Verwaltungsrecht

Keine Zulassung der Berufung wegen Versagung rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung

Aktenzeichen  10 ZB 17.30437

Datum:
15.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 2990
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 35, § 78 Abs. 3 Nr. 3
VwGO § 86 Abs. 1, § 138 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1
AufenthG 59 Abs. 3 S. 2

 

Leitsatz

1 Von einer unzulässigen Überraschungsentscheidung kann dann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, in einer Weise würdigt, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligen entspricht oder von ihm für unrichtig gehalten werden. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von der Schutzwirkung des Art. 103 Abs. 1 GG sind diejenigen Aufklärungspflichten nicht umfasst, die über die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen hinausgehen, sich zu dem zugrunde gelegten Sachverhalt zu äußern, auch wenn sie im einfachen Prozessrecht verankert sind (BayVerfGH BeckRS 2014, 48418). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 4 K 16.31692 2017-03-17 Urt VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil der allein geltend gemachte Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels, nämlich die Versa-gung rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO), nicht vorliegt.
1. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht (stRspr; siehe z.B. BVerfG, B.v. 1.8.2017 – 2 BvR 3068/14 – juris Rn. 51; BVerwG, B.v. 7.6.2017 – 5 C 5.17 D – juris Rn. 8 f. m.w.N.).
Von einer unzulässigen Überraschungsentscheidung kann aber dann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, in einer Weise würdigt, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligen entspricht oder von ihm für unrichtig gehalten werden. Nach ständiger Rechtsprechung besteht keine, auch nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG abzuleitende, generelle Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die mögliche Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen, weil sich die tatsächliche oder rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt. Dass es im Asylprozess, soweit entscheidungserheblich, stets auch um die Glaubwürdigkeit des Asylsuchenden und die Glaubhaftigkeit seines Vortrags geht, ist selbstverständlich und bedarf grundsätzlich nicht des besonderen Hinweises durch das Gericht (stRspr, BVerfG, B.v. 15.2.2017 – 2 BvR 395/16 – juris Rn. 6; BVerwG, B.v. 2.5.2017 – 5 B 75.15 D – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 19.1.2018 – 10 ZB 17.30486 – nicht veröffentl.; BayVGH, B.v. 6.12.2017 – 11 ZB 17.31423 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 9.11.2017 – 21 ZB 17.30468 – juris Rn. 4).
1.1 Die Kläger bringen vor, das Verwaltungsgericht habe unter dem prozessualen Gesichtspunkt der Überraschungsentscheidung das rechtliche Gehör der Kläger verletzt (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO), weil es den Vortrag der Kläger, sie hätten bereits in Italien humanitären Schutz erhalten und die entsprechenden Dokumente nach Einreise in das Bundesgebiet in einer Aufnahmeeinrichtung abgegeben, unberücksichtigt gelassen habe. Das Verwaltungsgericht sei seiner Verpflichtung, den Sachverhalt vollständig bis zur Grenze des Zumutbaren zu ermitteln, nicht nachgekommen, obwohl es schon wegen des etwa eineinhalbjährigen Aufenthalts der Kläger in Italien konkreten Anlass gegeben habe zu ermitteln, ob tatsächlich eine Schutzzuerkennung vorliege, die „dann eine Abschiebung in den Heimatstaat Nigeria rechtswidrig“ mache. Gemäß § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG dürfe eine Abschiebung nach Nigeria nicht erfolgen, sodass die ihre Androhung insoweit rechtswidrig sei. Die Kläger hätten nunmehr Kopien ihrer als Anlage zur Zulassungsschrift übermittelten italienischen Dokumente gefunden, die eine Schutzzuerkennung in Italien belegten. Das angefochtene Urteil setze sich in seinen Gründen mit einer bereits bestehenden Asylanerkennung nicht auseinander; dies führe in überraschender Weise dazu, dass die Kläger nach Nigeria abgeschoben werden könnten.
1.2 Eine Auslegung des Zulassungsvorbringens der Kläger ergibt, dass sie sich im Zulassungsverfahren nur noch insoweit gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts wenden, als mit ihm die Anfechtungsklage hinsichtlich der Abschiebungsandrohung (Bescheid d. Beklagten v. 8.11.2016, Zi. 5 Satz 2) mit der Benennung des Zielstaats Nigeria abgewiesen wurde. Die Klageabweisung im weiteren, also soweit sie sich auf den Bescheid in seinen Ziffern 1. bis 4. (Ablehnung der Anträge der Kläger auf Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und subsidiären Schutzstatus sowie die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots) bezieht, wird im Zulassungsverfahren nicht beanstandet.
1.3 Mit dem insoweit beschränkten Vortrag der Kläger ist jedoch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung – bezogen auf die Abschiebungsandrohung – nicht dargelegt. Wie sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 8. März 2017 ergibt, hat die Bevollmächtigte dort erstmals erklärt, den Klägern sei „in Italien ein Schutzstatus zuerkannt worden“ und sie hätten ein Aufenthaltsdokument bekommen; eine Glaubhaftmachung ist in der mündlichen Verhandlung nicht erfolgt. Das Gericht hat demgegenüber darauf hingewiesen, die Kläger hätten bei ihrer Erstbefragung am 6. Juli 2016 die Frage nach einem von einem anderen Staat ausgestellten Aufenthaltsdokument mit „Nein“ beantwortet. Daraus folgt ohne weiteres, dass die Einzelrichterin die damit verbundenen Argumente abgewogen hat, auch wenn eine Befassung in den Entscheidungsgründen nicht stattgefunden hat; sie hat insbesondere die Kläger mit ihrem Vortrag angehört, sie seien „der Meinung…, ihnen wäre in Italien ein Schutzstatus zuerkannt worden“, hat diesen Tatsachenvortrag jedoch wegen der vorangegangenen gegenteiligen Angaben als nicht glaubhaft angesehen. Damit liegen jedoch die Voraussetzungen des Verstoßes gegen das rechtliche Gehör nach den eingangs dargestellten Maßstäben nicht vor.
Die in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht anwaltlich vertretenen Kläger haben es weiter unterlassen, durch geeignete prozessuale Mittel im Rahmen des Zumutbaren den aus ihrer Sicht drohenden Gehörsverstoß abzuwenden. Hierzu konnte von ihnen wenigstens verlangt werden, lesbare Kopien der ihnen offenbar in Italien erteilten Aufenthaltserlaubnisse („permesso di soggiorno“) in der mündlichen Verhandlung vorzulegen oder auf andere Weise ihren neuen Vortrag zu untermauern. Die Nachholung dieses Versäumnisses im Rahmen des Zulassungsverfahrens ist demgegenüber zur Begründung eines Gehörsverstoßes unbehelflich. Im Übrigen sind – soweit sich dies aus den zum großen Teil unleserlichen Fotokopien entnehmen lässt – die befristeten italienischen Aufenthaltstitel aus humanitären und familiären Gründen („motivi umanitari“/„motivi familiari“) erteilt worden. Damit wird nicht dargetan, dass Italien den Klägern internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz gewährt hatte (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 35 AsylG); erforderlich ist dafür eine förmliche Schutzgewährung, während die bloße Gewährung eines humanitären Aufenthaltsrechts nicht ausreicht (Hailbronner, AuslR, Stand: August 2017, B 2 § 35 AsylG Rn. 3, 5).
Die Kläger hatten bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht niemals eine Schutzgewährung in Italien behauptet. Träfe dieser Vortrag zu, hätten ihre Asylanträge in Deutschland gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden müssen. Wenn sie sich in nunmehr im gerichtlichen Verfahren (mittelbar) auf die Unzulässigkeit ihrer Asylanträge mit dem Ziel berufen, einen aus ihrer
Sicht „vorzugswürdigeren“ Abschiebezielstaat (§ 35 AsylG) zu erhalten, ohne die damit verbundene Aussage auch nur glaubhaft zu machen, liegt ein Gehörverstoß in der vorliegenden Situation nicht vor. Auch die Aussage im Zulassungsvorbringen, die (angeblich nun erst aufgefundenen) Kopien der italienischen Ausweisdokumente würden eine „Zuerkennung in Italien belegen“, trifft nicht zu.
Das Zulassungsvorbringen beruft sich weiter auf § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Diese Vorschrift kann jedoch nur im Falle einer – hier gerade abgelehnten – Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 60 AufenthG eingreifen (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 59 Rn. 42). Damit geht die Forderung der Kläger, in der Abschiebungsandrohung hätte Nigeria als der Staat bezeichnet werden müssen, in den sie nicht abgeschoben werden dürften, ins Leere. Bei unterstellter Annahme einer Schutzgewährung durch Italien hätte eine Androhung der Abschiebung nach Italien gemäß § 35 AsylG ergehen müssen. Diese Vorschrift modifiziert und verdrängt § 59 AufenthG (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 35 Rn. 2). Schließlich stünde es den Klägern im Falle des tatsächlichen Vorliegens der behaupteten Schutzgewährung jederzeit frei, die ihnen obliegende Pflicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet dadurch zu erfüllen, dass sie nach Italien ausreisen (vgl. § 50 Abs. 3 Satz 1 AufenthG).
2. Soweit die Kläger zur Begründung ihrer Gehörsrüge vortragen, das Verwaltungsgericht habe seine nach § 86 Abs. 1 VwGO bestehende Sachaufklärungspflicht dadurch verletzt, dass es nicht von Amts wegen Ermittlungen zur Frage der vorangegangenen Schutzgewährung in Italien angestellt habe (vgl. zum Umfang der gerichtlichen Aufklärungspflicht im Hinblick auf die internationale Schutzgewährung in einem anderen EU-Mitgliedstaat: BVerwG, U.v. 21.11.2017 – 1 C 39.16 – juris Rn. 22 f.), ist dem schon entgegenzuhalten, dass von der Schutzwirkung des hier maßgeblichen Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG diejenigen Aufklärungspflichten nicht umfasst sind, die über die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen hinausgehen, sich zu dem zugrunde gelegten Sachverhalt zu äußern, auch wenn sie im einfachen Prozessrecht verankert sind (BayVerfGH, E.v. 29.1.2014 – Vf. 18-VI-12 – juris Rn. 35). Bei der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht handelt es sich schon nicht um einen absoluten Revisionsgrund nach § 138 VwGO, der von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG erfasst wäre (BayVGH, B.v. 5.12.2017 – 11 ZB 17.31711 – juris Rn. 9; OVG NW, B.v. 25.3.2015 – 13 A 493/15.A – juris Rn. 8).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit dieser gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Entscheidung wird das Urteil des Ver-waltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AslyG).


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