20.31477 – juris Rn. 4). Der Kläger hat auch nicht dargetan, dass sich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG trotz des Fehlens einer politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG wegen einer vorliegenden Extremgefahr, wegen der er “gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen” ausgeliefert würde, für ihn nicht auswirkt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 20, 23; OVG NW, U.v. 24.3.2020 – 19 A 4470/19.A – juris Rn. 38, 48; VGH BW, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 – juris Rn. 131 ff. m.w.N.).
b) Die weitere Frage, ob es gewährleistet ist, dass Rückkehrer aus Westeuropa im Falle ihrer Rückkehr nach Sierra Leone trotz der aufgrund der Corona-Pandemie verfügten Beschränkungen des öffentlichen Lebens in der Lage sind, ihre Existenz zu sichern, führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung.
Dem Zulassungsvorbringen lässt sich nicht substantiiert entnehmen, dass trotz der vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten äußerst schwierigen Lebensbedingungen in Sierra Leone, die das Verwaltungsgericht auch im Hinblick auf Covid-19 bewertet hat, zumindest begründete Zweifel daran bestehen, dass für junge und arbeitsfähige Männer dort weiterhin die Möglichkeit besteht, ihren Lebensunterhalt – wenn auch nur durch Gelegenheitsarbeiten – sicherzustellen und sie sich nicht unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinden würden, weshalb eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu besorgen und ein nationales Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen sein könnte (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12). Es ist auch nicht zu ersehen, dass eine in diesem Zusammenhang aufgeworfene Fragestellung überhaupt verallgemeinernd, zumindest im Hinblick auf Umstände bzw. Merkmale, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (vgl. VGH BW, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 – juris Rn. 30) und nicht nur nach Würdigung der konkreten Verhältnisse im Einzelfall beurteilt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 12.4.2021 – 9 ZB 21.30431 – juris Rn. 9). Ferner fehlt es an einer Tatsachenfrage von verallgemeinerungsfähiger Tragweite auch deshalb, weil das weltweite Pandemiegeschehen weiterhin von einer großen Dynamik gekennzeichnet ist, die eine verlässliche Einschätzung seiner mittelfristigen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in einzelnen Ländern, wie etwa Sierra Leone, (noch) nicht erlaubt, was auch für die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie gilt (vgl. OVG NW, B.v. 8.1.2021 – 2 A 3402/20.A – juris Rn. 24).
2. Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachten Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Der Kläger sieht einen Verstoß gegen das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör darin, dass das Verwaltungsgericht trotz einer Vielzahl vorgelegter Atteste davon ausgegangen sei, der Kläger habe seine Krankheit nicht glaubhaft dargelegt. Hieraus ergibt sich ein solcher Verstoß jedoch nicht.
Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden. Das Gericht hat sich mit den wesentlichen Argumenten des Klagevortrags zu befassen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann jedoch nur dann festgestellt werden, wenn sich aus besonderen Umständen klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (BayVGH, B.v. 19.10.2018 – 9 ZB 16.30023 – juris Rn. 10). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist allerdings nicht schon dann verletzt, wenn der Richter zu einer unrichtigen Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Tätigkeit der Sammlung, Feststellung und Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen gekommen ist. Auch die bloße Behauptung, das Gericht habe einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen oder das Gericht habe es versäumt, Beweis zu erheben, vermag einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu begründen (vgl. BVerfG, B.v. 15.2.2017 – 2 BvR 395/16 – juris Rn. 5 m.w.N.; BayVGH, B.v. 22.10.2019 – 9 ZB 19.31503 – juris Rn. 8).
Art. 103 Abs. 1 GG statuiert keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht (vgl. BVerfG, B.v. 5.3.2018 – 1 BvR 1011/17 – juris Rn. 16). Ein (behaupteter) Verstoß gegen die umfassende Aufklärungspflicht des Verwaltungsgerichts (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ist kein in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel und vermag somit die Zulassung der Berufung nicht zu rechtfertigen (vgl. BayVGH, B.v. 22.5.2019 – 9 ZB 19.31904 – juris Rn. 3). Ein beachtlicher Verfahrensfehler kann ausnahmsweise zwar dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (vgl. BayVGH, B.v. 24.6.2019 – 15 ZB 19.32283 – juris Rn. 17 m.w.N.; B.v. 8.5.2018 – 20 ZB 18.30551 – juris Rn. 2 m.w.N.). Demgemäß kommt eine Verletzung des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG in Betracht, soweit das Gericht eine Beweisanregung nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat oder ihr nicht gefolgt ist, obwohl sich dies hätte aufdrängen müssen (BVerwG, B.v. 4.3.2014 – 3 B 60.13 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 1.10.2019 – 9 ZB 19.33217 – juris Rn. 8). Dass ein solcher Mangel vorliegt, zeigt das Zulassungsvorbringen aber nicht auf. Vielmehr hat der anwaltlich vertretene Kläger bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht keinen Beweisantrag gestellt. Die Rüge eines Verfahrensmangels ist aber kein Mittel, Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten im vorangegangenen Instanzenzug zu kompensieren (BVerwG, B.v. 20.12.2012 – 4 B 20.12 – juris Rn. 6). Auf Grundlage seiner Rechtsauffassung zu § 60a Abs. 2c AufenthG musste sich dem Verwaltungsgericht auch keine weitere Sachverhaltsaufklärung aufdrängen (vgl. BayVGH, B.v. 24.11.2020 – 9 ZB 20.32096 – juris Rn. 14).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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